Читать книгу Nachtmahr – Das Erwachen der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 6

Prolog RAIKA

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Raika sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Höchste Zeit, den Arbeitstag zu beenden! Sie erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und streckte sich genüsslich. Ihr Blick wanderte zu den großen Fenstern, hinter deren Sicherheitsscheiben sich das Panorama der Londoner City darbot. Noch heute war das alte Zentrum der Stadt Inbegriff für das große Geld, für Banken und Versicherungen, auch wenn die meisten wichtigen Geldhäuser längst in die Docklands hinausgezogen waren, wo sie in der Schleife der Themse rund um die Canary Wharf neue gläserne Türme erbaut hatten, die sich gegenseitig an Höhe und Prunk zu übertreffen suchten.

Draußen wurde es bereits dunkel, und in den unzähligen Fensterreihen flammten nacheinander immer mehr Lichter auf. Für Raika war das die schönste Zeit des Tages. Die Nacht erwartete sie! Eine neue, aufregende Nacht voller Leben und Abenteuer. Sie atmete tief ein, doch die Luft schmeckte nur nach Arbeit und Schweiß und nach den Ausdünstungen der Klimaanlage, die sie unermüdlich durch ihr Labyrinth von Rohren presste und durch die Lüftungsschlitze in die Büroräume schleuderte.

Raika war es plötzlich, als könne sie nicht mehr atmen. Ihre Lungen verlangten nach frischer, unverdorbener Luft! Mit einem Ruck zog sie die Schreibtischschublade auf und griff nach ihrer Handtasche. Sie stopfte ihr Handy und ihre Wagenschlüssel hinein und wollte gerade hinausstürmen, als eine Stimme ertönte und sie zurückhielt.

»Raika, ist das etwa ein Fluchtversuch?«

Betont langsam drehte sie sich um. »Nein, Brent, das nennt man Feierabend«, sagte sie gedehnt zu ihrem Kollegen.

Er strahlte sie schon wieder auf eine Weise an, die ihr Brechreiz verursachte.

»Das geht leider nicht ...«, sagte er.

Brent trat näher, ohne Raika aus den Augen zu lassen. Ja, er verschlang sie geradezu mit seinem Blick. Raika hatte das Gefühl, als könne sie sich selbst durch seine Augen sehen: ihre große, schlanke Gestalt mit der schmalen Taille und den festen Brüsten, das schmale Gesicht mit den dunklen Augen, umrahmt von dichtem schwarzem Haar, das ihr bis auf den Rücken fiel. Sie wusste, dass ihre Lippen sinnlich wirkten und mit dem knallroten Lippenstift, auf den sie nie verzichtete, Männer magisch anzog. Doch warum mussten es so oft Typen wie Brent sein?

Alles an ihm war höchstens durchschnittlich zu nennen! Er war mittelgroß und sein Körper nicht gerade durchtrainiert, zumindest ließ das die Rundung unter seinem Hemd vermuten. So genau wollte es Raika gar nicht wissen. Seine Augen waren von blassem Grau, das Haar sandfarben und dünn, und seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen einem kränklichen Gelbton und einem ebenso wenig attraktiven Rot, das ihm nun wieder einmal in die Wangen stieg.

»Was geht nicht?«, hakte sie ungeduldig nach.

Zaghaft hielt er ihrem Blick stand. »Feierabend«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Der Chef sagt, die Pläne müssen noch einmal geändert werden. Er muss sie gleich morgen früh mitnehmen. Die Klienten haben es sich noch mal anders überlegt.«

Er trat zu einem der großen Tische und entrollte den Bauplan der neuen Appartementanlage, die in wenigen Monaten auf dem großen Baugelände südlich der Stadt entstehen sollte.

Widerstrebend trat Raika näher und betrachtete ein wenig ungläubig die zahlreichen, hastig mit roter Farbe eingefügten Änderungen.

»Das ist nicht sein Ernst!«

Brent zog eine Grimasse, nickte aber. »Doch, das ist es sehr wohl. Lucy und Gernot werden auch gleich da sein, um uns zu helfen. Der Chef sagt, er will die neuen Pläne morgen um acht mitnehmen.«

Raika machte ein finsteres Gesicht. »Da sitzen wir ja die halbe Nacht dran, wenn das reicht – selbst wenn wir zu viert sind.«

»Ja, das fürchte ich auch, aber was will man machen?« Brent nickte mit tragischer Miene.

