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Kapitel 3 FLUCHT

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»Du bist wunderschön!«, hauchte der junge Mann, der kein Auge von dem atemberaubenden Wesen abwenden konnte. War das wirklich eine Frau? Eine ganz normale Frau?

Nein, normal war an ihr gar nichts. Sie glich nicht einmal entfernt auch nur einer der Frauen, die er in seinem Leben bislang gesehen hatte. Sie war sogar noch viel schöner als die nackten Models in den Magazinen, die er sich früher heimlich gekauft und sorgfältig vor den neugierigen Augen seiner Mutter verborgen gehalten hatte.

»Hallo Ben«, sagte sie mit einer so betörenden Stimme, dass ihm ganz schwindelig wurde.

»Du bist schön«, stieß er hervor. »So wunderschön!«

Sie lachte, doch es klang ein wenig traurig. »Ja, aber was nützt es, wenn es niemand gibt, der das sieht?«

»Warum sperrt man dich hier ein?«, wollte er wissen.

Lucy warf ihre langen Locken zurück und sah ihn aus ihren tiefblauen Augen an, die ihn nun sicher sein ganzes Leben lang im Schlaf verfolgen würden. »Wenn du es nicht weißt, ich weiß es auch nicht. Jahr für Jahr hält man mich hier gefangen, ohne dass ich je einem Menschen ein Leid zugefügt hätte.«

»Das ist ja schrecklich!«, stieß Ben hervor.

»Ja, das ist es«, bestätigte das wundervolle Wesen mit einem Schmerz in ihrem schönen Antlitz, dass ihm das Herz in der Brust wehtat. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie einsam und unglücklich ich hier bin. Keiner spricht mit mir, keiner vertreibt mir die endlosen Stunden tödlicher Langeweile.«

»Wenn es dir gefällt, können wir uns gern noch ein wenig unterhalten«, sagte Ben mit seltsam trockener Stimme. »Die anderen kommen vor dem Morgengrauen ganz sicher nicht zurück.

»Wie lieb du bist!« Sie schlug ihre langen Wimpern nieder und sah ihn dann mit einem Blick an, dass er zusammenzuckte.

»Willst du nicht hereinkommen? Dann können wir uns doch viel besser unterhalten.«

»Nein, das geht nicht!« Erschrocken wich Ben einen Schritt zurück. »Ich darf die Tür unter keinen Umständen öffnen.

»Fürchtest du dich etwa vor mir? Ich bin hier angekettet. Was sollte ich dir tun können? Außerdem bin ich nur ein Mädchen, und du bist ein Mann!«

Sie schwieg und sah ihn nur unentwegt durch das kleine, vergitterte Fenster an. Ihre Worte sanken herab und setzten sich in seinem Geist fest.

Genau, sie hatte recht. Was sollte schon passieren, wenn er die Tür öffnete und ein wenig näher trat, um sie besser betrachten zu können. Sie würden reden, er würde ihr die Langeweile vertreiben, und sie würde ihn mit diesem wundervollen Lächeln belohnen. Ben nickte und kam wieder näher.

»Du hast recht!«

Lucy ließ den jungen Mann nicht aus den Augen. Sie wusste um die Macht ihres Blicks, dennoch war sie ein wenig erstaunt, als seine Hand den Riegel ergriff und ihn mit einem energischen Ruck zur Seite schob. Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Dann schwang die eiserne Tür weit auf.

Er tut es wahrhaftig, frohlockte Lucy, die ihr Glück kaum fassen konnte. Nun war er ihr so nah, dass er sich ihrem Willen nicht mehr widersetzen konnte. Sie brauchte ihm nur noch befehlen, ihre Kette am Bein zu lösen und ihr alle Schlüssel zu übergeben, die zu den Türen passten, die noch zwischen ihr und der Oberfläche waren. Und dann war sie frei!

