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Kapitel 1 LORENA

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»Mr. Clayton, wir haben zu danken«, sagte Lorena und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Ja, ich melde mich wieder. Nein, wir haben alle Daten. Wir schicken Ihre Abrechnung wie üblich sofort raus. Ich wünsche Ihnen auch ein schönes Wochenende.«

Sie berührte die Markierung auf ihrem Touchscreen, beendete das Telefonat und atmete tief durch. Dann wandte sie sich ihrem Chef zu, der gerade bei ihrem Kollegen zwei Arbeitsplätze weiter stand. »Sir, fünf Millionen der Mobil-optionen gehen an die Westland Corporation.«

Er wandte sich ihr mit aufmerksamer Miene zu. »Kurs?«

»Dreizehn fünfundneunzig.«

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Gut gemacht!«

Lorena spürte, wie sie errötete. Es kam nicht oft vor, dass sie von ihrem Chef vor den anderen gelobt wurde.

»Ich rufe gleich noch bei Liberten durch und biete ihnen auch welche an«, sagte sie eifrig und scrollte auf ihrem Bildschirm bereits die Seiten der Kontaktdaten durch.

»Die sind bestimmt schon ins Wochenende verschwunden«, prophezeite David, der links neben ihr saß. »Und das werde ich jetzt auch tun.« Er erhob sich und begann, seinen Aktenkoffer zu packen.

»Was hast du vor?«, erkundigte sich Mercedes von schräg gegenüber und warf mit einer neckischen Bewegung ihr langes dunkles Haar zurück. Ihre Mutter stammte aus Argentinien, und sie hatte von ihr die rassige Schönheit geerbt.

David machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Mal sehen. Ich habe da so meine Vorstellungen.«

»Ah, eine neue Flamme?«, bohrte Mercedes nach, doch er gab sich zugeknöpft.

»Der Gentleman genießt und schweigt.«

»Pah«, gab Mercedes zurück. »Ich verrate dir auch etwas über mein Date, wenn du mir ihren Namen sagst.«

»Oh, jetzt hast du ihn aber in Zugzwang gebracht«, mischte sich Peter ein und lachte. »Schnell Alter, denk dir was aus, sonst stehst du mit deiner Aufschneiderei ganz dumm da.«

»Aufschneiderei? Was denkst du! Sie ist ganz wunderbar, aber das geht euch nichts an. Vielleicht werde ich sie euch irgendwann mal vorstellen, aber nur wenn ihr euch gut benehmt.«

So scherzten sie und neckten sich gegenseitig, während sie ihre Jacken anzogen und ihre Aktenmappen schlossen. Nur Lorena saß noch still an ihrem Platz und notierte sorgfältig die Abwicklungsdaten des letzten Verkaufs. Ein Hauch von Parfüm wehte ihr in die Nase und ließ sie aufsehen.

»Hi Lorena, du hast doch sicher heute Abend nichts vor?« Alice sah mit diesem treuherzigen Blick auf sie herab, der so falsch war wie ihr süßlicher Tonfall.

Lorena erwiderte nichts, obgleich sie genau wusste, was ihre Kollegin ihr damit sagen wollte.

»Weißt du, ich habe es wahnsinnig eilig. Ryan und ich wollen heute ins Peppermint gehen. Ein total angesagter Laden«, säuselte sie und legte unauffällig einen Stapel rosaroter Blätter auf Lorenas Schreibtisch. »Man kann von Glück sagen, wenn man einen Tisch bekommt.«

Lorena erwiderte noch immer nichts. Sie hielt ihren Blick auf ihre Kollegin gerichtet, bis diese ein wenig nervös anfing, sich eine ihrer langen roten Haarsträhnen um den Finger zu wickeln.

»Ich meine, wenn du es nicht eilig hast, dann könntest du noch die Durchschläge hier ablegen und die Abschlüsse eintragen. Das wäre sehr nett von dir«, fügte sie hinzu, da sich noch immer kein Lächeln auf Lorenas Gesicht zeigte, das ihr signalisierte, dass das unscheinbare Blondchen, nach dem sich auf der Straße ohnehin kein Mann umdrehen würde, doch gern am Freitag noch eine Weile im Büro blieb, um ihrer umwerfend attraktiven Kollegin ihren frühen Feierabend zu sichern.