Raika kam jedoch der Verdacht, dass er sich insgeheim über die Überstunden freute. Klar, wenn man kein Privatleben hatte und es einen glücklich machte, seine Kollegin aus der Ferne anzuschmachten, grollte sie im Stillen, pfefferte aber ihre Handtasche zurück in ihre Schreibtischschublade und fuhr den Rechner wieder hoch. Brent nahm schräg gegenüber von ihr Platz. Auch die anderen beiden Kollegen kehrten wenige Augenblicke später zu ihren Arbeitsplätzen zurück. Sie teilten sich die verschiedenen Bereiche der Pläne auf, um sie im CAD-System zu bearbeiten und die Änderungen einzufügen.

Die nächsten drei Stunden arbeiteten sie schweigend. Nur das Klacken der Tastatur und das leise Schaben der Maus waren zu hören, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von einem klagenden Geräusch aus den Schächten der Klimaanlage. Sie kamen zügig voran, dennoch war ihnen klar, dass sie bislang kaum mehr als die Hälfte geschafft hatten.

Raika schimpfte immer häufiger leise vor sich hin, während Lucy hin und wieder einen Seufzer hören ließ.

»So kann man eine vielversprechende Nacht vergeuden«, brummelte sie ungehalten. Die beiden Männer lachten und stellten Vermutungen an, wen oder was Lucy in dieser Nacht alles verpassen könnte.

Raika sagte nichts, obgleich ihr der Gedanke aus der Seele sprach. Sie würden auf keinen Fall bis Mitternacht fertig werden, das war klar. Es war bereits halb zwölf, und sie spürte, wie die wohlbekannte Nervosität nach ihr griff. Das Kribbeln begann in den Füßen und stieg ihr die Beine hoch. Dann zitterten ihre Finger. Raika ließ die Maus los und verbarg ihre bebenden Hände unter dem Schreibtisch. Auch ohne auf die große Bahnhofsuhr über der Tür zu sehen, wusste sie, dass es kaum mehr als fünf Minuten vor Mitternacht war. Sie musste hier raus. Sofort!

Es nötigte ihr all ihre Selbstbeherrschung ab, sich langsam von ihrem Stuhl zu erheben und ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Ich brauch mal eine Pause«, sagte sie und schlenderte betont lässig zur Tür. Erst als sie diese hinter sich geschlossen hatte, begann sie zu laufen.

»Gute Idee!«

Sie hörte noch Brents Worte, der ebenfalls aufsprang und ihr nachrief, sie solle auf ihn warten, doch darauf konnte und wollte sie nicht eingehen. Sie rannte den Flur entlang, am verwaisten Empfang vorbei. Es stand natürlich wieder keiner der Aufzüge parat. Einer war unten im Erdgeschoss, der andere bummelte zwischen dem vierten und dem fünften Stock herum. Bis der endlich hier oben war, würde eine Ewigkeit vergehen. Raika riss die Tür zum Treppenhaus auf und blickte den Treppenschacht hinab. Sechsundzwanzig Stockwerke, das war selbst für sie in den wenigen Minuten, die ihr noch blieben, nicht zu schaffen. Dann also hinauf. Bis zum Dach waren es nur vier Etagen.

Raika stürmte los, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Ihr Atem ging stoßweise, das Herz hämmerte ihr in der Brust.

Unten wurde die Tür zum Treppenhaus noch einmal geöffnet.

»Raika? Warte doch. Ich komme mit«, hörte sie Brents Stimme.

Verfluchter Narr! Sie hatte jetzt keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Verdammt, warum hatte sie auch bis zur letzten Minute gewartet?

Noch zwei Windungen. Sie konnte bereits die Stahltür sehen, die die letzte Schranke zwischen ihr und der frischen Nachtluft bildete. Ein letzter großer Satz. Sie umklammerte die Klinke und stieß die Tür auf, als von einem Kirchturm der erste Glockenschlag ertönte.

Mitternacht!

Sie sog die kühle Nachtluft ein und hatte das Gefühl, nie etwas Köstlicheres gerochen zu haben. Ihre Beine trugen sie über das kiesbedeckte Flachdach, doch sie spürte sie kaum mehr. Während die zwölf Schläge durch ihren Schädel dröhnten, riss sie sich ihren Blazer und ihre Bluse vom Leib. Dann blieb sie stehen und streifte die Pumps ab. Ihr Rock fiel zu Boden. Sie warf die Arme in die Luft, als der letzte Glockenschlag ihren Körper erzittern ließ. Ein Schrei, der seltsam unmenschlich klang, stieg aus ihrer Kehle. Die Wandlung ließ sie erbeben.