Der Gedanke schmeckte so köstlich, dass sich ihr Atem beschleunigte und ihr Blut in Wallung geriet. Lust flammte in ihr auf, die nichts mit der Aussicht auf Freiheit zu tun hatte. In ihrem Bauch glomm es heiß und strömte durch alle Adern. Lucy spürte, wie ihr Körper sich verspannte und zu zittern begann. Sie starrte diesen jungen, gut aussehenden Burschen an, der ihr Schlüssel zur Flucht war, und dennoch konnte sie sich nicht allein darauf konzentrieren. Das Verlangen war einfach zu groß! Lucy hatte diese Lust schon häufig durch ihren Körper fluten gespürt, vor allem in der Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr, wenn sie sich zum Nachtmahr wandeln musste, doch nie hatte es sie so heftig ergriffen wie in diesem Moment, da sie es am wenigsten gebrauchen konnte.

Du musst hier raus, das ist das Wichtigste! Wenn du erst einmal frei bist, kannst du dir Männer jagen, so viele du willst.

Ja, schon, aber dieser ist jetzt hier, und was schadet es, wenn ich erst ein wenig Spaß mit ihm habe, ehe ich mich davonmache? Die Nacht ist noch jung. Die anderen werden erst in Stunden aus Las Vegas zurückkommen.

Lucy hob langsam die Hand und krümmte den Zeigefinger. »Komm zu mir, mein Hübscher!«

Wie an unsichtbaren Fäden gezogen, tappte Ben auf sie zu. Sein Blick wurde glasig. »Was kann ich für dich tun? Oh, du bist so herrlich. Darf ich dich berühren? Nur ein einziges Mal?«

Seine bettelnde Stimme stieß sie ab, doch sie lächelte ihn weiter an. »Aber ja, komm zu mir, und zeig mir, dass du ein Mann bist!«

Lucy wusste selbst nicht recht, was da über sie kam. Die Vorstellung in ihrem Kopf, was sie mit diesem Mann alles machen wollte, stammte nur aus Büchern und Filmen, die sie vor Jahren heimlich gesehen hatte. Es selbst getan hatte sie bisher nie. Wie auch? War sie nicht seit Jahren hier in diesem Verlies von allen Menschen isoliert? Und dennoch schien der Nachtmahr genau zu wissen, wie er vorgehen musste. Lucy riss Ben die Kleider vom Leib und schlüpfte dann aus ihrem Hemd und der weiten Hose, die ihre schönen Beine verhüllt hatte. Ben stöhnte, als er sie in ihrer vollen Schönheit nackt vor sich stehen sah. Sein Körper zeigte ihr deutlich, dass er mehr als bereit war, ihre Wünsche zu erfüllen.

Lucy schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab. Ihre Lippen legten sich auf die seinen, die sich erwartungsvoll öffneten. Zum ersten Mal in ihrem Leben küsste sie wie eine erwachsene Frau, auch wenn das keiner hätte vermuten können. Ganz sicher jedenfalls nicht der Mann, der vor Verlangen stöhnte und seinen nackten Körper an ihren presste. Doch Lucy hatte nicht vor, ihn so schnell zu erlösen. Sie zog ihm ihre Fingernägel über die Haut und fuhr ihm mit der Zungenspitze die Schläfe entlang. Seine Finger schlossen sich um ihre Oberarme. Er war noch jung, aber bestimmt kein schwächlicher Junge! Lucy stöhnte vor Lust, als sich sein hartes Geschlecht gegen ihren Bauch drückte. Das Mädchen Lucy wäre sicher behutsamer vorgegangen. Hätte sich schüchtern in das Neuland vorgetastet, doch der Nachtmahr wusste genau, was er begehrte. Sie stieß Ben heftig gegen die Brust, sodass er das Gleichgewicht verlor und ihre Arme losließ, dann griff sie nach seinem Handgelenk und zwang ihn zu Boden. Unter ihrem Blick streckte er sich willig aus und reckte ihr die Arme entgegen, als sie über ihn stieg und sich auf die Knie niederließ. Sein steifes Geschlecht berührte das ihre, das heiß pulsierend die Vereinigung forderte.

»Erlöse mich!«, bat er und stöhnte auf.

Seine Arme schlossen sich hinter ihrem Rücken, sein ganzer Körper wölbte sich ihr entgegen, doch sie ließ ihn noch ein wenig zappeln. Ihn und ihren eigenen Körper, der genauso nach Erlösung schrie.

