Читать книгу Nachtmahr – Das Erwachen der Königin - Ulrike Schweikert - Страница 8

Kapitel 2 SCHATTEN DER NACHT

Оглавление

Es war kurz nach Mitternacht, als sie am Tor des Herrenhauses ankam. Sie landete außerhalb des weitläufigen Grundstücks, denn sie wusste, dass die Lady es gar nicht schätzte, wenn man irgendwo unvermittelt in ihrem Garten auftauchte. Nein, das würde ihre Guardians aufscheuchen, und das konnte sicher sehr unangenehm werden, dachte Raika, obgleich sie noch keinem begegnet war und nur eine vage Vorstellung von den Kämpferinnen hatte, die die Lady zu ihrem Schutz und so manch anderem Zweck rekrutierte. Denn die Lady verstand es, ihre Macht einzusetzen und sich genügend dienstbare Geister oder besser gesagt Männer zu halten, deren einziges Glück darin bestand, ihr zu gefallen und ihre Befehle auszuführen.

Gryphon Manor, vor den Toren der altehrwürdigen Stadt Oxford gelegen, war eine jener eher wuchtigen als eleganten grauen Stilmischungen mit unzähligen Erkern, Giebeln und Kaminen, deren Ursprünge bis ins Mittelalter zurückreichten. Jede Generation schien sich bemüßigt gefühlt zu haben, dem Gebäude einen weiteren Anbau hinzuzufügen oder zumindest einem Teil des Ensembles seinen Stempel aufzudrücken. Der weitläufige englische Garten dagegen, der das Herrenhaus umgab, fügte sich harmonisch in die saftig grüne Landschaft ein.

Raika schob das hohe, schmiedeeiserne Gitter auf und folgte der geschwungenen Auffahrt zwischen Beeten mit englischen Teerosen. Der geharkte Kies knirschte unter ihren Schuhen.

Ein Mann, der wie ein Butler gekleidet war, empfing sie an der Tür und schloss dann die schweren, hölzernen Flügel hinter ihr.

»Warten Sie bitte hier«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Raika hätte sich am liebsten an ihm vorbeigedrängt, doch sie zwang sich, gehorsam in der Halle stehen zu bleiben. Sie war, wie das ganze Haus – soweit Raika es bisher zu Gesicht bekommen hatte –, mit allerlei viktorianischen Möbeln und Nippes vollgestellt. Vieles mochte auch noch älter sein. So genau kannte sie sich damit nicht aus. Alles sah gepflegt und abgestaubt aus. Es roch nach Möbelpolitur. Verächtlich hob Raika die Oberlippe. Was waren das für armselige Geschöpfe! Leere Hüllen. Dienstbare Geister, ihres Willens beraubt. Und doch konnte selbst Raika nicht leugnen, dass sie ihre Vorteile hatten. Vielleicht wäre es eine Überlegung wert, sich auch einen Dienstboten anzuschaffen, der dann ihre Wohnung sauber hielt und sie mit allem verwöhnte, was er zu bieten hatte, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam? Die Vorstellung amüsierte sie und hatte einen gewissen Reiz.

Raika hörte, wie der Butler ihren Namen verkündete und dann die leise Stimme der Lady, die wie das Rascheln von Seidenpapier klang.

»Carter, sag ihr, sie mag hereinkommen.«

Raika hörte bereits am Klang der Worte, dass die Unterredung eher unangenehm werden würde. Sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg, und ballte die manikürten Hände zu Fäusten.

»Sie dürfen eintreten«, sagte der Butler, ohne den Blick zu heben.

Raika rauschte an ihm vorbei und näherte sich dem Sessel, in dem die Lady saß, so weit, bis sie der Mut verließ und sie abrupt stehen blieb. »Mylady, Sie haben nach mir geschickt«, murmelte sie, ohne die Frau im Sessel anzusehen, doch sie wusste auch so, wie sie aussah. Wer auch nur einmal einen Blick auf sie erhascht hatte, der vergaß ihn sein Leben lang nicht mehr.

Uralt war die Lady und doch alterslos. Das Gesicht schmal und mit glatter Haut. Ihr Blick so mächtig, dass er jeden in die Knie zwingen konnte. Eine altmodische Robe verbarg ihren Körper, der bestimmt so makellos war wie ihr Gesicht, und die langen, schlanken Finger, die nur von einem großen Rubin geschmückt wurden. Ihr Haar war fast farblos, und doch schimmerte es im Schein der trüben Lampen wie flüssiges Silber. Die Augen schienen schwarz, doch es wagte ohnehin niemand, ihren Blick zu erwidern. Auch Raika sah nur ihre Fußspitzen an, als sie darauf wartete, dass die Lady ihre Stimme erhob. Wie üblich sprach sie leise, doch es lag keine Wärme in ihren Worten.

»Weißt du, was ich hier habe?«

Zaghaft ließ Raika den Blick bis zu ihrem Schoß wandern, in dem sie eine aufgeschlagene Zeitung erkannte. Sie sagte nichts.

