Читать книгу Nachtmahr – Die Schwester der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 7
Kapitel 1 LORENA
Оглавление»Genug für heute«, ertönte die Stimme der Lady in ihrem Geist. Sie sprach nur selten laut, dennoch war Lorena klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. Das Wort der Lady war Gesetz, und niemand wagte es, sich darüber hinwegzusetzen.
Lorena betrachtete den Saum des altmodischen Gewands und traute sich nicht, die Lider weiter zu heben. Nur einmal hatte die Lady ihr gestattet, ihr Gesicht kurz anzusehen, aber ihr waren nur die Augen in Erinnerung geblieben. Das Gesicht war so zeitlos, so ohne Ecken und Kanten, dass es zu fließen schien. Der Blick jedoch war scharf und durchdringend und schien jedes noch so tief verborgene Geheimnis aufspüren zu können.
Lorena zögerte. Sie rührte sich nicht von der Stelle, obgleich sie die Aufforderung durchaus verstanden hatte. Es kostete sie all ihre Beherrschung, sich dem stillen Befehl zu widersetzen.
»Du kannst jetzt gehen!«, verdeutlichte Morla in scharfem Ton und trat zwischen Lorena und ihre Herrin, der sie bedingungslos diente. »Mylady hat dich entlassen.«
»Ich habe aber noch so viele Fragen«, beharrte Lorena, die spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und an den Schläfen herabrann, und blieb sitzen. Ihr war klar, dass sie den Machtkampf gegen die Lady nicht gewinnen konnte, dennoch versuchte sie, so lange wie möglich standhaft zu bleiben. War sie nicht Eclipse, die lang Erwartete, die die Nachtmahre in eine neue, bessere Zeit führen sollte? Dann hatte sie auch das Recht, Fragen zu stellen und auf Antworten zu beharren!
Du bist Eclipse, und du hast das Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, doch für heute ist es genug. Ich werde dir rechtzeitig alles mitteilen, was du wissen musst. Geh jetzt. Es warten noch andere Aufgaben auf dich.
Wie von einer fremden Macht gesteuert, erhob sich Lorena und tappte unbeholfen auf die Tür zu, die sich vor ihr öffnete. Myladys Butler Carter hielt die Tür auf und schloss sie dann hinter ihr. Unschlüssig blieb Lorena in der Halle stehen und ließ den Blick schweifen, bis er an einer Gestalt hängen blieb.
Eine Frau saß lässig in einem mit rotem Brokat bezogenen Sessel und starrte gelangweilt vor sich hin. Als sie Lorena bemerkte, sprang sie auf. »Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du bleibst die ganze Nacht dort drin. Gibt es interessante Neuigkeiten?«
Lorena sah die andere Frau an und fühlte sich plötzlich erschöpft. Sie war so wunderschön, groß, schlank, rassig, mit einem schmalen Gesicht und dunklen Augen, umrahmt von dichtem, schwarzem Haar, das ihr offen über den Rücken fiel. Ihre sinnlichen Lippen waren rot geschminkt. Sie hatte sich in ihre Nachtmahrgestalt gewandelt und sah Lorena mit blitzenden Augen an.
»Raika, was tust du hier?«
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Das sehe ich«, antwortete Lorena ein wenig zu barsch. Ihre Gefühle für Raika waren zwiespältig. Sie war der erste andere Nachtmahr, den Lorena kennengelernt hatte, doch Raikas Art, wie sie mit ihrer »Gabe«, wie sie es nannte, umging, missfiel Lorena, die es zeit ihres Lebens eher als einen Fluch empfunden hatte. Natürlich gab es Momente, da sie die Wandlung genoss und die Freiheit, die ihr die Flügel verliehen. Der Rausch des Fliegens war unglaublich! Aber Raikas skrupellose Weise, sich jeden Mann, nach dem sie gerade Appetit verspürte, untertan zu machen und dann wieder wegzuwerfen, stieß sie ab. Menschenleben waren für Raika nicht viel wert. Und außerdem hatte sie sich an Jason vergriffen!
Lorena spürte den Knoten in ihrer Brust. Nein, an Jason wollte sie jetzt nicht denken. Das war vorbei. Sie konnte sich nicht vormachen, ihn nicht mehr zu lieben. Ganz im Gegenteil. Sie liebte ihn so sehr, dass sie entschieden hatte, ihn nicht mehr zu sehen. Sie würde ihn mit ihrem Verzicht retten und verhindern, dass ein Nachtmahr seine Seele verdarb.