Ganz langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt, ließ sie sich tiefer sinken. Sie spürte den Widerstand und dann den Schmerz, doch er stachelte ihre Lust nur noch mehr an. Sie presste ihr Gesäß gegen ihn, hob es wieder an, bewegte sich hin und her und dann in immer enger werdenden Kreisen. Dabei lauschte sie seinem Stöhnen und seinem Atem, der wie ihr eigener immer schneller wurde. Er packte sie und zwang sie in einen hastigen Rhythmus, dem sie willig folgte, denn ihr Blut peitschte in heißen Stößen durch ihre Adern.

Lucy warf den Kopf in den Nacken, dass ihre blonden Locken flogen. Sie riss die Augen weit auf und schrie in höchster Lust, als er unter ihr zu zucken begann und sich in sie ergoss. Ben erschlaffte. Seine Arme sanken kraftlos herab. Mit verträumtem Blick sah er zu ihr hoch.

»Lucy, das war das Schönste und Aufregendste, das ich je erlebt habe«, stieß er hervor. »Du bist wundervoll! Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Wir müssen es auf alle Fälle wieder tun!«

Lucy erhob sich und griff nach ihrer Hose und dem Hemd. »Das glaube ich eher nicht«, sagte sie. »Du wirst jetzt etwas ganz anderes für mich tun. Gib mir die Schlüssel!«

Für einen Moment flackerte die Erkenntnis, was er getan hatte, in seinem Blick. Ben rappelte sich auf.

»Lucy, nein, das kann ich nicht tun. Die bringen mich um, wenn ich dich freilasse.«

Sie konnte die Angst riechen, die ihn überfiel, als er seine Kleider zusammenraffte und versuchte, die Tür zu erreichen, doch Lucy war schneller. Sie zog an ihrer Kette, und Ben stolperte darüber. Dann war sie schon über ihm und drückte ihn zu Boden. Er starrte sie erstaunt an. Eine solche Kraft passte nicht zu der zierlichen Gestalt der jungen Frau.

»Wenn du mich nicht freilässt, dann bringe ich dich um. Es macht also keinen großen Unterschied«, sagte sie kalt. Mit einer raschen Bewegung griff sie in sein Haar, hob seinen Kopf an und schlang die Kette um seinen Hals.

Ben starrte sie fassungslos an, umklammerte aber noch immer seine Hosen.

»Lass sie los!«, sagte Lucy leise und zog dann mit einem Ruck an der Kette. Ben stöhnte. Er japste nach Luft, doch Lucy war stark. Sein Kopf lief rot an, seine Augen traten hervor. Er konnte nicht mehr sprechen, doch Lucy verstand seine unausgesprochene Frage auch so.

Warum? Warum tust du mir das an? Wie kannst du erst solchen Sex mit mir haben und mich dann kaltherzig überfallen? Du bist ein Mädchen!

»Irrtum, du dummer junge, ich bin ein Nachtmahr, und ich vergelte nur, was du und deinesgleichen mir angetan haben.«

Sein Blick glitt zur Seite, seine Arme wurden schlaff. Als sein Kopf nach hinten sackte, ließ Lucy die Kette los und griff nach seinen Kleidern. Bens Hinterkopf knallte auf den Steinboden. Reglos lag er da. Blut färbte sein Haar und breitete sich zu einer immer größer werdenden Lache aus, doch das kümmerte Lucy nicht. Fieberhaft durchsuchte sie die Taschen, bis sie einen kleinen Bund Schlüssel in den Händen hielt. Der Kleinste musste zu ihrer Fessel am Bein passen. Lucy hielt den Atem an. Ihre Finger zitterten so, dass sie mehrere Versuche brauchte, den Schlüssel in das Schloss zu schieben. Mit einem Klacken klappte der Metallring um ihren Knöchel auf. Lucy sprang hoch. Den Schlüsselbund in den Händen, stürzte sie aus der Kammer in den Vorraum. Dem Bewusstlosen gönnte sie keinen weiteren Blick. Sie wusste nicht, wie schwer er sich verletzt hatte, ja, ob er überhaupt noch lebte, aber das interessierte sie im Moment auch nicht. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Jetzt, nachdem ihr Trieb für den Augenblick befriedigt war, dachte sie nur noch an ihre Freiheit. Ihre Instinkte wiesen ihr den Weg. Die nächste Tür war ebenfalls abgeschlossen, doch einer der Schlüssel passte. Sie entließ Lucy in einen langen, finsteren Gang, der am Fuß einer Treppe endete. Lucy hetzte die Stufen hinauf. Im Laufen riss sie die verwaschene blaue Hemdbluse herunter, sodass sie nun nur noch Hose und ein Trägerhemdchen trug. Die Bluse schlang sie sich um die Hüften.