»Raika?«

Ein wenig zögerlich öffnete Brent die Metalltür, die auf das Dach hinausführte. »Bist du da?« Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.

Raika stieß einen Fluch aus. Mit ein paar riesigen Sätzen erreichte sie die Kante. Noch einmal warf sie einen Blick zurück, zu dem Mann, der ihr gefolgt war.

»Narr«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, und ihre Augen blitzten zornig. Dann breitete sie die Arme aus und hechtete nach vorn.

Sie fiel. Als der Wind über ihre nackte Haut strich, jauchzte sie vor Lust. Die dunkle Erde raste auf sie zu, doch noch immer zögerte sie den Moment hinaus. Sie liebte es, sich einfach fallen zu lassen. Es berauschte sie mehr als die Lust der Vereinigung. Blinde Scheiben flogen an ihr vorbei. Hinter kaum einer brannte mehr Licht. Die Straßenlaternen kamen rasch näher. Sie konnte ein paar Autos sehen, deren Scheinwerfer die Nacht durchschnitten.

Genug!

Sie spannte ihren Körper an und fühlte, wie sich die beiden Schlitze auf ihrem Rücken öffneten. Mit einem Wimpernschlag entfalteten sich die hauchdünnen Flügel und fingen den Wind ein. Sie spürte den Ruck durch ihren ganzen Körper, als sich die Haut spannte und den Fall bremste. Kaum vier Meter über dem Boden verharrte sie für einen Moment, ehe sie mit einigen Flügelschlägen kehrtmachte und in einem weiten Bogen wieder auf den Sternenhimmel zuschoss. Ein Jauchzen drang ihre Kehle hoch, und sie ließ ihm freien Lauf. Das war das wahre Leben! Die Nacht gehörte ihr allein.

Brent stieß die Tür weiter auf und trat auf das Dach hinaus. Die Stahltür schlug hinter ihm mit einem dumpfen Dröhnen zu und schickte den Kirchturmglocken einen dreizehnten Schlag hinterher.

»Raika?«, rief er noch einmal und fühlte sich plötzlich sonderbar verzagt. Noch mehr als sonst, wenn er ihr gegenübertrat. Was für eine dumme Idee, ihr so nachzulaufen. Hatte sie ihn jemals auch nur andeutungsweise spüren lassen, sie könnte für seine Verehrung empfänglich sein? Und nun lief er ihr wie ein Junge auf dem Schulhof hinterher und bettelte um ihre Gesellschaft!

Er spürte die geschlossene Tür in seinem Rücken. Ach was, jetzt war er schon einmal hier. Mehr als eine Abfuhr konnte sie ihm nicht erteilen.

Brent entfernte sich ein paar Schritte vom Treppenschacht und lauschte dem Knirschen unter seinen Schuhen. Langsam schweifte sein Blick von einer Seite zur anderen. Wo war sie nur abgeblieben? Sie war doch nicht etwa bis zur Dachkante vorgelaufen, um hinunterzusehen? Allein die Vorstellung ließ ihn erschaudern, und er setzte seine Schritte noch zögerlicher.

Plötzlich blieb er stehen. Er bückte sich und griff nach dem, was da vor seinen Füßen lag.

Ein Blazer. Raikas Blazer. Er erkannte ihn sofort. Den Duft, der aus dem Stoff aufstieg, hätte er jederzeit erkannt.

Warum hatte sie ihn ausgezogen? Warm war es hier oben nicht gerade. Ja, der Wind war geradezu kalt und blies in stürmischen Böen. Brent fröstelte. Er legte den Blazer sorgfältig zusammen und hängte ihn über seinen Arm. Dann ging er noch einen Schritt weiter und bückte sich erneut.

Ihre Bluse.

Nein, das konnte nicht sein. Das war irgendein Streich seiner verdorbenen Fantasie. Und noch weniger konnten das dort ihr Rock und ihre Schuhe sein.

O Gott!

Ihre Kleidungsstücke in den Armen, blieb er wie erstarrt stehen. Sein Blick tastete sich fast widerwillig voran, bis er an der Dachkante kleben blieb.

Nein, das konnte auf keinen Fall sein!