Es sollte sich eigentlich edel anfühlen, doch sie schmeckte nur Bitterkeit.
»Und, willst du mir nicht verraten, was die Lady gesagt hat?«, erkundigte sich Raika und kam mit wiegenden Hüften näher. Ihr Blick war die reine Verführung, aber das funktionierte nur bei Männern. Lorena konnte sie damit nicht bezwingen.
»Wir haben miteinander gesprochen, aber ich denke nicht, dass dich unser Gespräch etwas angeht«, wehrte Lorena kühl ab.
»Du bist noch immer sauer«, stellte Raika fest. »Wegen Noah oder wegen Jason?«
»Sauer ist nicht das richtige Wort«, erwiderte Lorena. »Wir passen einfach nicht zusammen. Ich werde dich niemals verstehen und du vermutlich mich nicht.«
Raika zuckte mit den Schultern. »Na und? Wir gehören dennoch zu einer Familie. Wir sind Nachtmahre!«
Lorena nickte müde. »Ja, das sind wir, und das wird in Zukunft mein Leben noch mehr bestimmen. Daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.«
»Es gibt Schlimmeres«, sagte Raika, brach dann aber ab, als sich eine Tür öffnete und zwei in schwarzes Leder gekleidete Frauen eintraten. Die Jüngere war sehr groß, bestimmt einen Meter und neunzig, und hager. Sie hatte ein schmales Gesicht und trug ihr schwarzes Haar kurz geschnitten. Die andere Frau war bereits Mitte vierzig. Maddison war nicht so groß wie Sienna, doch auch ihr Körper wirkte durchtrainiert. Beide Frauen hielten Schwerter in den Händen. Sie gehörten zu den Guardians der Lady. Raika betrachtete sie interessiert.
»Das Outfit ist cool«, sagte sie. »So etwas muss ich mir auch zulegen.«
Während Maddison sie nur kalt musterte, lächelte Sienna.
»Hast du dir Myladys Angebot überlegt? Willst du mit uns trainieren und Guardian werden?«
Raika winkte ab. »Nein, danke, das ist mir zu anstrengend. Ich finde nur eure sexy Lederkluft gut, und ich hätte auch gern so ein Schwert.« Sie trat auf Sienna zu und strich ehrfürchtig mit dem Finger über die kunstvoll gefertigte Waffe.
»Man muss sich diese Waffe verdienen!«, mischte sich Maddison ein. »So wie Grace es im Moment tut. Sie strengt sich an und trainiert viel. Sie wird es weit bringen.«
Raika trat zurück. »Das hört sich nach Schweiß und Disziplin an.«
Sienna nickte. »Ohne das geht es nicht.«
»Darm verzichte ich lieber auf das Schwert«, sagte Raika ohne Bedauern.
»Schade«, meinte Sienna und trat auf Lorena zu. Sie neigte den Kopf und suchte dann ihren Blick. »Eclipse, wir werden dich nach Hause begleiten. Wir sind jetzt für deine Sicherheit verantwortlich.«
»Ich heiße Lorena!«, sagte diese schärfer, als sie es vielleicht beabsichtigt hatte.
Siennas Miene blieb unbeweglich. »Wie du wünschst. Gehen wir?« Doch Lorena bewegte sich nicht vom Fleck.
»Wenn Raika nicht will, ist das ihre Sache, aber ich möchte es lernen.«
Sienna blinzelte verwirrt. »Was meinst du?«
Lorena streckte die Hand nach dem Schwert aus. »Ich möchte lernen, so wie ihr mit dem Schwert zu kämpfen. Sollte ich mich nicht selbst verteidigen können? Mylady hat mir von den Wanderern und dem Councillor erzählt, der meinen Tod will.«
Sienna drehte sich zu Maddison um, die nun mit energischem Schritt zu ihr trat. »Du brauchst dich nicht zu sorgen. Wir werden dich beschützen und dafür sorgen, dass die Wanderer nicht an dich herankommen. Hier in der Nähe von London kann dir nichts passieren. Dafür sorgt Myladys mächtige Magie.