Endlich erreichte sie das Ende der Treppe, und wieder versperrte ihr eine eiserne Tür den Weg, doch sie konnte die Freiheit bereits riechen und den frischen Hauch des Nachtwinds auf ihrer nackten Haut spüren. Fieberhaft schob sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Tür schwang auf. Ein mächtiges Brausen empfing sie. Lucy trat auf einen schmalen Gittersteg hinaus, der direkt an der Felswand zu kleben schien. Sie stand am Rand einer Schlucht. Senkrecht fielen die nackten Steinwände ab. Lucy schmeckte Staub und den feinen Sprühnebel von Wasser auf der Zunge. Unter ihr schoss ein breiter Strom das Felsental hinab, während sich zu ihrer Linken eine Betonmauer erhob, die bis in den Himmel zu reichen schien. Für einen Moment hielt Lucy verwirrt inne. Was war das? Wo war sie gelandet?

Die glatte Wand spannte sich konkav gewölbt von einer Felswand zur anderen. Eine Talsperre? Ja, und was für eine. So etwas Riesiges hatte Lucy noch nie gesehen, doch sie ahnte nun, wo sie sich befand. Hatten die Männer nicht in Las Vegas Silvester feiern wollen? Wenn sie vorhatten, innerhalb dieser Nacht mit dem Wagen hin- und herzufahren, konnte die Stadt nicht weit entfernt sein. Was bedeutete, dass dieses riesige Stauwerk der Hoover Damm sein musste und dass unter ihr der Colorado River floss. Sie hatte es geschafft. Sie war endlich frei! Lucy riss sich von dem Schauspiel zu ihren Füßen los. Mit einem kaum merklichen Anspannen ihrer Schulterblätter entfaltete sie ihre Schwingen, dann drückte sie sich mit beiden Füßen ab und schoss mit einem Jauchzen in die Luft.

Frei! Sie war endlich frei!

Lucy ließ sich fallen und segelte dicht über dem rauschenden Wasser des Colorado hinweg, der schäumend nach Südwesten dem Pazifik zufloss, dann schlug sie ein paar Mal mit den hauchdünnen Schwingen und schraubte sich in die Höhe, nur um sich dann wieder fallen zu lassen, eine enge Kurve zu drehen und auf die Staumauer zuzufliegen. So kräftig sie konnte, peitschte sie ihre Schwingen durch die Luft, dass ihr Körper nur wenige Meter vom Damm entfernt senkrecht in die Höhe schoss. Sie jauchzte vor Vergnügen, als sie die Kante erreichte und noch immer an Höhe gewann. Ihr Blick glitt über den riesigen Stausee und die schroffen Berge, die ihn umrahmten. Über ihr blitzte der Sternenhimmel, während im Westen plötzlich bunte Lichter in den Himmel stiegen. Silbern, golden, rot, blau und grün. Immer mehr funkelnde Sterne sprühten in den Himmel. Die glitzernde Wüstenstadt begrüßte überschwänglich das neue Jahr. Lucy hielt in der Luft inne und wandte sich dem Spektakel zu.

Willkommen im neuen Jahr, gratulierte sie sich selbst. Es wird ein ganz wundervolles werden!, dachte sie und spürte, wie eine Welle von Glück sie überspülte.

