Читать книгу Nachtmahr – Die Schwester der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 8

Kapitel 2 DER COUNCILLOR

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Die Gulfstream beschleunigte auf der regennassen Startbahn. Der Duke of Roxburgh ließ sich in den weichen Ledersessel drücken und schloss die Augen, bis er spürte, dass das Fahrwerk mit einem letzten Rumpeln den Asphalt verließ und die Nase seines Privatjets sich dem wolkenverhangenen Himmel entgegenreckte. Das Flugzeug gewann rasch an Höhe. Nebelschwaden huschten vorbei. Dann umhüllten dichte Regenwolken den silbernen Körper, dessen spitze Nase sich nach Westen richtete. In zehn Stunden würde er Las Vegas erreichen.

Er sah sich um. Sechs seiner Männer begleiteten ihn. Wie stumme Schatten saßen sie hinter ihm in den luxuriösen hellen Ledersitzen. Auf den ersten Blick hätte man sie für die typischen Geschäftsleute der Londoner City halten können, die sich von den weißen Hemden über die schwarzen Anzüge bis zu den glänzenden Lederschuhen glichen wie ein Ei dem anderen. Ihre Gesichtszüge waren durchschnittlich, die Wangen sorgfältig rasiert, die Haare kurz geschnitten. Doch der Councillor wusste um die Kampfesstärke seiner Warriors, die sowohl mit dem Schwert und anderen Waffen vergangener Zeiten umgehen konnten als auch mit modernen Schusswaffen. Nun, sie hatten ja auch genug Zeit gehabt, sich ihre Kampfeskiinste anzueignen, dachte er mit einem Schmunzeln. Kein Mensch ahnte, wie alt und erfahren diese Männer waren.

Auch dem Duke sah man sein Alter nicht an, obgleich die Zeit an seinem Gesicht ebenfalls nicht ganz spurlos vorbeigegangen war. Auf den ersten Blick hätte man ihn vielleicht unauffällig nennen können, ein typisch britischer Landadeliger mittleren Alters, lediglich mittelgroß mit grauen Augen und grauem Haar, doch niemand, den der Duke einmal ins Auge fasste, konnte sich seinem stahlharten Blick entziehen, der jedes noch so tiefe Geheimnis zu entdecken schien und jeden Willen zu brechen imstande war.

Winston Campbell ließ die Lider wieder sinken und sandte seine Gedanken voraus nach Westen. Zur Glitzerstadt in der Wüste, Las Vegas, in der wie in kaum einer anderen Stadt heute Nacht das neue Jahr gefeiert werden würde. Doch das interessierte ihn nicht. Sollten die Menschen feiern, ihm stand etwas anderes im Sinn.

Eine schmächtige, blonde Gestalt stieg in seinem Geist auf. Es war mehr als drei Jahre her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich vor allem noch an ihren zornigen Blick, in dem bereits die Macht zu lesen war, die sie über die Männer besitzen würde, wenn man sie frei herumlaufen ließ. Natürlich hatte er auch ihre Schönheit gesehen und die Kraft der Verführung gespürt, doch er hatte im Lauf seines langen Lebens genug Stärke gesammelt, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Nein, mit ihm hatte der junge Nachtmahr kein so leichtes Spiel wie mit den normalen Männern, die ihr in Scharen zu Füßen liegen würden, sollte sie welche zu Gesicht bekommen.

Es war nicht einfach gewesen, Männer zu finden, die er ruhigen Gewissens mit ihrer Bewachung betrauen konnte. Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit war sie eine Gefahr, das wusste er. Der Councillor war nicht so leichtsinnig, die Macht der Mahre zu unterschätzen. Man brauchte ganz besondere Waffen, sie zu besiegen. Viele Jahre hatte er geglaubt, die Waffe gefunden zu haben, doch der Triumph, der ihn so lange in eine beschwingte Stimmung versetzt hatte, war verflogen.

Eclipse, so hatte er das Mädchen genannt, doch nun wusste er, dass er sich geirrt hatte. Den Nachtmahren war es gelungen, ihn an der Nase herumzuführen. Seine Finger schlossen sich unwillkürlich zur Faust, doch er wusste, dass er auch sich selbst Vorwürfe machen musste. Er war zu leichtgläubig gewesen. Hatte sich nicht selbst darum gekümmert. Nun war es also an ihm, den Fehler zu korrigieren und den Nachtmahren den tödlichen Schlag zu verpassen. Für einige Augenblicke gab er sich der verlockenden Vision hin, all ihre Hoffnungen vernichtet zu haben. Er weidete sich in seiner Vorstellung an ihrem Entsetzen, wenn sie erkannten, dass sie dem Untergang geweiht waren. Doch noch war es nicht so weit. Noch hatte er die wahre Eclipse nicht in Händen, noch wusste er nicht, wer ihr Erwählter war. Damit würde er sich später befassen. Im Augenblick musste er sich überlegen, was er mit dem Mädchen anfangen sollte, das nicht mehr die Königin war, sondern nur noch die kleine, zornige Lucy. War sie nun überflüssig geworden, oder konnte sie ihm auf andere Weise dienen? Vielleicht war es noch immer möglich, sie als Trumpfkarte zu verwenden. Ihm kam eine Idee, die ihm gut gefiel.