Lorena kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Du meinst, ich kann darauf vertrauen?«
»Aber ja!«, bekräftigte Maddison. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«
»Und wenn das nicht genug ist?«, fragte Lorena leise. »Wo wart ihr, als die Wanderer meine Schwester Lucy entführten? Und wie konnte es passieren, dass meine Mutter die Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach, als eure Leute bei uns im Haus waren?«
Sienna zuckte zusammen. Maddison dagegen hielt mit steinerner Miene Lorenas vorwurfsvollem Blick stand. »Das war ein bedauerlicher Unfall, den keiner beabsichtigt hatte.«
»Ein bedauerlicher Unfall, ja? So wie die Leiter, von der meine Großmutter gefallen ist, sodass sie seither im Rollstuhl sitzt, oder wie die durchgeschnittene Bremsleitung im Auto meines Vaters, die zu seinem tödlichen Unfall führte?«
»Davon wissen wir nichts«, behauptete Sienna. »Das geht sicher auf das Konto des Councillors und seiner Männer.«
»Wir wollten immer nur dein Bestes«, fügte Maddison hinzu. »Nichts ist uns so wichtig wie deine Sicherheit.«
Lorena schnaubte. »Das glaube ich gern, doch geht es hier wirklich um mich?«
»Es geht um den Fortbestand der Nachtmahre!«
»Oh ja, das ist das Allerwichtigste«, sagte sie sarkastisch.
Ein weicher Ausdruck legte sich auf Siennas schmales Gesicht. Sie legte sanft eine Hand auf Lorenas Arm. »Ja, das ist wichtig. Wir sind alle eine Familie und füreinander da. Die Wanderer sind unsere Feinde, die seit jeher versuchen, uns zu vernichten. Nur wenn wir geschlossen gegen sie antreten, haben wir eine Chance zu überleben.«
Noch immer nicht besänftigt, trat Lorena einen Schritt zurück. »Warum wollen uns die Wanderer vernichten? Was haben wir ihnen getan, um solch unauslöschlichen Hass zu erzeugen?«
Maddison lachte bitter. »Das Schlimmste, was eine Frau tun kann! Wir haben uns der männlichen Herrschaft entzogen. Wir ordnen uns keinem Mann unter und nehmen uns, was uns Spaß macht. Denkst du, das nimmt die Männerwelt einfach so kampflos hin? Wir rütteln an den Grundfesten der meisten Gesellschaften, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt haben, seien sie nun christlich, jüdisch oder muslimisch. Oder sieh dir Länder wie Indien an. Was ist eine Frau dort wert? Wie wird sie behandelt? Überall auf der Welt müssen sich Frauen unterordnen, auch wenn die Emanzipation in den westlichen Ländern manches abgemildert hat. Denkst du wirklich, die Männer würden ihren Herrschaftsanspruch kampflos aufgeben? Wir sind ihnen ein Dorn im Auge und der Stachel in ihrem Fleisch.«
»Aber lieben sie uns nicht auch? Begehren sie nicht unseren schönen Körper und wünschen sich nichts mehr, als dass wir all ihre heimlichen sexuellen Träume erfüllen?«
Maddison nickte. »Oh ja, wir sind der fleischgewordene Traum jeder Männerfantasie – mit einem kleinen, für sie unschönen Detail: Wir haben die Macht, und wir entscheiden, wann wir uns etwas nehmen oder etwas geben. Wir ordnen uns niemals einem Mann unter und geben ihm Macht über uns. Es geht um unseren freien Willen!«
Lorena trat wieder vor und griff gedankenverloren nach dem Schwert. »Und diesen freien Willen müssen wir mit Waffengewalt verteidigen.«
»Genau!«, rief Raika, die erstaunlich lange geschwiegen hatte. »Ich finde es toll. Hast du die beiden jemals kämpfen sehen? Es ist atemberaubend. Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Wanderer oder gar der Councillor selbst dagegen bestehen könnte. Von normalen Menschen wollen wir gar nicht erst reden!«
Lorena nickte. »Ja, ich habe es gesehen. Deshalb möchte ich es lernen. Selbst wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass wir – wie im Mittelalter – mit dem Schwert gegen irgendwelche Wanderer, oder wie diese Typen heißen, angehen. Es ist einfach faszinierend, wie wundervoll grazil und wendig die Guardians sich bewegen können. Es gleicht mehr einem irrsinnig schnellen Tanz denn einem Kampf.«
Sienna nickte. »Ja, aber lass dich nicht täuschen. Der elegante Tanz endet mit dem Tod, blitzschnell und präzise!«
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Salon der Lady. Alle fuhren herum und starrten Morla an, die geräuschlos in die Halle glitt. Ihrer Miene war nichts zu entnehmen. Waren sie zu laut gewesen? Hatten sie Mylady gestört und würden nun gerügt werden?