Für Lorena endete das alte Jahr mit einem unerwarteten Gespräch. Sie hatte sich den ganzen Dezember über nicht häufig an ihrem Arbeitsplatz blicken lassen und stattdessen ihre restlichen Urlaubstage verbraucht. Natürlich stand ihr der Urlaub zu, doch es war nicht üblich, dass die Wertpapierhändler der HSBC in der Londoner City zum Jahresende hin freinehmen durften. Oft ging es an den Börsen zum Jahreswechsel noch einmal turbulent zu, und außerdem dachte Mr. Holwood, die Weihnachtsfeiertage seien Belohnung genug. Wozu noch Urlaub? Überhaupt schien er der Meinung zu sein, es sei eine so große Ehre, unter ihm dienen zu dürfen, dass sich jeder Mitarbeiter zu glücklich schätzte, um überhaupt den Wunsch nach Urlaub zu hegen, das sagte zumindest David, als sein Urlaubsantrag wieder einmal abgelehnt wurde.

»Lorena, wie machst du das nur?«, erkundigte er sich bei seiner Kollegin, wehrte dann aber ab, ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte. »Nein, schweig, vermutlich will ich das gar nicht wissen. Lass mir mein unschuldiges Gemüt.«

Lorena knuffte ihn in die Seite. »He, was unterstellst du mir? Nein, ich habe mir nicht Mr. Holwoods Gunst auf irgendeine unredliche oder unmoralische Weise erworben. Das denkst du doch nicht ernsthaft von mir?«

David schien zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich denke, den kann man sich nicht einmal für ein Dutzend Urlaubstage im Dezember schöntrinken.«

Lorena kicherte. »Wie kannst du nur so respektlos von unserem hochverehrten Chef sprechen?«

»Wer ist hier respektlos?«, mischte sich ihre Kollegin Alice ein. Sie tauchte hinter den zahlreichen Monitoren auf, die die Kurse der wichtigsten Aktien und Devisen an den verschiedenen Börsen rund um die Welt anzeigten. Sie strich sich ihr leuchtend rotes Haar aus dem Gesicht und schenkte ihrem Kollegen einen Augenaufschlag. David tauschte einen raschen Blick mit Lorena, der ihr deutlich zeigte, wie sehr ihn Alices Auftritt begeisterte, obgleich die Kollegin eine wirkliche Augenweide war.

»Nichts Wichtiges«, murmelte er. »Ich wollte mir gerade ein Sandwich holen. Kommst du mit, Lorena?« Die beiden entfernten sich rasch, ehe sich Alice ihnen anschließen konnte.

»Was hast du eigentlich die ganzen Urlaubstage getrieben?«, erkundigte sich David, als sie in den Aufzug stiegen. »Gab es so viele Weihnachtsgeschenke zu besorgen?«

»Wohl kaum«, wehrte Lorena ab. »So viel bekommt mein Kater nicht, und die Mitglieder meiner Familie sind seit Langem sehr überschaubar geworden. Meine Großmutter lebt in einem Pflegeheim bei Hamburg und meine Tante, bei der ich während meiner Highschoolzeit in den Ferien gewohnt habe, in Oxford.«

»Und was ist mit Jason?«, erkundigte sich David vorsichtig. »Du hast lange nicht mehr über ihn gesprochen, und ganz ehrlich, ich vermisse das glückliche Funkeln in deinen Augen. Du wirkst stattdessen so angespannt.«

Lorena wunderte sich wieder einmal über die gute Beobachtungsgabe ihres Kollegen. Sie mied seinen Blick, als sie ihm antwortete: »Ich habe mich von Jason getrennt.«

»Was?«

Die Tür öffnete sich, und die beiden durchquerten die pompöse Halle des riesigen Glaskastens. Eine Drehtür entließ sie in den nasskalten Londoner Wintertag. Es regnete leicht.

»Du hast ihm den Laufpass gegeben?«

»Ja«, sagte Lorena leise.

David schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber wie das? Du bist über beide Ohren in ihn verliebt, das kannst du nicht leugnen, denn ich würde es dir nicht glauben. Was um alles in der Welt hat er angestellt?«

»Nichts«, sagte Lorena unglücklich. Außer sich für mich ein Messer in die Schulter rammen zu lassen.