Ja, daraus könnte man vielleicht etwas machen. Er musste genauer darüber nachdenken. Er hatte Zeit. Viele Stunden Zeit, bis der Jet in Las Vegas gelandet sein und er das geheime Versteck tief in den Mauern des Hoover Dam erreicht haben würde.

»Hallo Jason.«

Er lag mit geschlossenen Augen im Bett und döste vor sich hin, als die Stimme ihn erschaudern ließ. Für einen winzigen Moment dachte er, Lorena wäre gekommen. Sie würde in ihrer unwiderstehlichen Gestalt als Nachtmahr dort in der Tür stehen, ihn verführerisch anlächeln und ihm sagen, sie wäre endlich zur Besinnung gekommen. Nichts könne sie jemals wieder von seiner Seite reißen. Sie liebe ihn über alles und würde ihr Leben mit ihm verbringen.

Doch es war nicht Lorena, die dort in der offenen Tür stand. Langsam öffnete Jason die Augen und betrachtete die umwerfend schöne Frau, die sich ihrer Wirkung wohl bewusst war. Mit ausgestellter Hüfte stand sie da, die sinnlichen Lippen ein wenig geöffnet. Ihr wundervoll schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern.

»Hallo Raika«, sagte Jason müde. »Was willst du?«

Obgleich er sie nicht dazu aufforderte, kam sie herein, schloss die Tür und trat an sein Bett. »Ich komme, um nach dem Patienten zu sehen. Macht man das nicht so? Wie geht es dir? Was ist mit deiner Schulter?«

Jason setzte sich mit einer Grimasse auf. »Tut noch weh, wird aber wieder.«

Raika ließ sich auf sein Bett plumpsen. »Na ja, vielleicht ist dir das eine Lehre.«

»Was für eine Lehre?«

Raika rollte mit den Augen. »Dich nicht in Sachen einzumischen, die dich nichts angehen und denen du nicht gewachsen bist.«

»Der Kerl ist mit einem Messer auf Lorena losgegangen«, brauste Jason auf.

Raika hob nur die Schultern. »Na und? Sie ist ein Nachtmahr! Hast du das immer noch nicht kapiert? Sie braucht keinen Mann, der sie beschützt und sich als Held aufspielt – und den sie dann retten muss.«

Jason ließ sich in seine Kissen zurücksinken. »Danke, das war deutlich. Muss ich sonst noch etwas wissen, oder war’s das?«

Raika lächelte. »Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt. Freu dich lieber, dass ich hier bin und dir deine Langeweile vertreibe. Gibt es einen grässlicheren Ort als ein Krankenhaus?« Sie rümpfte angewidert die Nase, als sie ihren Blick durch das blässlich grün gestrichene Zimmer schweifen ließ.

Jason betrachtete sie. Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug und sein Körper aus seinem Dämmerschlaf erwachte. Er wollte es nicht, doch er konnte es nicht verhindern, dass er auf diese Frau so reagierte.

Nein, korrigierte er sich, nicht auf die Frau, auf den Nachtmahr in ihr, der eine seltsame Macht über Männer besaß.

Die gleiche Kraft, die auch in Lorena wohnte.

Jason stemmte sich wieder hoch. »Warum bist du hier? Hat Lorena dich geschickt?« Er konnte selbst das Flehen in seiner Stimme hören und dachte, Verachtung in Raikas Blick lesen zu können ... Oder bildete er sich das nur ein?

Raika setzte die Musterung des Zimmers fort. »Nein, hat sie nicht. Ich habe sie nicht um Erlaubnis gebeten, dich besuchen zu dürfen. Muss ich ja wohl auch nicht, oder?«

Enttäuscht schüttelte Jason den Kopf. »Nein, natürlich nicht, ich dachte nur ...«

»Sie habe es sich anders überlegt? Nein, hat sie nicht.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«, wollte er wissen.

Raika nickte. »Ja, noch vor wenigen Stunden, aber sie will mit mir nicht über das Thema reden.«

»Das Thema bin ich und unsere Beziehung, die sie mit diesen unsinnigen Argumenten beendet hat ...« Jason seufzte.