»Soll ich dir vorlesen, was hier geschrieben steht?«

Raika schüttelte den Kopf. »Ich habe den Artikel gesehen.« »Und? Was hast du mir dazu zu sagen?«

Raika spürte, wie Trotz in ihr aufwallte. Deswegen zitierte die Lady sie nach Oxford? Was sollte das? Es war nichts Schlimmes passiert. Nur ein Mann, der sich zu Tode stürzte. So etwas passierte in London ständig.

»Er ist freiwillig vom Dach gesprungen«, antwortete sie knapp.

»Aha, und du hast nicht ein wenig nachgeholfen?«

»Ich habe ihn nicht gestoßen!«

Die Lady seufzte. »Das habe ich auch nicht behauptet.« Sie schwieg, bis Raika die Stille nicht mehr aushielt. Sie war noch nicht entlassen.

»Wir mussten Überstunden machen. Es wurde spät, nun ja, es war an Neumond, und so bin ich um Mitternacht aufs Dach, um mich zu wandeln. Er ist mir gefolgt. Er hat mich gesehen! Was hätte ich denn tun sollen?« Und außerdem war er nur ein ganz gewöhnlicher Mann. Was soll das Geschrei deswegen?, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Bei der Lady wusste man nie so recht. Sie konnte skrupellos und grausam sein, wenn es um ihre eigenen Belange ging, und auch bei anderen urteilte sie manches Mal seltsam streng.

»Gut«, sagte die Lady nach einer Weile. »Dennoch solltest du dir merken, dass ich es nicht wünsche, so etwas in der Zeitung lesen zu müssen. Sei in Zukunft achtsamer und sorge dafür, dass du kein Aufsehen erregst! Du wirst dir eine andere Stelle suchen und dich etwas unauffälliger geben. Und nun sage nicht, du könntest nichts für dein Aussehen und deine Wirkung auf Männer. Für wie einfältig hältst du mich? Ich weiß über deine Bemühungen Bescheid. Also beleidige mich nicht!«

Raika öffnete den Mund, doch die Lady schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Ich will keine Erklärungen oder Entschuldigungen hören. Du weißt, was ich erwarte, also halte dich daran. Du kannst jetzt gehen.«

Der Butler öffnete auf das Stichwort die Tür, und Raika blieb nichts anderes übrig, als sich mit einer Verbeugung zurückzuziehen. Innerlich schäumte sie vor Wut, doch es war nicht ratsam, das zu zeigen. Sie fühlte sich gedemütigt, was die Lady vermutlich auch beabsichtigt hatte, dennoch wussten sie beide um ihre Macht, was Raika noch mehr erzürnte. Das Beste war es, nach London zurückzukehren und die Alte zu vergessen. Solange sie dies zuließ. Ihren Ruf zu ignorieren, wenn er einen erreichte, kam nicht infrage. So konnte sie nur hoffen, dass der Name Raika lange nicht mehr im Geist der Lady herumschwirrte. Sollte sie ihn vergessen. Das würde allerdings nur geschehen, wenn sich Raika eine neue Stelle suchte und sich in Zukunft mehr zurückhielt, also genau das tat, was die Lady von ihr verlangte. Sie kickte einen Stein in die Rosenbüsche.

Verflucht!

Wenn sie eines nicht mochte, dann sich unauffällig verhalten. Und sie hatte auch nicht vor, etwas an ihrer Erscheinung zu ändern. Es hatte sie viel Kraft und Energie gekostet, bis sie das erreicht hatte, was der Spiegel ihr Tag und Nacht zeigte. Das würde sie sich von Mylady nicht nehmen lassen.

Es schmeckte zumindest wie ein kleines Stückchen Sieg, und so vergaß sie den bitteren Geschmack, den die Zurechtweisung hervorgerufen hatte. Nun gut, vielleicht war es gar nicht so schlecht, neu anzufangen. Eine neue Aufgabe, neue Kollegen, eine neue Wohnung mit netten Nachbarn? Sie lächelte in sich hinein, während sie sich auf den Rückweg in die Stadt machte.

Die Kirchturmuhr schlug. Lorena blinzelte und zählte mit. Beim elften Glockenschlag riss sie die Augen auf.

Mist, schon wieder so spät. Doch sie konnte sich nicht überwinden, die Decke zurückzuschieben und aus dem Bett zu steigen. Finley hatte sie längst verlassen. Vermutlich war er draußen, um sich selbst ein Frühstück zu fangen, wenn seine Freundin hier so pflichtvergessen den halben Samstag verschlief. Von der Straße schallten Stimmen zu ihr herauf. Ja, der Lärm der vielen Rufe und Gespräche war so laut, dass sie sich wieder einmal fragte, wie sie dabei hatte schlafen können. Lorena musste nicht aus dem Fenster sehen, um zu wissen, dass der berühmte Straßenmarkt der Portobello Road bereits in vollem Gange war. Die Händler hatten ihre Stände mit Ramsch und Antiquitäten aufgebaut, und bis zum Abend würden sich die Menschenmassen durch die Straße schieben, um zu handeln und zu kaufen oder einfach nur die Angebote zu betrachten und in der Menge zu baden.