Morlas Blick schweifte über die beiden Guardians und heftete sich dann auf Lorena. Raika ignorierte sie mal wieder.
»Mylady nimmt dein Begehren erfreut zur Kenntnis. Dein Unterricht wird nach Einbruch der Dunkelheit beginnen. Nun aber werden dich ihre Guardians nach Hause begleiten. Du wirst den Tag über ruhen, um dem Training gewachsen zu sein. Der Wagen wird dich rechtzeitig abholen und nach Gryphon Manor zurückbringen.«
»Ich muss den ganzen Tag über arbeiten«, protestierte Lorena. »Ich kann mich nicht einfach ins Bett legen.«
»Mylady wird das regeln. Du wirst diese Woche nicht zur Arbeit gehen.«
Lorena wagte nicht zu widersprechen, fragte sich aber im Stillen, wie lange das gut gehen konnte. So, wie sie ihren Chef einschätzte, würde es nicht lange dauern, bis sie ein Kündigungsschreiben auf ihrem Schreibtisch finden würde. Natürlich standen ihr Urlaubstage zu, und er konnte auch nichts sagen, wenn sie eine Krankmeldung vorlegte, aber wenn Mr. Holwood nicht mehr überzeugt davon war, dass einer seiner Mitarbeiter den nötigen Einsatz für die Bank brachte, dann fand sich schnell ein Grund, denjenigen loszuwerden.
Lorena schob den Gedanken beiseite und nickte Morla zu. »Ich werde mich bereithalten. Gute Nacht.«
Sie folgte den beiden Guardians zu der großen schwarzen Limousine mit den abgedunkelten Scheiben, die draußen bereitstand. Raika schloss sich ihnen an.
»Fährst du auch mit?«, fragte Lorena.
Raika schüttelte den Kopf, dass ihr schwarzes Haar flog. »Ich brauche noch ein wenig frischen Wind um die Nase. Ich nehme lieber mein Bike.«
Sie schwang ihr Bein über den Sattel der schweren Maschine und ließ den Motor aufheulen. Kies spritzte auf, als sie mit durchdrehenden Reifen anfuhr und dann die lang gezogene Auffahrt zum Tor hinunterschoss. Die hohen, schmiedeisernen Flügel, die auf beiden Seiten von steinernen Gryphons bewacht wurden, hatten sich gerade erst einen Spalt weit geöffnet, als Raika in wahnwitzigem Tempo nach draußen auf die Straße schoss. Ihr Jauchzen vermischte sich mit dem Lärm des Motors, dessen Röhren rasch in der Ferne verklang.
Lorena sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Raika war so wild und unbeherrscht. Tief in ihrem Innern war sie auf die ungezügelte Lebensfreude ein wenig neidisch. Wenn Raika nur nicht so skrupellos wäre. So etwas wie ein Gewissen kannte sie nicht.
»Wollen wir?« Sienna hielt Lorena die Wagentür auf und ging dann auf die andere Seite, um sich neben sie zu setzen. Maddison nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Fahrer war ein großer, vierschrötiger Mann mit kurz geschnittenem rotem Haar, der, wie alle Männer, die Mylady auf ihrem Herrensitz dienten, kaum jemals ein Wort verlor. Wie Carter blickte er mit regloser Miene vor sich hin und öffnete nur den Mund, wenn er direkt angesprochen wurde.
Was hatte die Lady mit diesen Männern gemacht, dass sie zu solch willenlosen Marionetten geworden waren? Lorena starrte auf seinen rasierten Nacken und unterdrückte ein Schaudern. Die Macht der Nachtmahre war großartig, aber auch erschreckend. Sie dachte an Noah, den charmanten Schwarzen, den sie vor einigen Monaten in einer Jazzbar in ihrem Wohnviertel kennengelernt hatte und der sich dann unter Raikas und ihrem Einfluss zu einem jähzornigen Schläger und schließlich zum Mörder seines besten Freundes gewandelt hatte. Raika behauptete zwar, sie habe Noah ihr Gift eingeflößt, doch Lorena war sich nicht sicher, ob nicht auch ihr Einfluss seinen Charakter verdorben hatte. Für Männer waren Nachtmahre eine gefährliche Gesellschaft. Zum Glück hatte sie das rechtzeitig erkannt, ehe sie Jason hatte schaden können. Nun würde ihm nichts mehr geschehen. Die Stichwunde an seiner Schulter würde heilen, und dann konnte er ein neues Leben beginnen, eine andere Frau finden, sich verlieben und eine ganz normale Familie gründen. Lorena gönnte es ihm. Gerade weil sie ihn so sehr liebte, verzichtete sie auf ihn.