»Dann verstehe ich das nicht. Das musst du mir erklären.«

»Lass es sein. Ich möchte nicht darüber sprechen.«

David orderte ein Sandwich mit Truthahn und biss in das weiche Brot. Sie aßen schweigend, während sie eilig in das Gebäude zurückkehrten. Der Tag lud nicht dazu ein, länger als nötig im Freien zu verbringen. Gemeinsam fuhren sie wieder in den fünfzehnten Stock hoch, den die HSBC mit ihren Abteilungen für Aktien- und Derivatehandel belegte.

»Und, gibt es noch eine Chance, dass ihr beiden wieder zusammenkommt?«, wagte David zu fragen, ehe die Aufzugstür sich öffnete.

Lorena schüttelte heftig den Kopf und blinzelte eine Träne weg. »Nein«, sagte sie heftig.

David holte tief Luft, doch ehe er etwas dazu sagen konnte, kam Alice auf sie zu. Sie streifte David mit einem Lächeln und sah dann Lorena an. Ihr triumphierender Blick verhieß nichts Gutes.

»Da seid ihr ja endlich.«

»Wir waren nicht einmal zwanzig Minuten weg«, protestierte David.

»Und dennoch hat Mr. Holwood zweimal nach dir gefragt, liebe Lorena, und er schien mir gar nicht erfreut darüber, dass du nicht an deinem Platz bist.«

»Lorena hat das Recht auf eine Mittagspause, wie jeder andere Mitarbeiter auch«, schimpfte David.

»Möchtest du das Mr. Holwood sagen?«, erkundigte sich Alice honigsüß. Wie sie das genoss! »Er ist in seinem Büro. Du kannst Lorena ja begleiten, um ihr das Händchen zu halten, wenn sie sich das anhört, was ihr der Chef zu sagen hat. Er schien mir in keiner guten Stimmung zu sein«, frohlockte sie.

David schüttelte über so viel Schadenfreude fassungslos den Kopf. »Es erstaunt mich doch immer wieder, wie viel Gift eine einzige Person versprühen kann.«

»Und mich erstaunt immer wieder, wie blind ein Mann sein kann«, schoss Alice zurück.

»Warum? Weil ich dir nicht zu Füßen liege und mich von dir nicht ausbeuten lasse, wie so manch anderer Kollege? Weil ich mich stattdessen mit Menschen abgebe, die Charakter haben?«

»Geh doch zum Teufel«, zischte Alice. »Aber eines kann ich dir garantieren, du darfst dich schon mal von deiner Lorena verabschieden!«

Sie rauschte davon. Lorena und David wechselten besorgte Blicke. »Meinst du, sie hat recht? Vielleicht hat sie gelauscht und irgendetwas gehört?«

Lorena sah ihren Kollegen verstört an. »Ich habe es befürchtet. Oh nein, ich brauche diesen Job. Ich muss die Heimkosten für meine Großmutter bezahlen, und glaube mir, so etwas ist in Deutschland nicht billig!«

»Sie muss sich irren«, versuchte David, Lorena zu beruhigen. »Oder hast du irgendetwas ausgefressen? Ist dir irgendein großer Deal in die Hose gegangen?«

Lorena schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht, aber ich war fast zwei Wochen nicht da.«

»Moment mal, er kann dir nicht erst Urlaub genehmigen und dich dann deswegen an die Luft setzen.«

»Bist du dir sicher?«

David zog eine klägliche Grimasse. »Bei dem bin ich mir leider bei gar nichts sicher.«

Die beiden durchquerten das Großraumbüro. Widerstrebend näherte sich Lorena der geschlossenen Tür, hinter der ihr Chef saß. Das würde unangenehm werden. Sie konnte es spüren.

»Ich kann leider nicht mit reinkommen«, entschuldigte sich David.

»Nein, natürlich nicht ...« Lorena seufzte und hob gerade die Hand, um anzuklopfen, als die Tür aufgerissen wurde.

Mr. Holwood stand im Rahmen und starrte sie an. »Da sind Sie ja endlich«, sagte er. »Kommen Sie herein. Ich habe Sie schon überall gesucht.«

Lorena warf David noch einen letzten Blick zu, dann folgte sie ihrem Chef in sein Büro und schloss hinter sich die Tür.