»Richtig, und noch ist sie leider nicht zur Vernunft gekommen, aber das wird schon wieder. Und wenn nicht«, fügte Raika mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen hinzu, »dann hast du ja immer noch mich.«

Jason schloss mit einem gequälten Ausdruck die Augen. »Herr im Himmel, steh mir bei!«

Die schwarze Limousine holte Lorena pünktlich ab und brachte sie nach Gryphon Manor vor den Toren von Oxford. Düster ragten die grauen Steinmauern des Herrenhauses in den Nachthimmel, dessen Sterne sich heute hinter dichten Wolken verbargen. Zu ihrer Überraschung entdeckte Lorena Raikas Motorrad am Rand der Auffahrt. Und da kam auch die Besitzerin schon über den Rasen auf sie zu.

»Hallo Lorena.«

»Guten Abend Raika. Was tust du schon wieder hier? Hast du dich doch noch entschlossen, das Training mitzumachen?«

Raika hob abwehrend die Hände. »Himmel nein, aber ich sehe mir gerne an, wie du schwitzt und dich abmühst.«

»Du meinst, erfolglos abmühst? Hoffst du, ich werde mich lächerlich machen? Den Gefallen werde ich dir nicht tun!«

»Habe ich ja auch gar nicht gesagt«, gab Raika erstaunlich versöhnlich zurück.

Lorena folgte den beiden Guardians in die Halle, wo sie von Morla erwartet wurden. Lorena fragte sich wieder einmal, was Morla war. War auch sie ein Nachtmahr? Sie sah so unscheinbar und farblos aus, dass man sie fast übersehen konnte, wie sie da in ihrem formlosen schwarzen Gewand in der Ecke stand.

Ein Schmerz fuhr durch Lorenas Geist. Sie fühlte Morlas Blick auf sich ruhen. Offensichtlich verfügte sie wie Mylady über die Gabe, Gedanken zu lesen. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen und ihre Überlegungen lieber nur noch außerhalb des Herrenhauses anstellen.

Morla glitt ihnen lautlos entgegen. »Mylady ist über dein Kommen erfreut und wünscht, dass ihr sogleich mit dem Training beginnt.«

Lorena sah an sich herunter. Sie trug Jeans und einen weiten Strickpullover über einer blau-weiß gestreiften Bluse. Oh Gott! Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie betrachtete die beiden Guardians in ihrer engen Lederkluft, die robust und praktisch schien und dennoch die weiblichen Formen vorteilhaft zur Geltung brachten. So etwas wie Begehren stieg in ihr auf.

»Ich möchte auch solche Ledersachen!«, rief sie unwillkürlich aus. »Ich meine, für die nötige Bewegungsfreiheit«, fügte sie rasch hinzu, als sie Raikas breites Grinsen sah, die ebenfalls keine Mühe zu haben schien, Lorenas Gedanken zu folgen. Die beiden Guardians dagegen schienen nichts Anstößiges an dieser Forderung zu finden. Maddison schickte den Butler mit dem entsprechenden Auftrag davon, und schon bald kam er mit einem schwarzen Bündel zurück und überreichte es Lorena mit einer knappen Verbeugung. Sienna führte sie in ein kleines Nebenzimmer, wo sie sich umkleiden konnte. Lorena wandelte sich zu ihrer Nachtmahrgestalt. Rasch schlüpfte sie aus Pulli und Jeans, die ihr in diesem Körper nicht mehr passten, und zog sich das knappe Lederoberteil über. Sie legte den kurzen Rock an, der nur wenig ihrer Oberschenkel bedeckte, dann schlüpfte sie in die kniehohen Stiefel, die wie angegossen passten. Ihre blonden Locken schlang sie zu einem Knoten und befestigte ihn mit einem Band. Fertig!

Lorena trat vor den hohen Spiegel und drehte sich langsam um die eigene Achse. Sie spürte ein seltsames Vergnügen, als sie sich betrachtete. Wie wunderschön sie war und wie unglaublich sexy sie in dieser Lederkluft aussah. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie Jason das wohl finden würde, und verbannte ihn sogleich wieder aus ihrem Kopf. Vermutlich würde es ihm gar nicht gefallen, sie so zu sehen, redete sie sich ein. Er liebte Lorena, die ganz normale Frau, die in Kostüm oder Anzug jeden Morgen zur Arbeit in die City fuhr, und nicht dieses Wesen dort im Spiegel. Dieser fleischgewordene Männertraum.

Egal.

