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Prolog LUCY

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Irgendwo im Westen versank die Sonne, und die Nacht brach herein. Sie konnte es nicht sehen. Hier zwischen den felsigen Wänden herrschte Tag und Nacht das gleiche trübe Dämmerlicht, doch sie spürte es, und in ihrem Geist sah sie den glutroten Ball zwischen schroffen Felsen versinken, die sich durch ihre letzten Strahlen in eine Feuersbrunst zu verwandeln schienen. Das bei Tag tiefblau schimmernde Wasser verwandelte sich in Lava, die tosend zwischen den steil aufragenden Felswänden hindurchschoss. Jäh erlosch das Glühen und wich einem sanften rosa Schimmern, bis auch dieses zerrann. Zurück blieben der Fluss und die nun schwarzen Felsen, deren Silhouetten sich scharf vom immer dunkler werdenden Nachthimmel abhoben, an dem sich die ersten Sterne zeigten.

Lucy hatte keine Ahnung, ob es draußen wirklich so aussah, wie sie es sich in ihrer Fantasie ausmalte. Sie konnte sich nicht erinnern, die Umgebung über ihr bei ihrer Ankunft gesehen zu haben. Oder etwa doch? Es war schon so lange her. Fast fünf Jahre waren verstrichen, in denen ihr nichts blieb als ihre Fantasie, die sich mit ihren Erinnerungen vermischte. Mit der Wirklichkeit mochte sie sich schon lange nicht mehr beschäftigen. Sie war zu trostlos: ein steinerner Raum mit einem schmalen Bett. Kein Fenster, kein noch so schmaler Spalt, der eine Verbindung zur Welt über ihr hergestellt hätte. Die einzige Lichtquelle war eine schwache Glühbirne, die an einem Kabel von der hohen Decke hing. Unerreichbar. Die Kette an ihrem Fußgelenk, die fest in der Wand verankert war, war zu kurz. Und auch die Stahltür mit der vergitterten Luke in der Mitte, welche die Eintönigkeit der Felswand an der gegenüberliegenden Seite durchbrach, war außerhalb ihrer Reichweite.

Lucy saß reglos auf ihrem Bett, die Augen halb geschlossen. Sie konnte die Schritte ihrer Bewacher vor der Tür hören. Einmal am Tag öffnete sich die Pforte, um einen Mann in schwarzer Uniform einzulassen, der ihr Wasser und Essen brachte und ihren Eimer für die Notdurft austauschte. Die Männer wechselten sich ab, doch es waren stets die gleichen Typen: große, muskulöse Kerle mit wettergegerbter Haut und kurz geschnittenem Haar. Sie trugen Waffen, und stets wartete noch ein zweiter Mann vor der Tür. Normalerweise sprachen ihre Bewacher kein Wort mit ihr und mieden ihren Blick. Lucy spürte, wie schwer es ihnen jedes Mal fiel. Neugier mischte sich mit Verlangen und mit Furcht, die Lucy zuerst erstaunte und dann mit Triumph erfüllte. Die muskulösen Männer mit ihren Waffen fürchteten sich vor einem zierlichen, achtzehnjährigen Mädchen!

Nein, das stimmte nicht ganz. Mit dem Mädchen, das während des Tages in seinem Verlies saß, glaubten sie, leicht fertig zu werden, doch das Wesen, das sie bei Nacht erwartete, jagte ihnen Angst ein. Vielleicht zu Recht! Vermutlich hatten sie deshalb strenge Anweisung, die Tür während der Nacht nicht zu öffnen, trotz der Kette um Lucys Bein, die ihren Bewegungsradius auf wenige Meter einschränkte.

Die Nacht schritt voran. Bald würde es Mitternacht sein. Lucy spürte, wie ihr Körper zu vibrieren begann. Dies war das einzig Aufregende ihrer trostlosen Tage. Gleich würde es geschehen. Sie musste keine Uhr schlagen hören. Ihr Körper wusste genau, wann es Zeit wurde, sich zu verwandeln.