Mr. Holwood kehrte nicht zu seinem riesigen schwarzen Schreibtisch zurück, um sich dahinter zu verschanzen, wie er es sonst tat, wenn er jemandem die Leviten zu lesen gedachte. Er trat zu der ledernen Sitzecke, die direkt vor den bodentiefen Fenstern stand, durch die man einen fantastischen Blick über die Londoner City bis hinunter zur Themse hatte. Zu Lorenas Überraschung waren sie nicht allein. Ein Mann in einem gut sitzenden schwarzen Anzug erhob sich, reichte ihr aber nicht die Hand.

»Gray«, stellte er sich mit angenehm tiefer Stimme vor, »Harrison Gray. Und Sie sind Miss Rittner, nehme ich an.«

»Stimmt, ich bin Lorena Rittner«, bestätigte sie und erwiderte seinen Händedruck. Er war kräftig, doch nicht so fest, dass er ihr wehgetan hätte.

»Setzen wir uns doch«, sagte Mr. Holwood beflissen und lächelte. Schon das allein war seltsam und ließ Lorena hoffen, dass es hier doch nicht um ihre Entlassung ging. Sie ließ sich in den Ledersessel sinken und warf Mr. Gray einen verstohlenen Blick zu. Er war sehr groß, sein dunkles Haar militärisch kurz geschnitten, Wangen und Kinn sorgfältig rasiert. Sie ahnte einen durchtrainierten Körper unter dem Maßanzug und konnte – ganz im Gegensatz zu Mr. Holwoods ausladender Mitte – nicht einmal den Ansatz eines Bauchs entdecken, obwohl sie Mr. Gray auf vierzig oder älter schätzte. Nicht, dass sein Gesicht irgendwelche Falten aufwies oder sie auch nur ein graues Haar entdecken konnte. Es war einfach die Lebenserfahrung, die er mit seiner Gelassenheit ausstrahlte.

Lorena war so mit der Betrachtung ihres Gegenübers beschäftigt, dass sie fast nicht mitbekam, was Mr. Holwood sagte. Erst bei dem Satz: »Ich bedaure es sehr, dass Sie uns verlassen«, schreckte sie auf.

»Was?« Lorena blinzelte. »Ich verstehe nicht«, stotterte sie. Sie sah, wie ein Lächeln über Mr. Grays Gesicht huschte, während Mr. Holwood eher verärgert wirkte.

»Ich sagte, Mr. Gray hat es sich in den Kopf gesetzt, Sie unserer Abteilung wegzunehmen. Sie werden ab Januar für ihn draußen in der Canary Wharf arbeiten.«

Lorena starrte erst Mr. Gray und dann Mr. Holwood an. »Warum?«, fragte sie verwirrt. »Wie kommen Sie darauf?«

Mr. Gray lachte, während Mr. Holwoods Miene noch düsterer wurde.

»Sie scheinen nicht erfreut, das zu hören, Miss Rittner«, sagte Mr. Gray. »Dabei dachte ich, alle Mitarbeiter hier würden sich die Finger danach lecken, dieses – verzeihen Sie – heruntergekommene Haus verlassen zu können und stattdessen draußen auf der Isle of Dogs im berühmten HSBC Tower zu arbeiten.«

»Ja, schon«, sagte sie zögernd, »doch ich bin hier mit meiner Arbeit ganz zufrieden und verstehe mich gut mit den Kollegen ...« Nun ja, nicht gerade mit Alice, dafür mit David umso besser.

Mr. Holwood wischte diesen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Unsinn. Sie werden befördert, Miss Rittner, ist Ihnen das nicht klar? Sie bekommen einen neuen Aufgabenbereich mit mehr Verantwortung, und es wird sich natürlich finanziell für Sie lohnen: Ich denke, wir sprechen hier von zwanzigtausend Pfund mehr im Jahr!«

»Oh, danke«, sagte Lorena schwach und hatte dabei das Gefühl, dieser Umstand ärgerte Mr. Holwood, statt dass er sich für sie freute. Und auch ihre eigenen Gefühle waren eher verwirrt als freudig. Woher kam dieses Angebot? Warum wollte Mr. Gray ausgerechnet sie? Wie war er auf sie aufmerksam geworden? Natürlich war mehr Geld immer gut, aber was würde sie dafür tun müssen?