Jedenfalls sah sie fantastisch aus, und sie würde sich mit dem Schwert gut schlagen! Selbstzufrieden ruhte ihr Blick auf dem Spiegelglas, bis sie ein Kichern herumfahren ließ.

»Ja, du hast allen Grund, mit deinem Aussehen zufrieden zu sein«, bestätigte Raika.

»Was fällt dir ein?«, schimpfte Lorena. »Kannst du nicht anklopfen?«

»Warum? Ich bin doch froh zu sehen, dass du ein echter Nachtmahr bist. Und nun zeig den beiden Mädels hier, was für eine Kämpferin in dir steckt!«

Mit vergnügter Miene begleitete Raika Lorena in einen Raum im Untergeschoss des Herrenhauses, den sie bisher noch nicht betreten hatte.

»Voilà«, sagte sie mit einer ausladenden Handbewegung. »Es ist angerichtet.«

»Wow«, stieß Lorena aus und sah sich staunend um. Der riesige Raum hätte mit seinem Parkettboden und der langen Spiegelfront auch ein Tanzsaal sein können. Nur die zahlreichen Waffen an den Wänden zeigten, wozu er diente. Lorena strich an den Schwertern und Krummsäbeln entlang. Ihr Blick glitt über orientalisch anmutende Dolche, lange Spieße und Schilde aus verschiedenen Epochen. Vor einer kunstvoll bearbeiteten Armbrust blieb sie stehen.

»Ihr macht mit eurer Waffensammlung ja dem Tower Konkurrenz«, sagte sie, um die Anspannung zu brechen, die sie erfasst hatte.

Maddison verzog keine Miene, doch Sienna lächelte. »Man muss mit allem vertraut sein, was der Gegner aufbietet.«

»Die Wanderer bekämpfen euch mit solchen mittelalterlichen Waffen? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Warum benutzen sie keine Pistolen oder Gewehre?«

»Sicher verfügen sie auch über moderne Waffen«, gab Maddison Auskunft. »Doch ihre Tradition liegt im Schwertkampf, und deshalb müssen wir trainieren, um ihnen ebenbürtig zu sein und sie in ihrer eigenen Disziplin besiegen zu können.«

Sie nahm sich ein Schwert mit goldziseliertem Griff von der Wand und warf Sienna eine ebenso kunstvoll verzierte Waffe zu, die sie geschickt auffing.

»Wie wäre es mit einer kleinen Demonstration zu Beginn?«, fragte Maddison. Lorena nickte begierig und wich bis in die Ecke zurück, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Raika gesellte sich zu ihr. »Na dann legt mal los, Mädels, und zeigt, was ihr so drauf habt.«

Die beiden Guardians brauchten keine Aufforderung. Sie hoben grüßend die Schwerter, neigten die Köpfe und stürzten dann aufeinander zu. Klirrend trafen die Klingen mit solcher Wucht aufeinander, dass Lorena sich nicht vorstellen konnte, wie man solch einen Schlag abfangen konnte, ohne die Waffe aus der Hand geschleudert zu bekommen. Doch die beiden Guardians schienen damit keine Schwierigkeiten zu haben. Sie wirbelten herum, duckten sich, schlugen wieder zu oder wichen blitzschnell vor dem Streich der anderen zurück. Dann schnellten sie wieder vor, drehten einen Salto rückwärts, liefen zwei schnelle Schritte an der Wand hoch und sprangen mit einem Überschlag wieder zurück. Immer rascher wurde der Tanz der Klingen. Die Frauen glitten so rasend schnell durch den Saal, dass Lorena ihnen kaum mit dem Blick folgen konnte. Sie wusste auch nicht zu sagen, welche der beiden Nachtmahre die Oberhand hatte. Bedrängte Maddison Sienna oder hatte diese sich nur zurückfallen lassen, um sie in eine Falle zu locken? Da entfaltete Sienna ihre Flügel und stieß in die Luft. Maddison folgte ihr sofort, und so tobte der Kampf in der Luft weiter. Die beiden schienen über die Decke zu tanzen, stießen sich ab und kehrten pfeilschnell zum Boden zurück, nur um gleich wieder die Klingen zu kreuzen.

Dann war es vorbei. Lorena konnte nicht ausmachen, wie sie sich verständigten, doch sie blieben plötzlich beide stehen und senkten die Schwerter. Dann falteten sie ihre Schwingen ein und wandten sich ihrem Publikum zu.

Begeistert klatschte Lorena in die Hände. »Umwerfend! Absolut unglaublich.«

»Ja, das war nicht schlecht«, fügte Raika hinzu.

Die Guardians nickten ihren beiden Zuschauern zu, und sogar Maddison lächelte. Sie schienen weder verschwitzt noch außer Atem zu sein.