Und doch. Er drehte sich einmal um seine Achse. Nichts. Er konnte keine Menschengestalt auf dem Dach sehen. Sie war nicht hier – wenn sie sich nicht gerade hinter der Mauer des Treppenschachts verbarg.

Nackt! Im kalten Nachtwind.

Es war absurd. Doch noch unglaublicher war die einzige andere Erklärung, die sein Verstand ihm anbot.

Doch das durfte nicht sein!

Brent machte einen weiteren kleinen Schritt vorwärts. Die Dachkante war nun noch etwa zwei Meter entfernt. Er würde auch diese Strecke überwinden müssen, um hinuntersehen zu können.

Noch ein kleiner Schritt.

Dabei wollte er gar nicht nach unten sehen. Tiefe Abgründe machten ihm Angst. Sie lockten und zogen. Es gab Dämonen dort unten, die einen ins Verderben stürzten. Wenn Raika nicht gewesen wäre, hätte er im Leben nie dieses Dach erklommen, einunddreißig Stockwerke über dem Grund.

Noch konnte er zurück. Das alles war nicht geschehen. Sein Blick fiel auf die Kleider in seinem Arm.

Er konnte sie einfach hier liegen lassen, ins Büro zurückgehen und dann warten, was passierte. Dieser Albtraum konnte enden, oder ein anderer würde beginnen. Einer, in dem es Raika nicht mehr geben würde. Er beugte sich herab und legte das Kleiderbündel auf den Kies.

So ist es recht, ertönte eine Stimme in seinem Geist.

Brent schreckte hoch. War das sie?

»Raika, wo bist du?«, hauchte er kläglich, ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen, und dennoch war da wieder diese körperlose Stimme, die nach der ihren klang und doch auch wieder nicht. Sie war ein wenig tiefer, rauer, erotischer. Sie lockte ihn und spielte mit ihm. Das war nicht Raikas Art. Sie klang meist eher abweisend oder genervt.

Komm hierher, dann zeige ich dir etwas.

Er wollte nicht, und dennoch machten seine Füße wie von allein zwei weitere Schritte auf den Abgrund zu.

»Was willst du mir zeigen?«, fragte er den Wind. Sein Blick irrte ziellos umher. Er konnte sie nicht sehen, und doch musste sie hier irgendwo sein. Oder wurde er verrückt?

Er stöhnte. In seinem Geist vernahm er ein Kichern. Komm! Nur noch zwei, drei Schritte, dann wirst du all die Antworten finden, die du begehrst.

Brent spürte, wie seine Hände schweißnass vor Furcht wurden, als er sich gehorsam weiter dem Abgrund näherte. Aber es war nicht nur Angst, die ihn in Aufruhr versetzte. Er konnte fühlen, wie Erregung seinen Körper ergriff und sich nicht nur die Härchen überall auf seiner Haut aufrichteten. Etwas Ungeheures ging hier vor sich, während er wie erstarrt an der Dachkante stand und den Blick in die Tiefe sinken ließ.

»Suchst du etwas?«

Wieder ihre Stimme, dieses Mal nicht nur in seinem Kopf. Sie klang ganz nah. Brent wandte sich um. Er musste blinzeln, zu sehr fürchtete er, seine Sinne könnten ihn narren. Da stand sie, nur ein paar Meter neben ihm, ebenfalls direkt an der Kante. Es war Raika, kein Zweifel, und doch war sie es auch nicht. Er erkannte ihren schlanken Körper, obwohl sie jetzt nackt war und er sie höchstens in seiner Fantasie jemals so gesehen hatte. Er sah ihr langes schwarzes Haar, das er stets bewundert hatte, und die dunklen Augen, in denen nun ein seltsamer katzenhafter Schimmer lag. Auch ihr Gesicht schien ein wenig schmäler, doch so ebenmäßig schön, wie er es noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Mit einer lasziven Bewegung, die ihn ebenfalls an eine Katze erinnerte, legte sie den Kopf in den Nacken und strich sich über das Haar. Er schluckte trocken. Wenn dies ein Traum war, dann sollte er niemals enden!

»Raika, du bist so wunderschön«, presste er hervor.

Sie gluckste leise und trieb ihm erneut einen Schauder durch den Körper.

»Ich liebe dich!«, stieß er flehend aus und streckte seine Arme nach ihr aus.

Nun klang ihr Lachen eher verächtlich.

»Du liebst mich? Sag mir, wie sehr.«

»Unendlich! Mehr als alles auf der Welt«, beteuerte er.