»Ich fühle mich geehrt, Mr. Gray«, sagte sie höflich, »doch worin werden meine neuen Aufgaben bestehen? Ich werde sicher noch viel lernen müssen.«

Er winkte ab. »Ihre Arbeit wird sich nicht so sehr von der unterscheiden, die Sie die vergangenen Jahre verrichtet haben. Sie handeln mit Wertpapieren und Derivaten, nur dass es in diesem Fall um einen neuen Fonds geht und nicht um verschiedene Kunden. Zwei Kollegen wiederum sind dann dafür zuständig, die Fondsanteile anzubieten.«

Lorena nickte. Das hörte sich nicht zu kompliziert an, dennoch verstand sie noch immer nicht, warum man sie ausgewählt hatte und ihr auch noch so viel mehr Geld anbot.

Dann kann ich Jason unterstützen, huschte es durch ihre Gedanken, nur um sich sogleich zu korrigieren. Nein, sie war nicht mehr mit Jason zusammen. Er würde kein Geld von ihr annehmen.

Mr. Holwood erhob sich. »Gut, dann wäre das geklärt. Ich würde sagen, Sie unterschreiben die Verträge und machen an Ihrem Schreibtisch klar Schiff. Nächste Woche melden Sie sich dann draußen im Mutterhaus bei Mr. Gray.«

Auch Mr. Gray stand auf und reichte Lorena noch einmal die Hand. »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Kommen Sie Montag gegen neun direkt zu mir in den vierzigsten Stock hoch. Dann zeige ich Ihnen alles und stelle Sie Ihren Kollegen vor.«

»Danke«, sagte Lorena und sah ihm in die Augen. Er erwiderte ihren Blick, und sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte. Mit Mr. Gray konnte man vielleicht besser auskommen als mit Mr. Holwood. Nur David würde sie vermissen. Sie musste es ihm schonend beibringen. Die Aussicht, ihn zu verlieren, schmerzte sie. Sie hatte nicht gerade viele Freunde, und David war zu einem Vertrauten geworden, der jeden Arbeitstag schöner machte.

Während Lorena ihren Namen unter die Verträge setzte, überlegte sie, ob es für den neuen Fonds vielleicht noch mehr Stellen zu besetzen gäbe. Das würde sie nächste Woche in Erfahrung bringen und Mr. Gray David als geeigneten Kandidaten vorschlagen. Diese Aussicht gefiel ihr. Mit einem Lächeln verließ Lorena das Büro und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie hatte noch nicht auf ihrem Stuhl Platz genommen, als sich Alice näherte und mit einer Miene falscher Betroffenheit fragte: »Und? Wie ist es gelaufen?«

Lorena mühte sich um eine ernste Miene und zuckte mit den Schultern. »Wie erwartet. Mir bleibt nur noch, meinen Schreibtisch auszuräumen und morgen für alle einen auszugeben.«

Alice blinzelte. »Was? Im Ernst?«

»Ich dachte, du hast damit gerechnet, dass ich hier nicht mehr länger arbeite«, erinnerte sie Lorena.

»Ja, schon, nein, ich meine ... Er hat dich wirklich gefeuert?« Sie war verwirrt, und Lorena konnte den Widerstreit ihrer Gefühle an ihrer Miene ablesen. Sie wartete, bis die Schadenfreude die Oberhand gewann.

»Das ist nicht wahr!«, rief David, der mit erschrockenem Gesichtsausdruck zu ihr trat. »Sag, dass du uns auf den Arm nimmst.«

Lorena kostete den Augenblick aus, ehe sie verkündete: »Nein, es stimmt. Ich arbeite ab Montag nicht mehr hier. Ich wechsle in den Tower auf die Dogs rüber.«

David starrte sie an, dann strahlte er. »Du bist befördert worden? Herzlichen Glückwunsch!« Er umarmte sie und wandte sich dann zu Alice um. »Willst du Lorena nicht auch gratulieren?«

Alice starrte sie an, als habe sie auf eine Zitrone gebissen. »Glückwunsch«, presste sie hervor, doch Lorena kam es vor, als wäre sie beinahe an dem einen Wort erstickt.

Nachtmahr – Die Schwester der Königin

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