Maddison ging zur Wand, nahm eines der einfachen Schwerter aus seiner Halterung und reichte es der neuen Schülerin. Lorena schloss die Finger um den kalten Griff und hob das Schwert langsam an, dass die Lichtreflexe der Deckenlampen über die Klinge huschten. Es war gar nicht so schwer, wie es aussah, und Lorena hatte den Eindruck, es wäre gut ausbalanciert, soweit sie das beurteilen konnte.

Raika kam neugierig näher und strich mit dem Daumen über die Klinge. »Die ist ja gar nicht richtig scharf«, sagte sie enttäuscht.

Sienna lächelte. »Ja, und das wird mein Schwert auch nicht sein, wenn ich mit Lorena übe. Unsere hier dagegen sind mehr als nur scharf!«

Sie zog ein seidig schimmerndes Tuch von einem Holzständer mit unterschiedlich geformten Krummsäbeln, warf es in die Luft und machte eine schnelle Bewegung mit ihrem Schwert. Zwei Hälften des Stoffs segelten sauber in der Mitte getrennt zu Boden.

Lorena schluckte. »Mir ist es ganz recht, wenn wir mit stumpfen Waffen beginnen«, versicherte sie.

»Wo ist denn da der Reiz?«, stichelte Raika.

Sienna zog eine Grimasse. »Ich versichere dir, auch mit diesen Schwertern wirst du es tunlichst vermeiden, getroffen zu werden. Sie bringen dich zwar nicht um, doch auch sie können blutige Schrammen und schmerzhafte Prellungen verursachen.«

Raika winkte ab. »Wir Mahre sind robust. Wenn uns nicht gerade einer das Schwert direkt ins Herz sticht oder den Kopf abschlägt, bringt uns nichts so schnell um.«

Lorena ließ das Schwert sinken und starrte Raika an. »Ist das wahr?«

Raika nickte. »Aber klar. Hast du das nicht gewusst? Es gibt nur noch wenige andere Dinge, die uns wirklich gefährlich werden können – wie Feuer zum Beispiel.«

»Sind wir vielleicht so etwas wie Vampire?«

Raika lachte. »Gibt es die denn wirklich? Ich bin noch keinem begegnet, aber ja, solche Mythen entstehen nicht aus dem Nichts. Es gibt immer ein Körnchen Wahrheit. Aber jetzt fangt an. Ich will etwas sehen, ehe die Nacht vorbei ist und wir uns nicht mehr wandeln können.«

Mit klopfendem Herzen trat Lorena in die Mitte des Raums und stellte sich vor der Spiegelwand auf. Vielleicht wäre sie unsicher gewesen, und diese tief in ihr verankerte Angst vor dem Versagen, die sie durch ihre ganze Schulzeit begleitet hatte, wäre wieder hochgekommen, würde sie in ihrer normalen Gestalt hier vor dem Spiegel stehen. Ein Nachtmahr dagegen fürchtete sich nicht davor, sich lächerlich zu machen. Solche Gefühle waren diesen Wesen fremd. In diesem Augenblick freute sich Lorena nur, etwas Neues zu lernen und sich mit den anderen messen zu dürfen.

Sienna trat vor sie und stellte sich ihr gegenüber, die Spitze des Schwerts gesenkt. »Fangen wir mit den Grundstellungen der Schwertpositionen an«, sagte sie. »Dann zeige ich dir die Fußarbeit. Das Wichtigste ist, dass du schnell in deinen Schritten bist, um niemals aus dem Gleichgewicht zu kommen. Wehe, dein Schwerpunkt ist nicht zwischen deinen Füßen, dann hast du schon verloren. Selbst der schwächste Streich wird dich dann zu Fall bringen oder dir das Schwert aus der Hand schleudern. Merke dir das gut! Nur wenn du einen sicheren Stand hast, kannst du dein Schwert effektiv einsetzen.«

Lorena nickte und wiederholte die Anweisung im Stillen. Sie spürte, wie ihre Hände bebten. Sie wollte endlich anfangen, sich zu bewegen und die Klinge durch die Luft sausen zu lassen.

»Geduld!«, mahnte Sienna. »Die wirst du brauchen. Es erfordert Durchhaltevermögen und viel Schweiß, bis man die Bewegungen wie in Trance beherrscht und die Absichten des Gegners vorherahnen kann. Nur dann haben wir gegen die Wanderer eine Chance.«

Wieder nickte Lorena und versuchte, ruhiger zu atmen und sich auf Siennas Worte zu konzentrieren, die ihr nun die verschiedenen Positionen der Klinge vorführte.