Verdammt, warum schmerzte der Gedanke so schrecklich? Warum nur fühlte es sich so gar nicht gut an?
Sie sah die dunkle Landschaft an sich vorbeihuschen. Es herrschte das übliche englische Winterschmuddelwetter. Kalt und regnerisch. Keine weiß verschneite Winterlandschaft wie früher daheim in Deutschland. Für einen Moment gestattete sie sich, an ihre Kindheit zu denken, als sie noch eine ganz normale Familie gewesen waren. Als Lorena noch nicht gewusst hatte, was in ihr schlummerte. Als ihre Eltern noch gelebt hatten und Lucy, ihre kleine Schwester, die sie mit so viel Misstrauen und Eifersucht beobachtet hatte. Sie hatte so viel falsch gemacht. Und dann war Lucy verschwunden und ihre Eltern auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen.
Lorena versank in ihre Grübeleien, während der Wagen Oxford hinter sich ließ und Richtung London fuhr.
Lange Zeit hatte sie gedacht, Lucy wäre ermordet worden, doch nun hatte sie erfahren, dass ihre Schwester noch lebte. Dass dieser Councillor und seine Männer sie entführt und seitdem in ihrer Gewalt hatten. Sie mochte es sich gar nicht vorstellen. Lucy war erst drei Jahre alt gewesen, als sie verschwunden war. Und nun musste sie – Lorena begann zu rechnen – achtzehn Jahre alt sein? War das möglich? Ja, Lucy, ihre Schwester, die sie als kleines Kind das letzte Mal gesehen hatte, war nun eine junge Frau. Aber wo war sie? Wo hielt man sie gefangen, und wie ging es ihr?
Lorena hatte gefragt, gebohrt und gedrängt, doch keiner war bereit, ihr eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Weil die Nachtmahre selbst nicht genau wussten, wo sie war? Nicht einmal Mylady?
Lorena konnte es nicht sagen. Eines jedenfalls schwor sie sich, sie würde nicht nachgeben. Sie würde Lucy nicht noch einmal im Stich lassen!
Die schwarze Limousine erreichte den Stadtteil Notting Hill und bog in die Portobello Road ein. Vor dem kleinen, bunten Häuschen, in dessen Erdgeschoss Mr. Gordon Antiquitäten verkaufte, hielt er an. Es war vier Uhr am Morgen, und Lorena hoffte, dass keiner der Nachbarn um diese Zeit aus dem Fenster schauen und diesen nicht gerade gewöhnlichen Wagen vor ihrer Tür sehen würde. Zuerst stiegen die beiden Guardians aus und sahen sich aufmerksam um, ehe Sienna ihr die Tür aufhielt.
»Gute Nacht Lorena, ruh dich aus. Wir holen dich gegen sechs Uhr wieder ab.«
»Ich kann auch mit meinem Wagen nach Oxford kommen«, protestierte sie. »Ist das nicht weniger auffällig?«
Maddison lächelte grimmig. »Wir haben den Auftrag, deine Sicherheit zu gewährleisten. Wir werden uns keinen Fehler erlauben. Wir holen dich ab. Mach dir keine Sorgen wegen des Wagens. Wenn wir es nicht wollen, wird er den Menschen nicht auffallen. Ihr Geist ist so leicht zu beeinflussen«, fügte sie in verächtlichem Ton hinzu.
Lorena zog ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. »Dann gute Nacht und bis später«, sagte sie und zog sich in die dunkle Diele zurück. Dort wandte sie sich noch einmal um und sah dem Wagen nach, der im Nebel der Nacht verschwand. Kaum war er um die Ecke gebogen, schob sie die Tür wieder auf und trat auf den Gehweg hinaus. Prüfend ließ sie den Blick schweifen. »Wo versteckst du dich?«, fragte sie halblaut. »Denkst du, ich habe dein Motorrad nicht erkannt?«
Raikas Gestalt löste sich aus einem Durchgang schräg gegenüber und kam auf Lorena zu. »Du bist wachsamer, als ich gedacht hätte. Du hast dazugelernt. Das ist gut.«
»Lungerst du deshalb vor meiner Wohnung herum, um mich zu testen, oder gehörst du auch zu meinen Bewachern?«
Raika schüttelte den Kopf. »Ich hatte den Auftrag, ein Auge auf dich zu haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das noch gilt, nun, nachdem du offiziell in die Arme der Lady heimgekehrt bist und die Guardians dich bewachen, wobei ich mich frage, warum sie weggefahren sind. Denken sie, wenn du in deiner Wohnung bist, kann dir nichts mehr passieren? Das ist lächerlich! Wenn der Councillor oder einer seiner Wanderer vorbeikäme, wären eine Haustür und ein paar Schlösser sicher kein ernst zu nehmendes Hindernis.«
»Vielleicht sind noch andere Guardians in der Nähe?«, vermutete Lorena.