Lorena sah sich in dem ein wenig verächtlichen Blick ihrer Kollegin gespiegelt: eine Frau Ende zwanzig von unauffälliger Größe. Überhaupt passte »unauffällig« zu fast allem, was man über sie sagen konnte: Ihre Figur war weder schlank noch üppig, ihr Haar nicht richtig blond, ihre Augen zwar blau, aber nicht von dieser Strahlkraft, die einen Blick unvergesslich machten. Sie sprach meist leise und neigte im Gegensatz zu Alice weder zu Wutausbrüchen noch zu lautem Lachen. Selbst ihre Gewohnheiten, ja, ihr ganzes Leben schienen in den Augen ihrer Kollegin mit dem Wort »unauffällig« ausreichend beschrieben.

Lorena biss die Zähne zusammen. Sie spürte, wie ein unbekannter Zorn in ihr aufstieg. Wie oft hatte sie dieses Spiel schon mitgemacht? Wie oft war sie am Abend hier in der Bank gesessen und hatte die Arbeit ihrer lieben Kollegen übernommen, damit diese zu irgendwelchen echten oder vorgetäuschten Dates gehen konnten?

Heute nicht. Sie hatte genug!

Lorena schob die rosa Zettel zurück und erhob sich. »Sorry, ich kann dir nicht helfen. Ich habe auch schon etwas vor«, log sie und unterdrückte beim Anblick von Alices ungläubiger Miene einen Seufzer. War es denn so unglaubwürdig, dass sie an einem Freitagabend eine Verabredung hatte?

Darauf gab sie sich lieber keine Antwort. Mit energischen Bewegungen zog sie ihre dunkelblaue Kostümjacke an und klappte ihren Aktenkoffer zu.

»Na, dann muss ich dir wohl viel Spaß wünschen«, schnappte Alice und rauschte mit ihrem Zettelstapel beleidigt davon.

»Gut gemacht!«, kommentierte David, der ihr ebenfalls schon das ein oder andere Mal seine Arbeit aufgeladen hatte. »Mir kam schon öfter der Gedanke, dass du dich zu sehr ausnützen lässt.«

Lorena lächelte schwach. Sie ging mit ihm zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte und den anderen ein schönes Wochenende wünschte. Die meisten grüßten zurück. Außer natürlich Alice, die noch eine Weile schmollen würde. Tja, das war der Preis für den Widerstand.

»Und? Hast du es eilig?«, erkundigte sich David, als sie im Aufzug zusammen hinunterfuhren.

Lorena hob die Schultern. »Warum?«

»Ich dachte, du möchtest mit uns vielleicht noch etwas trinken gehen.« Es sah sie freundlich an.

Lorena versuchte, nicht zu sehr zu strahlen. Es kam nicht oft vor, dass die Kollegen sie fragten, ob sie mitkommen wollte, obwohl sie häufig nach Feierabend einen ihrer Lieblingspubs aufsuchten, vor allem an Tagen wie diesem, da es in London einmal nicht regnete.

Nun zeigte sie ihre Freude doch und lächelte ihren Kollegen an, der sie um einen Kopf überragte. »Gern! So eilig habe ich es nicht, ich meine, ich habe noch etwas Zeit.« Sie brach ab. Sie wollte ihren Kollegen nicht mit der Lüge einer Verabredung beleidigen.

»Gut!«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln.

Der Aufzug entließ sie und ein halbes Dutzend andere Mitarbeiter in die prächtige Eingangshalle, von wo sie sich mit dem Strom der Menschen durch die Drehtür nach draußen treiben ließen. Die Sonne stand tief am fast wolkenlosen Himmel und schnitt blendend grelle Streifen zwischen den Schatten der Häuser aus dem Straßenpflaster.

Lorena warf noch einen Blick zurück auf den bereits ein wenig in die Jahre gekommenen Glaskasten, in dem die HSBC einige Stockwerke belegte. Die strahlend neue Zentrale funkelte draußen in der Canary Wharf mit dem Hochhaus der Citibank um die Wette, mit Barclays und Natwest, Morgen Stanley und Credit Suisse und all den anderen, die den großen Weltfinanzkuchen untereinander aufteilten. Die HSBC gehörte immerhin zu den fünfzig größten Unternehmen der Erde und zählte sich zu den wichtigsten Großbanken, dabei hatte das Unternehmen 1865 als Hongkong and Shanghai Banking Corporation ursprünglich zur Finanzierung des britischen Handels mit Fernost begonnen. Auf dem Höhepunkt des Welthandels mit den fernen Kolonien stieg das Unternehmen rasch zu einer der wichtigsten Banken auf.