Die nächste Viertelstunde verstrich, ohne dass Lorena Anstalten machte aufzustehen. Dann trieb der Hunger sie aus dem Bett. Wie an jedem Morgen seit vielen Jahren fühlte sie sich wie gerädert, und ihr Körper schmerzte, als habe sie überall Muskelkater. Sie reckte sich, stöhnte, schlich ins Bad und duschte ausgiebig. Ihr Vermieter beschwerte sich zu Recht über ihren Wasserverbrauch, der – wie er meinte – den einer Großfamilie übertraf, doch im Moment war ihr das egal. Hauptsache, sie wurde endlich wach.

Lorena schlurfte in die Küche, um sich Porridge zu kochen. Seltsam, als sie damals nach England gekommen war, hatte die unansehnliche Pampe, die es jeden Morgen gab, ihr Brechreiz verursacht. Heute war er morgens ihr Lebensretter, und sie konnte sich ein Frühstück ohne den warmen Haferbrei nicht mehr vorstellen.

Sie brachte Wasser im Topf zum Kochen und rührte Haferflocken darunter. Dann, als sie zu quellen begannen, goss sie heiße Milch darunter, gab ein wenig Salz und Zucker hinzu und rührte den Inhalt gleichmäßig durch, bis er die richtige Konsistenz hatte. Heute verfeinerte sie ihn mit Mandein, Zimt und einigen Bananenstücken, was ein waschechter Engländer vermutlich nicht getan hätte, aber das war ihr egal.

Lorena hörte das schmale Fenster im Bad klappern. Ah, Finley hatte den Geruch von Porridge wahrgenommen und wollte seine Portion. Maunzend kam er in die Küche und sah erwartungsvoll zu ihr hoch.

»Ich nehme an, als echter Brite willst du ihn lieber im Original?«, erkundigte sie sich mit einem Lächeln und gab ihm seine Portion ohne ihre speziellen Zutaten.

Schweigend aßen sie und lauschten dabei dem Stimmengewirr, das von der Straße heraufdrang. Es war wie das Summen eines riesigen Bienenschwarms, der das Haus umkreiste. Finley zuckte unwillig mit den Ohren. Er liebte Samstage nicht gerade. So viele Menschen waren ihm unheimlich, und so wunderte es Lorena nicht, dass er sich nach seinem Frühstück lieber wieder in ihr Bett verzog.

Lorena wäre ihm gern gefolgt, doch sie rief sich zur Ordnung. Es ging nicht an, dass sie schon wieder das ganze Wochenende verschlief, obgleich allein diese Aussicht sie über die Woche oft aufrecht hielt und ihr die Kraft gab, konzentriert an ihrer Arbeit zu bleiben.

»Nein, heute nicht!«, sagte sie streng, humpelte zu ihrem Kleiderschrank und zog eine frische Jeans, ein T-Shirt und eine Sweatjacke hervor.

Lorena drückte dem Kater zum Abschied einen Kuss auf seinen Kopf und stieg dann die Treppe hinunter. »Guten Morgen«, rief sie in die offen stehende Ladentür.

»Oh, guten Morgen, Miss Lorena«, grüßte Mr. Gordon zurück. »Oder soll ich gleich einen guten Mittag wünschen? Es ist ein herrlicher Tag, den sollte man nicht versäumen!«

Ausnahmsweise ließ er sich nicht über das Laster des Müßiggangs aus, sondern lächelte freundlich. Vermutlich hatte er an diesem Vormittag schon ein teures Möbelstück verkauft und war deshalb in nachsichtiger Stimmung.

Lorena winkte ihm zu und wünschte ihm weiterhin gute Geschäfte. Dann ließ sie sich vom Strom der Besucher aufnehmen und mitziehen. Sie bummelte ziellos an den Ständen vorbei, ohne etwas zu kaufen. Sie kannte die meisten Verkäufer. Wer keinen Laden in der Straße hatte, vor dem sich nun die Waren stapelten, sondern nur einen Verkaufstisch aufbaute, kam dennoch meist seit Jahren an seinen angestammten Platz. Hier vorn am südlichen Ende der Portobello Road gab es Antiquitäten – durchmischt mit viel Ramsch –, danach reihten sich Obst- und Gemüsestände entlang der Straße, gefolgt von Ständen mit allerlei exotischen Köstlichkeiten, die dort frisch zusammengerührt, gebraten und gekocht wurden, sodass sich die unterschiedlichen Düfte zu einem einzigartigen Potpourri vermischten. Weiter oben dann schloss sich der Flohmarkt an.

Lorena schlenderte an den Ständen entlang, blieb immer wieder stehen und wechselte ein paar Worte mit den Händlern, die sie freundlich begrüßten. Alle hatten gute Laune, denn das schöne Wetter hielt an, und man musste heute keine Regenplanen bereithalten, um bei jedem Schauer schnell seine Auslagen abzudecken.