»Wir nennen sie die Grundhuten«, erklärte sie. »Die Bezeichnung stammt noch aus dem Mittelalter. Diese Position mit gesenkter Klinge heißt ›Alben. Es ist eine eher defensive Stellung, in der ich mit der Blöße meines Körpers Angriffe des Gegners herausfordere. Ich kann einen Schlag gegen meine Beine abwehren oder eine Paradebewegung ausführen und das Schwert des Gegners nach oben schlagen. Doch kommen wir zu den Angriffspositionen.«

Sienna riss die Schwertklinge so blitzschnell nach oben, dass Lorena einen Schritt zurückwich. Mit erhobenem Schwert hielt sie kurz inne. »Diese Hut nennt man ›vom Tag‹.« Die Klinge kippte nach vorn, sodass die Spitze nun direkt auf Lorenas Gesicht zeigte. Es kostete sie einige Überwindung, nicht weiter zurückzuzucken.

»Diese nennt man ›Ochs‹, die Stellung mit hüfttiefem Griff und schräg nach oben zeigender Klinge ›Pflug‹. Natürlich kann man diese Huten jeweils mittig oder seitlich ausführen, mit entsprechender Fußstellung und Gewichtsverlagerung.«

Sie zeigte die vier Huten noch einmal langsam mit ihren verschiedenen Varianten. Dann ließ sie das Schwert sinken.

»Das waren die Grundhuten.«

»Was? Das ist schon alles?«, rief Raika enttäuscht. »Das kann doch nicht so einfach sein.«

Sienna schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt natürlich noch viele weitere Varianten, die wir Kunsthuten nennen, wie beispielsweise ›Zorn‹, ›hängender Ort‹, ›Schrank‹ oder ›Schlüssel‹, doch das wird am Anfang zu kompliziert.«

Sie zeigte, während sie die Worte aussprach, die passenden Positionen, die mühelos ineinander über glitten. Raika seufzte, sagte aber nichts weiter, während Sienna die wichtigsten Schrittfolgen zeigte und Lorena einige Male Nachstell-, Ausfall- und Ausweichschritt üben ließ.

»Du musst schneller werden und flüssiger in der Bewegung. Präzise gesetzte Schritte sind entscheidend für eine exakte und wirkungsvolle Klingenführung.«

Lorena nickte. Ihre Bewegungen kamen ihr leicht und fließend vor, doch Sienna war noch immer nicht zufrieden. Endlich ließ sie Lorena innehalten.

»Gut, jetzt üben wir die Grundhuten. Ich sage sie dir vor, und du nimmst die entsprechende Position ein. Achte auch auf deine Füße und die korrekte Verlagerung deines Gewichts. Fertig?«

Lorena nickte und nahm die Position ›Alber‹ ein.

Zuerst zählte Sienna die Huten langsam nacheinander auf, sodass es Lorena keine Probleme bereitete, die Klinge in die geforderte Position zu bringen.

»Arme durchstrecken, Gewicht mehr nach vorn«, korrigierte Sienna. »Gut, dann können wir das ein wenig schneller versuchen.«

Ein wenig schneller?, dachte Lorena entsetzt, als Sienna loslegte.

»›Vom Tag‹, ›Ochs links‹, ›Pflug rechts‹, ›Pflug links‹, ›Ochs rechts‹, ›Alber‹, ›vom Tag links‹, Haltung, Gewicht mehr auf den rechten Fuß, linker Arm mehr anwinkeln, weiter, ›Ochs rechts‹, Klinge gerade!, Nachstellschritt, Nachstellschritt, Ausfallschritt.«

Sienna hielt inne. »Sortiere dich noch einmal, und dann konzentriere dich. Du musst dich schneller bewegen. Die Übergänge müssen flüssiger werden und die einzelnen Positionen exakter. Du musst den Griff fest umfassen, aber in den Handgelenken flexibel bleiben. Noch einmal. Bist du bereit?«

Lorena atmete einmal tief ein und wieder aus, dann nickte sie. Wieder peitschten ihr die Positionen um die Ohren, immer wieder mit verschiedenen Schrittfolgen kombiniert. Es dauerte nicht lange, da verhaspelte sie sich und musste wieder von vorn anfangen.

Sienna kannte keine Gnade und gönnte ihr auch keine Pause. Lorena spürte, wie ihre Haut zu glühen begann. Sie wischte sich die Hände ab, ehe sie den Schwertgriff wieder umfasste.