Raika sah sich um und zuckte dann mit den Schultern. »Vermutlich, aber deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte dich etwas wegen Jason fragen.«
»Was gibt es da zu fragen?«, gab Lorena schroff zurück. »Ich rufe jeden Tag im Krankenhaus an und erkundige mich nach seinen Genesungsfortschritten. Es geht ihm schon viel besser. Ich denke, er wird in einigen Tagen entlassen.«
Raika machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich dachte mir gleich, dass der Stich nicht so schlimm war, aber was ich eigentlich wissen will, ist, wirst du wieder mit ihm zusammenkommen?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht ... Aber nein! Ich habe mich entschieden.«
»Und Mylady? Hat sie nichts dazu gesagt?«
»Nein, hat sie nicht.«
Raika schwieg und kaute auf ihrer Unterlippe. »Seltsam. Sie sagte, dass es wichtig sei, dass du mit ihm zusammenbleibst, und dass eure Nachkommen ... Nun ja, ist ja egal. Das wollte ich nur wissen.« Sie wandte sich um und kehrte zu ihrem Motorrad zurück.
»Warum? Was hast du vor?«, rief ihr Lorena nach, doch da heulte schon der Motor auf, und das Motorrad schoss durch die Portobello Road davon. Mit einem mulmigen Gefühl sah Lorena ihr hinterher.
Lucy fuhr aus ihrem Dämmerschlaf auf. Sie schlief nie besonders tief und auch immer nur kurze Phasen. In ihrem Verlies mit der immer gleichen trüben Glühbirne an der Decke fehlte ihr der normale Tag-und-Nacht-Rhythmus. Nur ihre Verwandlung um Mitternacht gab der Eintönigkeit eine Struktur. Jetzt war es erst früh am Abend, doch irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Etwas war anders.
Lucy kroch auf allen vieren auf die Tür zu, bis die gespannte Kette an ihrem Bein sie aufhielt. Sie lauschte und versuchte, all ihre Sinne auf die Männer hinter der Tür zu konzentrieren. Wie so oft vernahm sie die plärrenden Laute eines Fernsehers oder eines Radios, deren Nachrichtensprecher ihre einzige Informationsquelle darstellten. Darüber erhoben sich die Stimmen zweier ihrer Bewacher. Sie stritten. Lucy konnte ihren Unmut spüren. Etwas passte ihnen nicht. Sie waren frustriert und zornig. Auf wen?
Auf die Gefangene und auf ihren Vorgesetzten, der sie diese Nacht zum Dienst eingeteilt hatte.
Warum? Was war an dieser Nacht anders als an anderen? Lucy überlegte und versuchte zu verstehen, was der Fernsehsprecher sagte.
Silvester? War heute Silvester? Ging wieder ein Jahr zu Ende?
Lucy überlegte. Ja, das konnte stimmen. Vor etwa zehn Nächten hatte sie es wieder gespürt. Die Nacht der Nächte. Die absolute Finsternis. Wintersonnwende. Ihre ganz besondere Nacht. Die Nacht der Eclipse, wie Lucy früher manches Mal genannt worden war. Lucy wusste nicht so recht, warum, aber es gefiel ihr.
Sonnenfinsternis.
Ja, sie wollte der Schatten sein, der die Sonne besiegte. Kaum einer Unterrichtsstunde war sie aufmerksamer gefolgt als der über die Sonnen- und Mondfinsternis, über die Sonnwenden und Tag- und Nachtgleichen. Sie hatte schon damals gespürt, dass diese Naturphänomene irgendetwas mit ihr zu tun hatten. Wie so oft machte sie sich Vorwürfe, nicht genauer nachgefragt zu haben. Früher, als sie noch bei Linda gelebt und täglich neue Dinge hatte lernen müssen. Sie hatte Bücher gelesen und war mit ihr durch die Natur gewandert, wo Linda ihr die Namen jeder Pflanze und jedes Tieres genannt hatte. Damals hatte Lucy es nicht richtig geschätzt, war oft frech und widerspenstig gewesen. Damals hatte sie auch nicht geahnt, dass diese Zeit nach ihrem dreizehnten Geburtstag jäh enden würde, um von da an ohne jede Abwechslung in diesem Verlies davonzurinnen.