Wie so oft blieb Lorena bei einem Buchhändler hängen, der aus Nachlässen alte Werke aufkaufte. Viele waren schmuddelig, die Einbände zerrissen, und sie rochen nach feuchten Kellern und schimmeligen Dachböden, auf denen sie so lange unbeachtet geruht hatten, doch es gab auch immer wieder das eine oder andere Schmuckstück, bei dem der Goldschnitt noch schimmerte und die in Leinen oder Leder gefassten Einbände alte Geheimnisse versprachen.

Lorena wog eine einhundert Jahre alte Ausgabe von Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray in der Hand, doch als sie den Preis hörte, legte sie es mit bedauerndem Kopfschütteln zurück. Sie verdiente zwar gut und hatte es geschafft, in den wenigen Jahren nach ihrem Studium bereits ein nettes Vermögen zurückzulegen, doch gerade deshalb wollte sie es nicht leichtfertig für Dinge ausgeben, die sie eigentlich nicht brauchte. Wer konnte schon sagen, in welche Stürme des Lebens sie noch geriet? Vielleicht würde sie eines Tages froh sein, auf etwas zurückgreifen zu können.

Sie ging zum nächsten Stand weiter. Auch hier nahm sie ein Buch in die Hand, das sie interessierte, legte es aber wie so oft wieder zurück, ohne es zu kaufen. Bis sie nach einem alten Notizbuch griff. Es sah aus, als habe es schon viele Wechselfälle des Lebens überstanden. Die Ränder der Blätter hatten eine gelbliche Färbung angenommen, doch die Seiten waren alle noch leer. Lorena strich über das erstaunlich weiche Leder, das ihr ein warmes Gefühl vermittelte. Sie hob das Buch an ihre Nase und schnupperte. Die seltsame Komposition unterschiedlichster Gerüche ließ eine Vielzahl an Bildern in ihrem Geist aufsteigen. Sie sah ein Schiff auf den wilden Wogen des Meeres, dann einen einsamen Wanderer, der seinen Pfad durch unwegsames Berggelände suchte. Eine Frau in einem ärmlichen Haus, die vor einem rußenden Feuer saß, das nur wenig Wärme spendete ...

Ihre Fantasie ging mal wieder mit ihr durch. Aber warum hatte nie jemand etwas in das Buch notiert? Es musste sehr alt sein.

Das bestätigte der Verkäufer natürlich und betonte, wie wertvoll so ein Notizbuch heute sei. Als geschäftstüchtiger Händler witterte er Lorenas Interesse und wollte das gern in barer Münze sehen.

Mit betont kühler Miene gab sie ihm das Exemplar zurück. Sie arbeitete im Haifischbecken des Wertpapierhandels. Sie wusste, wie das Spiel funktionierte.

Kaum fünf Minuten später verließ sie den Stand mit einem triumphierenden Lächeln, das alte Notizbuch, sorgsam in Seidenpapier eingewickelt, unter dem Arm. Der Händler dagegen strahlte nicht ganz so sehr, was ihr bestätigte, dass sie mit etwas mehr als der Hälfte des ursprünglich Geforderten beim realen Wert des Buchs angekommen waren. Sie hatte zwar noch keine Vorstellung, was sie damit anfangen sollte, doch für die nächste halbe Stunde versetzte sie ihre Neuerwerbung in gute Stimmung, die sie mit einem Cappuccino in einem winzigen Straßencafé genoss. Dann machte sie sich wieder auf den Heimweg, während ihre Gedanken bereits dem Abend entgegeneilten.

Es war Viertel nach acht, und Lorena hatte sich bereits dreimal umgezogen, doch so richtig zufrieden war sie mit ihrem Spiegelbild noch immer nicht. Gut, das Make-up war ihr nicht schlecht gelungen. Ein wenig mehr als die unauffällige Maske, die sie für ihre Arbeit auflegte, und doch nicht zu schrill – das hoffte sie zumindest. In der Bar würde es düster sein. Da konnte ein wenig mehr Farbe nicht schaden. Und auch ihr Haar sah ganz passabel aus, selbst wenn es nicht mehr ganz so füllig aussah wie noch am Abend zuvor. Lorena seufzte. Sie konnte ja nicht jeden Tag zum Friseur gehen!

Das Haar war mit den Strähnchen und dem neuen Schnitt ganz in Ordnung, aber was war mit der Wahl ihrer Kleidung? Darüber machte sie sich sonst nicht so viele Gedanken. Für ihre Arbeit in der Bank war das einfach: dunkelblaue und graue schmal geschnittene Kostüme, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, mit Blusen in Pastelltönen, einfarbig oder mit dezenten Streifen, die Strümpfe mal schwarz, mal hautfarben – und natürlich die passenden Pumps in Schwarz, Blau, Grau oder seit Neuestem auch in Nude, seit Kate, die neue Prinzessin, diese in ganz England zum letzten Modeschrei hatte aufsteigen lassen. Aber was zum Teufel trug man in einer Jazzbar?