»Weiter geht’s!«

So leicht sich das Schwert zu Anfang angefühlt hatte, nach einer Stunde üben, wog es Lorena bereits schwer in den Armen. Nach einer weiteren Stunde, dachte sie, den Schwertgriff nicht mehr festhalten zu können. Ihre Oberarme brannten, der Schweiß lief ihr über die Stirn und an den Schläfen herab. Sie unterdrückte ein Stöhnen der Erleichterung, als sich Maddison endlich von ihrem Platz erhob und Sienna Einhalt gebot.

»Genug für heute. Die Lektion muss sich erst einmal setzen. Wir machen dann morgen weiter.«

Lorena nickte. Sie war zu ausgepowert, um zu sprechen. Dabei hatte sie gedacht, in ihrer Nachtmahrgestalt könne sie gar nicht ermüden. Was für ein Trugschluss. Natürlich hätte sie in ihrem natürlichen Körper das Training in diesem Tempo keine halbe Stunde durchgestanden, doch auch ihr Nachtmahr war offensichtlich nicht so stark wie die beiden Guardians.

»Du wirst dich schnell daran gewöhnen und an Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit gewinnen«, sagte Sienna, die wieder einmal zu spüren schien, was in Lorena vor sich ging. »Das war für das erste Mal schon sehr gut.«

Das baute Lorena wieder etwas auf, die sich, nun, da sie sich zurückgewandelt hatte, so unbeholfen gegenüber den beiden Guardians vorkam.

Zusammen mit Raika kehrte sie in die Halle zurück. Die Guardians bestanden wieder darauf, Lorena heimzufahren.

Raika bevorzugte ihr Motorrad. »Übrigens«, sagte sie, als sie sich in den Sattel schwang. »Ich war heute im Krankenhaus und habe Jason besucht.«

Lorena starrte sie an. Ihre Gefühle überschlugen sich, doch ehe sie sich entschieden hatte, welche der vielen Fragen, die durch ihren Kopf rasten, sie zuerst stellen sollte, hatte Raika bereits den Motor gestartet und jagte dröhnend die Einfahrt hinunter.

Lorena blickte ihr nach. Verdammt, Raika hatte kein Recht, Jason zu besuchen. Sie verzichtete schweren Herzens auf ihn, damit er von keinem Nachtmahr verdorben wurde, und dafür sollte er jetzt in Raikas Hände geraten? Das durfte nicht sein! Andererseits fiel ihr nichts ein, wie sie Raika davon abhalten konnte, sich ihm zu nähern.

Außer mit einem scharfen Schwert in den Händen.

Lorena ließ sich in die Polster des Wagens sinken und schloss die Augen. Verdammt, was sollte sie nun tun?

Es war bereits kurz vor Mitternacht. Lorena war müde, doch sie konnte nicht einschlafen. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Von klirrenden Schwertern, von blitzenden Messern – und von Blut. Im Rausch des Zorns unschuldig vergossenes Blut. Nein, sie wollte nicht an Jason denken und nicht daran, ob ihre Entscheidung richtig war.

Lorena schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Barfuß ging sie in ihrem kurzen Hemd in die Küche hinüber und sah auf die nächtliche Straße hinunter. Eigentlich hätte sie frieren müssen, doch eine innere Hitze wallte durch ihren Körper und ließ sie die Winterkälte nicht spüren, die durch die undichten Fenster und Türritzen drang. Die Straße war menschenleer. Oder war dort drüben nicht ein Schatten?

Lorena presste die Nase an die Scheibe. Nichts. Sie musste sich geirrt haben. Das Prickeln in ihrem Nacken hatte nichts damit zu tun. Es mahnte sie, dass Mitternacht nahte. Die Stunde der Verwandlung. Die Stunde, die dem ihr oft so fremden Wesen gehörte, das ein Teil von ihr war, ob sie es nun wollte oder nicht. Der menschlichen Lorena war es allerdings gelungen, in den meisten Nächten die Oberhand über den Nachtmahr in sich zu erlangen. Eine winzige rote Pille, nach ihrer Verwandlung in der Nacht von Neumond eingenommen, gab Lorena die Kontrolle über den Nachtmahr und unterwarf die Verwandlung allein ihrem Willen statt dem Schlagen der Uhr.

Es fühlte sich beruhigend an, dass sie nur noch einmal im Monat das wilde Tier in sich fürchten musste und sie sich nicht mehr Nacht für Nacht hier in ihrer Wohnung einsperren musste, um die Triebe zu bändigen.

Was war das für ein Leben, das einen zwang, jede Nacht auf der Suche nach Beute durch die Straßen zu streifen, sich wildfremde Männer zu nehmen und seine Lust auf Sex mit ihnen auszuleben?