»Mehr als dein Leben?«, fragte sie weiter. Ihre Augen verengten sich. Noch einmal schenkte sie ihm ein raubtierartiges Lächeln, das irgendwie hungrig wirkte. Dann sprang sie ...

Brent blieb sein Schrei des Entsetzens im Hals stecken. Das konnte nicht wahr sein. Nein, nein, nein! Der Traum entwickelte sich nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Er starrte ihr nach, wie sie in die Tiefe stürzte. Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Etwas entfaltete sich hinter ihrem Rücken. War das eine Art Fallschirm? Es wirkte so zart, und doch konnte er sehen, wie der Wind die dünnen Häute spannte, die ihn an die Flügel einer Fledermaus erinnerten. So schwebte sie davon, während ihr leises Lachen in seinem Kopf widerhallte.

Liebst du mich mehr als dein Leben?, hallte es in seinem Kopf. Es lockte und zog, und obgleich ein Teil seines Geistes noch Widerstand leistete und sich alle Mühe gab, die Todesangst in ihm wachzurütteln, konnte er sich nicht wehren. Er ließ sich vom Locken ihrer Stimme leiten und schritt wie ein Traumwandler an der Dachkante entlang, bis er die Ecke erreichte.

Noch einmal sah er sie, wie ihre schlanke Gestalt mit einem eleganten Schwung vor dem fast vollen Mond vorbeizog.

Komm, lockte sie, komm! Die Nacht ist für uns gemacht. Es ist nur ein winziger Schritt bis zur Erlösung.

Brent glaubte ihr. Die Versuchung war einfach zu groß. Was, wenn ihr Versprechen wahr werden würde? Was, wenn er wirklich dazu auserkoren war, der glücklichste Mann auf Erden zu werden? Was war schon ein winziger Schritt?

Er machte einen großen. Ja, er stieß sich geradezu von der Kante ab, um mit ausgestreckten Armen ihrem Ruf zu folgen.

Es sollte nicht funktionieren. Sie hatte ihn betrogen. Der Gedanke schoss ihm erschreckend klar durch den Kopf, während er auf die Erde zuraste, bis der Asphalt seinen Fall bremste und den Schmerz der Enttäuschung mit all den anderen Gedanken für immer jäh zum Schweigen brachte.

Es war kurz nach ein Uhr, als Raika durch die Drehtür ins Freie trat. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild, das die Glastür ihr zeigte. Ihr Kostüm war ein wenig zerknittert, die Haare zerzaust, nichts, was den anderen in dieser Nacht auffallen würde. Das Blaulicht des Rettungswagens zuckte hektisch mit dem der Polizei um die Wette, obwohl es hier nichts mehr zu retten gab, das wusste Raika bereits, ehe sie unauffällig hinter ihre beiden Kollegen trat, die mit einer Handvoll später Passanten beisammenstanden. Sie drückten sich wie eine Herde verängstigter Beutetiere eng zusammen, als könnten sie sich vor dem Unfassbaren schützen, das den Tod so unerwartet in ihre Mitte gebracht hatte. Raika konnte ihre Angst und ihre Verunsicherung riechen, aber auch die Abscheu, angesichts des zerschlagenen Körpers auf dem Asphalt, um den sich eine große Lache Blut ausbreitete.

Lucy schluchzte und barg das Gesicht in den Händen, um den Anblick nicht länger in sich aufnehmen zu müssen, während Gernot wie fröstelnd die Schultern hochzog und etwas von »Burn-out« murmelte. Eine Erklärung, die heutzutage für so vieles herhalten musste. Warum nicht für einen spontanen und so unerklärlichen Selbstmord?

Raika schnaubte leise, doch zum Glück klang es nur in ihren eigenen Ohren amüsiert. Sie wartete, bis die beiden Rettungssanitäter Brents Reste auf eine Tragbahre gepackt und mit einem Tuch abgedeckt hatten, dann wandte sie sich ab. Die Nacht war noch jung und konnte noch so viel Überraschendes bereithalten. Unter diesen Umständen würde ihr Chef vielleicht verstehen, dass sie die Arbeit nicht zu Ende bringen würden. Nein, weder Lucy noch Gernot sahen so aus, als würden sie sich heute Nacht wieder an ihren Computer setzen, um die Pläne fertig zu zeichnen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte sich Raika ab und schlenderte fröhlich vor sich hin summend die Straße entlang, bis die Dunkelheit sie verschlang.

Nachtmahr – Das Erwachen der Königin

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