Lorena hoffte, dass sie mit ihrer Jeans, der lässigen, wollweißen Bluse und der engen Lederweste nicht negativ auffiel. Dazu trug sie die einzigen roten Pumps, die sie sich in einem Anfall von Kaufrausch zwei Jahre zuvor gekauft und noch nie getragen hatte. Das würde vermutlich Blasen geben, aber da konnte man nichts machen.

Sie holte einmal tief Luft, streichelte dem Kater zum Abschied über den Rücken und machte sich auf den Weg.

Die Bar war schon recht voll, als sie ankam, und sie hatte den Eindruck, hier würde jeder jeden kennen. Etwas verloren stellte sie sich an die Bar und bestellte ein Glas Weißwein, der ihr nicht besonders schmeckte. Sie nippte ein wenig an ihrem Glas und betrachtete die recht unterschiedlichen Menschen, die sich hier zusammengefunden hatten. Der Mann hinter der Bar schien die Karibik eben erst verlassen zu haben. Sein dunkles Haar hatte er mittels eines verbeulten Huts gebändigt, und die Haare, die ihm am Kinn sprossen, zu einem Zöpfchen geflochten. Lorena ließ den Blick bis zur Bühne wandern, die an der hinteren Schmalseite der Bar aufgebaut war. Ein Mann, dessen Hautfarbe an wärmere Gefilde als England erinnerte, packte gerade einen Bass aus und strich beinahe zärtlich über das in vielen Jahren nachgedunkelte Holz. Sein Haar war schwarz, aber glatt. Lorena vermutete, dass sich unter seinen Vorfahren verschiedene Nationalitäten vermischt hatten. Das Ergebnis jedenfalls war attraktiv, obgleich er sicher nicht mehr so jung war, wie seine drahtige Gestalt auf den ersten Blick vermuten ließ.

»Hey, du bist tatsächlich gekommen!«

Jasons Stimme riss sie aus ihrer Betrachtung. Er kam auf sie zu, begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange und sah so aus, als würde er sich wirklich freuen.

Lorena erwiderte sein Lächeln. »Na klar, ich bin doch neugierig, was du so draufhast.«

»Dann hoffe ich, dass es dir auch wirklich gefällt. Wir spielen bis zwölf und machen dann eine Pause, in der wir was zusammen essen können, wenn du magst. Danach geht es meist noch locker weiter.« Er grinste ein wenig schief. »Nach Mitternacht experimentieren wir gern. Das ist aber nicht mehr jedermanns Sache.«

Er wartete keine Antwort ab, sondern machte auf dem Absatz kehrt, stieg auf die Bühne und nahm sein Saxofon zur Hand. Die Frau mit Rastalocken neben ihm griff zur Klarinette. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit kaffeebrauner Haut setzte sich ans Schlagzeug.

Als Letzter der bunten Truppe gesellte sich ein grauhaariger Mann mit üppigem Körperumfang zu ihnen, der Trompete spielte. Seine Haut war fast schwarz, und das Weiße um seine dunklen Augen schimmerte, als er sich aufmerksam im Raum umsah. Er war es auch, der die Musiker ankündigte und etwas über die ersten Stücke sagte, die sie spielen wollten. Etwas aus den frühen Zeiten des Jazz zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Lorena und die anderen Gäste lauschten den klagenden Klängen der Trompete, die mit einem Solo begann, ehe die anderen mit einsetzten.

Das nächste Stück war zur Zeit der frühen Big Bands in den Zwanzigerjahren entstanden, als das Saxofon den Jazz eroberte. Für den heutigen Abend hatten die Musiker das Stück allerdings neu arrangiert.

Lorena kam es bekannt vor, und sie merkte, wie sie sich entspannte und den Takt mit dem Fuß mittippte. Selbst der Wein schmeckte nicht mehr so herb.

Dann gesellte sich noch eine junge Frau mit prächtigem, schwarzem Haar zu der Gruppe und begann zu singen. Ihre Stimme war erstaunlich tief und ein wenig rauchig.

Lorena beobachtete Jason, der völlig versunken sein Saxofon umfasste und seinen Oberkörper im Takt wiegte. Jetzt gab es für ihn nur noch das Instrument und die Musik. Die Bar und die Zuhörer nahm er vermutlich nicht mehr wahr. Lorena gefiel es, wie er den Kopf leicht schräg hielt, den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet. Er spielte das Stück nicht einfach, er lebte es mit seinem ganzen Körper, seinem Geist und seiner Seele.

Ein Stück folgte aufs andere, und Lorena ließ sich vom Rhythmus und dem Klang der Instrumente gefangen nehmen. Sie konnte den Bass und das Schlagzeug tief in ihrem Innern spüren, während die Melodie der Klarinette ihre Seele umwand. Es entspann sich ein Wechselspiel mit der Sängerin, die Unterstützung in Jasons Saxofonstimme fand, dann setzte wieder die Trompete ein.