Es war kurz nach ihrer ersten Wandlung gewesen. Das wusste sie noch genau, und sie ahnte, dass genau das der Grund dafür war, warum man sie Linda weggenommen und hierher an diesen trostlosen Ort gebracht hatte.
Aber was hatte man mit ihr vor? Wollte man sie einfach nur gefangen halten, bis sie irgendwann starb? Oder hatte sie noch eine andere Aufgabe zu erledigen?
Tief in ihrem Innern wusste Lucy, dass es so sein musste. Vielleicht hätte sie es anders auch nicht ausgehalten.
Lucy konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer vor der Tür. Sie stritten miteinander. Worum ging es? Um Las Vegas, die glitzernde Stadt der Spieler in der Wüste von Nevada. Dorthin wollten sie, zur größten Silvesterparty weit und breit, doch sie durften ihre Gefangene nicht unbewacht lassen.
Lucy spürte, wie sich ihr Mund zu einem schadenfrohen Lächeln verzog.
Ach, ihr Armen. Bringe ich euch um euer Vergnügen? Das tut mir aber leid. Wie wäre es, wenn ihr mich mitnehmt und wir zusammen nach Las Vegas gehen würden? Wäre das keine gute Idee?
Lucy suchte nach den Gedanken der Männer, doch in ihrer normalen Gestalt hatte sie keine Chance, sie zu erreichen, und noch war die Nacht nicht hereingebrochen, sodass sie sich nicht wandeln konnte.
»Wenn du meinst, dass das gut geht, dann machen wir es so«, hörte sie den einen sagen.
»Es wird gut gehen, aber du musst schwören, dass niemals jemand davon erfährt. Wenn es dem Councillor zu Ohren kommen würde ...«
Der andere stöhnte. »Dann würde er uns in Stücke reißen!«
»Ja, das würde er, aber er ist weit weg in London. Also, abgemacht?«
»Abgemacht!«
Die beiden hatten sich ein Stück weit von der Tür zurückgezogen und ahnten sicher nicht, dass die Gefangene ihrem Gespräch mit ihrem scharfen Gehör folgen konnte. Oder es interessierte sie nicht. War das Mädchen doch angekettet und konnte niemandem gefährlich werden.
Sie hörte, wie sich die Schritte der beiden Männer entfernten. Dann war es still. Nicht einmal der Fernseher lief. Es war so totenstill, dass Lucy ihren eigenen Atem hören konnte und ein fernes Rumpeln, das sich durch den Fels fortzupflanzen schien.
Und nun?
Ihre Wächter waren fort, doch konnte ihr das irgendwie nützen? Nicht, solange es ihr nicht gelang, sich von der Kette zu befreien. Aber wie? Lucy zerrte daran. Sie hatte es monatelang immer wieder versucht und dann frustriert aufgegeben.
Die Nacht brach herein, und Lucy wandelte sich, um mit den Kräften des Nachtmahrs noch einmal den Kampf gegen ihre Fesseln aufzunehmen.
Vergeblich.
Schwer atmend ließ sie sich auf das Bett sinken. Da kehrten plötzlich die Schritte zurück. Lucy hob lauschend den Kopf. War die Party schon zu Ende? Das konnte nicht sein. Es war noch nicht einmal Mitternacht, und doch konnte sie die Schritte einer der Männer hören.
Nein, es klang anders. Unsicher und zögerlich. Das war keiner ihrer üblichen Bewacher. Diesen Mann kannte sie noch nicht. Lucy sog prüfend die Luft ein und sandte die Fühler ihres Geistes aus, um seine Gedanken aufzufangen.
Er war jung. Erstaunlich jung. Vermutlich kaum älter als sie selbst, und er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er wusste genau, dass das, was er hier tat, nicht richtig war, und dass auch er Ärger bekommen würde, wenn die Geschichte aufflog. Aber offensichtlich hatte er sich gegen die beiden vergnügungssüchtigen Bewacher nicht wehren können und war nun dazu verdammt, in der Silvesternacht vor dieser eisernen Tür Wache zu schieben. Lucy ahnte, wie sein Blick immer wieder zur Uhr wanderte, um den zäh dahinschleichenden Zeiger zu verfluchen. Seine Furcht roch köstlich, und sie sog den Duft tief in sich ein. Im Geist verfolgte sie sein unruhiges Auf und Ab, das ihn jedes Mal gefährlich nah zu der Tür brachte, die zwischen ihnen aufragte. Vielleicht ließe sich da etwas machen.