Wie jede Nacht begann es mit einem ziehenden Schmerz, der ihr wie Lava durch die Adern rann. Ihr Körper zuckte, und es fühlte sich an, als würde er seine Form auflösen und fließen, um eine neue Gestalt anzunehmen. Ein Reißen unter den Schulterblättern beendete die Wandlung.

Lucy riss die Augen auf. Wie schon so oft blickte sie sich mit Staunen um. Ihre Sinne waren geschärft, und sie sah und spürte so viele Dinge, die sie während des Tages nicht wahrnehmen konnte. Lucy roch den Schweiß der beiden Männer vor der Tür, der von Hitze und Erschöpfung sprach, doch wenn sie sich wandelte, schoben Erregung und Lust die Erschöpfung der Männer beiseite. Sie roch ihre Furcht, wenn sie sich tiefer in die dunklen Gänge zurückzogen, obgleich ihr Geist und ihr Körper danach schrien, näher zu treten und die stählerne Pforte zu öffnen, die ihnen den Blick auf das wundervolle Wesen verwehrte.

Lucy erhob sich von dem schäbigen Bett. Sie kam sich wie eine Königin vor. Auch ohne einen Spiegel wusste sie, dass sie wunderschön war. Nein, perfekt! Ihr Haar fiel ihr in goldenen Locken über den Rücken, ihre Brauen und langen dunklen Wimpern rahmten ihre tiefblauen Augen ein, deren Blick so fesselnd war, dass ihm keine Menschenseele widerstehen konnte. Ihr Körper war schlank, die Brüste fest, die Taille schmal. Sie sah an ihren langen Beinen hinunter bis zu den wohlgeformten Füßen, ohne auch nur den kleinsten Makel zu entdecken. Jeder Mensch musste diesem Wesen zu Füßen liegen. Lucy wusste, sie war nicht nur schön, sie war mächtig!

Zu dumm, dass es keinen gab, der ihrem Ruf folgen konnte. Ihre Gedanken tasteten nach den Männern draußen vor der Tür. Sie lockte und zog sie an, doch ihr Geist griff ins Leere. Sie hatten längst die Flucht ergriffen und sich irgendwo hinter meterdicken Felswänden und Stahl in Sicherheit gebracht.

Lucy stieß einen heiseren Schrei aus und stampfte frustriert auf. Die kaum sichtbaren Schlitze unter ihren Schulterblättern öffneten sich. Durchscheinende Flügel entfalteten sich und peitschten durch die Luft. Ihr Körper erhob sich und schoss der felsigen Decke entgegen, bis die Kette an ihrem Bein sich straffte und sie mit einem Ruck zurückriss.

Lucy schrie erneut auf, mehr aus Frust denn aus Schmerz. Ein paar Mal schlug sie noch mit den Flügeln, doch sie wusste, dass es nicht helfen würde. Mit einem klagenden Ton ließ sie sich auf den Boden zurücksinken und faltete die Flügel ein.

Sie musste hier raus! Sie brauchte ihre Freiheit. Sie musste durch die Nacht fliegen, ihre Sinne geschärft auf der Jagd nach Beute. Hier drin würde das stolze Wesen verkümmern und irgendwann qualvoll verenden.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die langen, spitzen Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, bis das Blut hervorquoll.

Alles in ihr lechzte nach Luft, nicht nach diesem abgestandenen, staubigen Gemisch, das sich aus der Klimaanlage quälte. Sie verlangte nach frischer, unverbrauchter Nachtluft. Nach dem Sturmwind, auf dessen Wogen der Adler dahingleitet.

Lucy öffnete den Mund, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Wie erstarrt blieb sie in der Mitte ihres Kerkers stehen, bis ein erneutes Zittern die Rückverwandlung ankündigte, und ein zitterndes, junges Mädchen mit verfilztem Haar und ausgemergelten Wangen in der Felsenkammer zurückblieb.

Nachtmahr – Die Schwester der Königin

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