Die Zeit verflog, und Lorena sah kein einziges Mal auf die Uhr. Sie trank einen Caipirinha. Der bittersüße Geschmack auf ihrer Zunge passte zur Musik. Plötzlich spürte sie, wie sie von einem Zittern erfasst wurde. Eine innere Unruhe rollte wie eine Welle heran und schwappte bis in die letzten Windungen ihres Geistes. Ihre Hand krampfte sich um das leere Caipirinhaglas, als wolle sie es zerbrechen. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie viel Zeit verstrichen war. Viel zu viel Zeit!

Mit zitternden Fingern zog sie ihren Geldbeutel aus der Handtasche und schob dem Barkeeper zehn Pfund hin. Sie wartete nicht ab, dass er ihr Wechselgeld gab, sondern stürzte ins Freie. Mit einem Keuchen sog sie die Nachtluft ein. Es fühlte sich an, als habe sie drinnen in der Bar stundenlang nicht geatmet. Lorena bückte sich und zog ihre roten Pumps aus. Die Schuhe in der einen, die Handtasche in der anderen Hand rannte sie los. Ein paar Passanten drehten sich verwundert um, doch sie achtete nicht auf die verwunderten Worte, die sie ihr nachriefen. Sie rannte einfach nur die Straße entlang, als hinge ihr Leben davon ab.

Nun, vielleicht war es nicht ihr Leben, aber das eines anderen unschuldigen Menschen?

Wie Schemen huschten die vertrauten Häuser an ihr vorbei, bis sie vor dem Schaufenster des kleinen Antiquitätenladens stehen blieb. Mit bebenden Händen mühte sie sich ab, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ihr Atem ging nun in kurzen Stößen, was nicht an ihrem schnellen Lauf lag, wie sie wusste. Lorena schob die Tür auf, wankte in den Flur und stieß die Wohnungstür wieder hinter sich zu. Dann schob sie den schweren Riegel vor, den sie hatte anbringen lassen, und hängte die Kette ein. Mit letzter Anstrengung legte sie den mit einem gelben Warndreieck gekennzeichneten Schalter um.

Der Kater, der ihr von der Küche her entgegenkam, sträubte das Fell, fauchte und entfloh durch das geöffnete Badezimmerfenster in die Nacht. Lorena konnte es ihm nicht verdenken. Noch im Flur riss sie sich die Kleider vom Leib und fiel mit einem Aufschrei auf die Knie. Das Reißen unter ihren Schulterblättern fühlte sich an, als würde eine Messerklinge über ihren Rücken gezogen. Sie spürte, wie sich ihr Körper veränderte. Mit einer gequälten Miene schloss Lorena die Augen, um ihre Verwandlung im Garderobenspiegel nicht mit ansehen zu müssen. Nicht, dass sie das Spiegelglas bräuchte, um zu wissen, was mit ihr vor sich ging. Sie konnte das Fließen der Formen spüren und sah vor ihrem inneren Auge, wie ihr Körper schlanker und straffer wurde, wie ihre Brüste wuchsen, bis sie sich provozierend straff zwei Nummern größer von einem geradezu traumhaften Frauenkörper emporreckten. Die Haut war nicht mehr blass, sondern schimmerte gleichmäßig in einem warmen Bronzeton, und auch ihr Haar war nun länger und fiel in goldenen Locken über ihren Rücken herab, dass die Haarspitzen die beiden Schlitze berührten, die sich unter ihren Schulterblättern gebildet hatten. Ihr Gesicht war schmaler geworden, die Augen dunkler. Sie schimmerten nun in einem intensiven Blaugrün und standen ein wenig katzenhaft schräg. Ihre Wimpern brauchte man nicht mehr mit der gesamten Kunst der Kosmetikbranche verlängern, färben und in Schwung bringen. Sie waren lang, schwarz und dicht. Und auch ihre Lippen fühlten sich voll und sinnlich an. Lorena hatte sich schon oft genug in diesem Zustand im Spiegel betrachtet, um zu wissen, dass er nun so etwas wie eine fleischgewordene Männerfantasie zurückwarf, vielleicht bis auf die eingefalteten Flügel auf ihrem Rücken, die entlarvten, was sie wirklich war: ein Wesen, das es nicht geben konnte und nicht geben durfte, eine aus einem Albtraum entstiegene Missgeburt, die Tod und Verderben brachte!

Ihr war schlecht. Mühsam rappelte sie sich auf.

Nein, sie erhob sich wie eine Königin! Und sie fühlte sich prächtig. Lorena schlug die Augen auf. Wie magisch zog der Spiegel ihren Blick an. Da stand sie nackt im schummrigen Licht einer Straßenlaterne, das durch das Küchenfenster hereinfiel, und betrachtete das herrlich schöne Wesen, das nicht sie selbst war. Oder doch?

Nein!

Es zerriss sie beinahe. Es war, als würden zwei Mächte an ihrer Seele zerren. Lorena stöhnte, doch dann sah sie ihr Spiegelbild mit diesem verführerischen Lächeln an, dem kein Sterblicher widerstehen konnte.