Tyler kam ihr in den Sinn und Noah. Der kräftige, gut aussehende Schwarze, den sie im Mau Mau kennengelernt hatte. Was hatten sie für wundervoll wilden Sex miteinander gehabt. Ein Schauder rann durch ihren Körper, als die Erinnerungsfetzen ihren Geist streiften.

Und nun war er tot. Es spielte keine Rolle, ob Raika Schuld an seiner Veränderung und schließlich an seinem Tod traf. Auch Lorena hatte sich der Männer bedient. Sie hatte mit ihnen gespielt und Spaß mit ihnen gehabt. Was für aufregende Nächte!

Wie fade war es nun, von der Arbeit heimzukommen, sich etwas zu essen zu kochen und dann mit dem Kater vor dem Fernseher zu sitzen, um früh in sein eigenes, leeres Bett zu schlüpfen. Die Nacht hatte ihren Reiz verloren.

Und ich bin in der Arbeit endlich wieder ausgeschlafen!

Wie langweilig, ertönte eine Stimme in ihr, die sich verdächtig nach Raika anhörte.

Lorena starrte immer noch auf die Straße hinunter. Die Uhr hatte längst Mitternacht geschlagen, doch sie hatte sich nicht verwandelt. Sie hatte die Kontrolle behalten.

Wie schal der Triumph schmeckte. Wie traurig und leer sich alles anfühlte. Müsste es neben der Arbeit nicht noch etwas anderes geben, für das sich jeder Tag neu lohnte?

Jason.

Nein, das war vorbei.

Jason war nicht der einzige Mann, der ihren Körper zum Glühen bringen konnte. Sie könnte sich freiwillig wandeln und ein wenig durch die Nacht streifen. Dann behielt sie doch noch immer die Kontrolle, oder etwa nicht?

Schon während sie darüber nachdachte, veränderte sich ihr Körper. Ihr Haar wurde dichter und länger und legte sich in schimmernde Locken, die Linien ihres Gesichts wurden feiner, das Blau der Augen intensiver, die Wimpern dichter. Ihre ganze Figur schien sich zu verschieben, der Busen wurde üppiger, die Taille schmaler, die Beine gewannen an Länge. Lorena konnte sich im Spiegel der Fensterscheibe sehen. Dann spürte sie, wie die Spalten unter ihren Schulterblättern, die ihre Schwingen verbargen, aufrissen. Sie war bereit!

Lorena schlüpfte in ein Top und einen sehr kurzen Rock, zog sich ihre schwarzen Overknees an und lief beschwingt die Treppe hinunter. Der Klang der hinter ihr zufallenden Haustür war noch nicht verhallt, da entfalteten sich bereits ihre Schwingen und trugen sie über die Straße hinweg.

Nur Augenblicke später landete Lorena vor dem Mau Mau. Eigentlich hatte die Bar schon geschlossen, doch der Barkeeper und die anderen Angestellten waren noch dabei, aufzuräumen und zu putzen, und es standen noch einige Stammkunden mit ihrem letzten Bier vor der offenen Tür. Lorena betrachtete die Besucher mit ihren scharfen Nachtmahraugen, denen kein Detail verborgen blieb. Zwei schieden sofort aus. Sie sahen vielleicht nicht mal so schlecht aus, doch allein ihre Haltung verriet, wie viele Komplexe sie zu verbergen versuchten. Nein, mit so etwas wollte sie sich nicht belasten.

Der dritte Kerl war schon interessanter. Ein großer, sehniger Typ mit dunklen Augen und schwarzem Haar, dessen Gene vermutlich einen Mix aus diversen Ländern bildeten. Sein Blick war offen, und er schien auch nicht zu sehr betrunken. Ja, der könnte etwas sein. Lorena trat aus den Schatten, fixierte den Mann und ging dann direkt auf ihn zu.

Sie hatte bereits gewonnen, noch ehe ihre Hände ihn berührten und über seinen durchtrainierten Oberkörper strichen. »Ich hoffe, du hast heute Nacht noch nichts vor?«, gurrte sie.

»Jetzt schon«, antwortete er, legte seine Arme um ihre Taille und küsste sie. Er schmeckte nach Rauch und nach Bier, aber er entfachte ein Feuer in ihrem Bauch und ließ auf mehr hoffen.

»Komm mit mir«, forderte sie ihn auf. »Du darfst mir heute Nacht dienen. Streng dich an! Ich bin anspruchsvoll.«

»Ich auch«, erwiderte er. »Es ist ein Geben und Nehmen!«

Sein selbstbewusster Blick gefiel ihr. Das sollte eine spannende Nacht werden, an deren Ende es nur Gewinner geben würde.

Nachtmahr – Die Schwester der Königin

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