Lucy richtete sich gerade auf. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Mann dort draußen, auf seine Wünsche und Ängste.
Es war geradezu lächerlich einfach! Er war so jung. So unerfahren und unschuldig. Sein Geist lag wie ein offenes Buch vor ihr.
Komm, komm zu mir!
Sie spürte, wie ihre lockende Stimme in ihn eindrang. Abrupt blieb er stehen. Noch glaubte er, er bilde sich lediglich etwas ein. Er hielt all die Geschichten und Warnungen, die er über die Mahre gehört hatte, für Schauermärchen und dachte, er sei aus dem Alter raus, in dem man an solche Wunderdinge glaubte.
Ein Fehler, mein Guter, das wirst du schon bald erfahren. Komm, nur ein Stückchen näher zur Tür, dann können wir uns besser unterhalten!
Er kämpfte, und wider Willen stieß er laut Worte des Protests aus.
»Ich darf nicht näher an die Tür, das haben James und Anthony mir eingeschärft.«
Er kam sich selbst albern vor, wie er laut Selbstgespräche führte. Lucy spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und an seinen Schläfen herabrann.
Verboten, ja und? Bist du ein kleines Kind? Was soll denn passieren? Die Tür ist fest verschlossen, also komm, trau dich!
»Wer spricht da?«
Ich heiße Lucy, und ich erzähle dir noch mehr, wenn du ein wenig näher kommst.
»Lucy? Bist du die Gefangene? Ich darf nicht mit dir sprechen!«
Trotz seiner Worte spürte sie, wie er Stück für Stück näher kam, bis er ganz dicht hinter der Tür stand, den Blick auf das lackierte Metall vor seiner Nase gerichtet.
»Was ist denn Schlimmes dabei?«, schnurrte sie. »Ich bin hier drin und du da draußen. Da kann doch nichts passieren. Ich bin so schrecklich einsam in dieser Nacht, in der alle feiern und fröhlich sind. Darf ich da nicht wenigstens ein paar freundliche Worte hören?«
Sie spürte, wie er in ihren Händen schmolz. Sie konnte ihn kneten wie weiches Wachs. Ihr Mitleid für diese armselige Kreatur schlug in Verachtung um. Es war zu leicht.
»Du hast recht. Du tust mir leid. Es gibt viele Geschichten über dich, weißt du. Über das arme, schöne Mädchen, das hier unten gefangen gehalten wird.«
»Willst du wissen, ob es wahr ist?«
»Was?«
»Ob ich so schön bin, wie man sich erzählt.«
Sie spürte, wie er schluckte. Seine Handflächen ruhten auf dem kalten Metall. Seine Stirn sank nach vorn, bis auch sie die Tür berührte.
»Sie sagen auch, dass du gefährlich bist«, murmelte er, doch sie konnte seine Worte laut und klar in ihrem Geist hören.
»Ein achtzehnjähriges Mädchen, das an die Wand gekettet ist?«, spottete sie. »Ja, es ist bestimmt höllisch gefährlich, einen Blick auf mich zu werfen!«
»Das haben James und Anthony gesagt«, beharrte er.
»Dann lauf am besten so weit weg, wie du kannst«, riet ihm Lucy, doch der junge Mann rührte sich nicht von der Stelle.
»Vielleicht wollen sie dir meinen Anblick einfach nicht gönnen«, fügte sie hinzu. »So wie sie nur sich selbst die große Silvesterparty in Las Vegas gönnen.«
Stille. Lucy spürte, wie er mit sich rang, doch sie ahnte, dass sie bereits gewonnen hatte, und so wunderte es sie nicht, dass kurz darauf ein leises Schaben erklang und in der Luke der Tür ein Gesicht mit großen braunen Augen erschien, die sich voll Staunen auf die Gestalt im Verlies richteten.
»Einen schönen guten Abend«, raunte sie. »Wie du bereits weißt, heiße ich Lucy ... Und wie ist dein Name?«
»Ben«, stieß er heiser hervor. »Ich heiße Ben.«