Jason, hallte es in ihrem Kopf. Sein Bild stieg vor ihr auf. O ja, was für ein appetitliches Stück Mann. Es könnte sich lohnen, ihn heute Nacht zu genießen. Es würde sie nur einen einzigen Blick kosten, dann würde er dahinschmelzen und ihr zu Füßen liegen. Er wäre ihr Sklave, bereit, alles für sie zu tun.

»Nein!«, schrie sie laut und ballte die Hände zu Fäusten. Warum nicht? Hast du ihn nicht schon damals in der Schule begehrt? Hast du nicht von seinen Küssen geträumt?

»Nein!«

O doch! Du musst deine Sehnsüchte nicht verbergen. Er steht dir zu. Nimm dir, was dir gehört! Es wird wunderbar werden. Seine Küsse, seine Hände auf deiner Haut, sein wundervoller Körper, den du den ganzen Abend schon angestarrt, den du nackt vor dir gesehen hast.

»Hab ich nicht!«

Ein Kichern ertönte in ihrem Kopf. Ohne dass sie es wollte, wandte sie sich der Tür zu und legte ihre Finger um den Knauf.

»Aua!«

Mit einem Schmerzensschrei zog sie die Hand zurück, als der Stromschlag durch ihren Körper zuckte.

Nein, sie würde nicht hinausgehen, und sie würde sich weder Jason noch einen anderen Mann holen, auch wenn sie sich noch so sehr nach Zärtlichkeit und Wärme sehnte.

Zärtlichkeit? Pah, Sex! Wilder, zügelloser Sex!

Sie schlug mit der Faust gegen die Wand. Putz rieselte herab, und einem Spinnennetz gleich breiteten sich feine Risse aus.

Verdammt!

Lorena biss sich auf die Unterlippe, bis sie spürte, wie einige Blutstropfen hervortraten. Sie spürte, wie sie langsam ruhiger wurde. Gut so. Es war alles eine Frage der Beherrschung.

Selbstdisziplin! Hatte sie sich das nicht über Jahre hin antrainiert?

Ihr Wille war stärker als die ungezügelte Wildheit, die sich in ihrem Körper ausbreitete und ihr diese fremde Hülle überstreifte.

Eine verflucht schöne und verführerische Hülle, findest du nicht?

Ja, natürlich! Wer würde das abstreiten können, aber trotz allem war das nicht sie selbst. Lorena Rittner war weder strahlend schön noch sexy, ihr Körper war nicht gertenschlank und durchtrainiert, und sie hatte weder wundervolles Haar noch diese Katzenaugen. Sie war einfach nur normal.

Normal!, kreischte es in ihrem Kopf. Gibt es auf dieser Erde etwas, das weniger normal ist als du?

Wie um diese Worte zu verstärken, entfalteten sich ihre Flügel auf dem Rücken. Fast transparente Schwingen, stark und biegsam. Die dünnen Häute fingen das Licht ein und schimmerten wie die wabernde Glut eines herabgebrannten Feuers. Fast hätte man sie schön nennen können, wenn sie die Flügel eines Wesens gewesen wären, das Gott auf dieser Erde vorgesehen hätte.

Lorena zwang die Flügel in ihre Schlitze unter die Schulterblätter zurück und schritt betont langsam ins Badezimmer. Sie versuchte, ihre Hüften nicht zu beachten, die bei jedem Schritt aufreizend hin- und herschwangen, als würde sie über einen Laufsteg schreiten. Lorena nahm ihren verwaschenen Frotteebademantel vom Haken und schlüpfte hinein. Nicht, dass es ihr kalt gewesen wäre. In diesen Nachtstunden ihrer Verwandlung machten ihr weder Kälte noch Hitze etwas aus. Es bereitete ihr fast Vergnügen, als sie diesen fremden, wilden Teil in sich empört aufschreien hörte.

Was für ein Sakrileg, diesen wundervollen Körper unter einem scheußlichen Blümchenbademantel zu verstecken!

Lorena lächelte grimmig. Sie war noch immer Herrin über ihren Geist und diesen Körper, zu was auch immer er gehörte. Sie würde sich nicht diktieren lassen, was sie tat oder was sie unterließ. Und sie würde sich auch nicht von dem abbringen lassen, was sie für gut und richtig hielt. Werte und Moral waren nicht davon abhängig, ob es Tag oder Nacht war – und damit basta!

Ach nein?, widersprach wieder diese Stimme in ihr, die sie so sehr hasste und vielleicht auch ein wenig fürchtete. Erinnere dich! Du hast schon wilde Nächte erlebt und Dinge getan ...

Lorena stöhnte auf, presste beide Handflächen gegen die Schläfen und kniff die Augen zu. Nein, sie wollte sich nicht erinnern. Sie hatte es vergessen, alles, was geschehen war, und das war gut so.

Vermutlich.

Irgendeinen Grund musste es schließlich geben, dass in ihren Erinnerungen so viele Lücken herrschten. Ihre Kindheit stand ihr noch ganz deutlich vor Augen. Damals, als ihre Mutter und ihr Vater noch gelebt hatten und sie alle miteinander eine glückliche Familie gewesen waren. Doch dann mit dreizehn begannen die Lücken und weißen Flecken, die den Film der Erinnerung immer wieder unterbrachen. Nein, es wunderte Lorena nicht, dass vor allem die Nächte fehlten, doch sie wollte nicht darüber grübeln, was das wohl zu bedeuten hatte. Die Vorstellung, was sich hinter dem Nebel verbergen könnte, machte ihr Angst.

Du könntest ein wenig in dich gehen und nachdenken, vielleicht fällt dir dann das eine oder andere wieder ein?

»Nein!«

Lorena straffte die Schultern, ging in die Küche hinüber und stellte den Wasserkocher an.

Tee? Wie langweilig!, maulte es tief in ihrem Innern, doch sie drängte die Stimme beiseite. Im Bad klapperte es, kurz darauf lugte Finley zaghaft um die Ecke.

»Komm rein«, lockte sie ihn. »Willst du noch ein wenig Milch?«

Er zögerte, kam dann aber in die Küche, auch wenn sein Fell im Nacken noch ein wenig gesträubt war und er jeder ihrer Bewegungen mit aufmerksamem Blick folgte. Die Milch ließ er sich allerdings schmecken. Dann sprang er auf den zweiten Küchenstuhl und rollte sich auf dem Kissen mit dem Rosenmuster zusammen. Lorena ließ ihn gewähren. Sie wusste, dass er sich nicht auf ihren Schoß legen würde. Nicht, solange sie in diesem anderen Körper verborgen war.

So saß Lorena still da, einen Becher heißen Tee in den Händen, und starrte auf die Uhr, deren Zeiger so aufreizend langsam ihre Runden drehten. Es schien eine Ewigkeit zu verstreichen, bis der lange Zeiger endlich wieder auf die Zwölf rückte und es draußen vom Kirchturm her ein Uhr schlug.

Lorena erhob sich. Sie schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Nun würde das Wesen weichen müssen. Nun würden ihre Kraft und ihr Wille ausreichen, den Nachtmahr in ihr zu vertreiben. Sie keuchte, Schweiß trat ihr auf die Stirn, doch sie spürte, wie sich die Schlitze unter ihren Schulten schlossen und ihr Körper zu seinem natürlichen Aussehen zurückkehrte. Verschwitzt und erschöpft hinkte sie ins Bad. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Füße schmerzten und an der Ferse eine Blase aufgeplatzt war. Mit einem Stöhnen stellte sie sich unter die Dusche und drehte das heiße Wasser an. Sollte sich Mr. Gordon wieder beschweren, dass sie so spät noch das Wasser laufen ließ und dann auch noch so lange! Das kümmerte sie in diesem Augenblick nicht. Sie genoss nur das heiße Wasser, das ihre Haut rot färbte. Es fühlte sich so an, als würde es all den Schmutz, der sich über Nacht ansammelte, von ihr abwaschen. Sie würde neu und sauber aus der Dusche hervortreten.

Dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde, wusste Lorena, doch jetzt musste sie ja nicht daran denken. In diesem Moment reichte es ihr, das Wasser über ihre Haut rinnen zu spüren und die Wärme zu genießen. Es war, als würden Hände sie liebkosen. Sie schloss die Augen und dachte an Jason. Wenn es doch seine Hände wären. Seine Arme, die sie an seine Brust drücken, sie die Nacht über halten und in Sicherheit in den Schlaf wiegen würden.

Als sich Lorena abtrocknete, hatte sie Tränen in den Augen. Was für ein schöner Traum. Schön, ja, doch eben nur ein Traum, unerreichbar für alle Zeiten.

Mit schweren Schritten schleppte sie sich ins Bett und zog die Decke bis über die Ohren. So lag sie zusammengekrümmt wie ein Embryo da und lauschte den Geräuschen der Nacht. Obwohl sie sich erschöpft und wie zerschlagen fühlte, wollte der Schlaf nicht kommen. Zu sehr ratterte das Gedankenkarussell in ihrem Kopf und quälte sie mit den immer gleichen Fragen.

Was ging mit ihr vor? Woher kam das, und warum traf es ausgerechnet sie? Gab es Rettung? Konnte sie etwas tun, dass dieser Albtraum endlich aufhörte? Sie wollte ein normales Leben führen. Ein ganz normales Leben wie alle anderen Menschen auch.

Es war ihr ein Trost, als sie das leise Tappen von Finleys Pfoten auf dem Parkett vernahm und sich dann sein warmer, weicher Katzenkörper in ihre Kniekehlen schmiegte. Endlich schlief sie ein, doch auch im Traum quälten sie Erinnerungen, die sie eigentlich vergessen glaubte.

Nachtmahr – Das Erwachen der Königin

Подняться наверх