Lorena und David schlenderten die Straße entlang zum Leadenhall Market und schoben sich dann zwischen der Traube der Anzugträger, die sich bereits vor dem Pub versammelt hatten, bis zum Tresen der Swan Tavern vor. Lorena bestellte ein Pint Guinness, obwohl sie nicht so gern Bier trank. David orderte das hausgebraute Bier, das dunkler und kräftiger war. Gemeinsam schlängelten sie sich zurück auf die Straße und gesellten sich zu ein paar anderen, die bei verschiedenen Banken hier im Viertel arbeiteten. Man kannte sich vom Sehen, prostete einander zu und verlor ein paar Worte über den prächtigen Spätsommertag, der gute Hoffnung für das Wochenende versprach. Kurz darauf schlossen sich ihnen noch Mason und William an, die ebenfalls bei der HSBC im Handel mit Optionen und anderen Wertpapierderivaten arbeiteten. Sie fachsimpelten ein wenig mit David und wechselten dann zu den Cricketergebnissen und zum Football. Lorena nippte an dem bitteren, fast schwarzen Gebräu und ließ den Blick über die Menschentraube um den Pub schweifen, die noch immer größer wurde. Die Swan Tavern lag ein wenig zurückversetzt von der lauten Hauptstraße in einem überdachten Durchgang, der hinüber zum Leadenhall Market führte, was den Vorteil hatte, dass man hier auch bei Regen mit seinem Bier draußen stehen konnte. In London ein nicht zu verachtender Punkt! Wenn das Wetter im Winter zu unwirtlich wurde, zogen die meisten allerdings in den geschützten Bereich des historischen Leadenhall Market um, der auch von Touristen geschätzt wurde – und von Anhängern der Harry-Potter-Filme.

Lorena betrachtete die Besucher des Pubs. Beinahe ausnahmslos Männer in dunklen Anzügen und Frauen in strengen Kostümen, die hier in der City ihre Arbeitswoche mit einem Bier beendeten, um dann nach Hause in die Vororte zu ihren Familien zu fahren. In ein oder zwei Stunden würde die City of London wie ausgestorben sein, bis auf die kleineren und größeren Gruppen von Touristen, die den ungewöhnlich schönen Spätsommerabend dazu nutzen würden, noch ein wenig durch das alte Stadtzentrum zu schweifen, das heute fest in der Hand der Börse, Banken und Versicherungen lag.

»Ich muss jetzt gehen«, hörte sie sich plötzlich sagen, obwohl sie ihr Bier noch nicht einmal zur Hälfte ausgetrunken hatte.

David unterbrach sein Gespräch mit den anderen, das inzwischen bei Pferderennen angekommen war, und wandte sich ihr zu. »Was, schon? Ach ja, du sagtest ja, du hättest noch was vor.«

Sie ignorierte seinen forschenden Blick und sagte stattdessen: »Ich wünsche euch ein schönes Wochenende.« Sie winkte zum Abschied und nickte Mason und William zu, die ihre Biergläser anhoben.

»Gleichfalls. Treib’s nicht zu bunt«, scherzte William, der so etwas wie der Spaßvogel der Abteilung war.

Lorena erwiderte seine Grimasse mit einem Lächeln und wandte sich ab. Mit langen Schritten, soweit der schmal geschnittene Rock und ihre Absätze es zuließen, ging sie die Straße entlang auf die hoch aufragende Säule zu, die an den großen Brand von 1666 erinnerte, der von hier aus innerhalb von vier Tagen fast die ganze Stadt vernichtet hatte. Ein paar asiatisch aussehende junge Mädchen machten sich daran, die mehr als dreihundert Stufen bis zur Aussichtsplattform zu erklimmen, während Lorena zur U-Bahn hinabstieg, um mit der Circle Line nach Hause zu fahren. Die heute veralteten Wagen der einst im neunzehnten Jahrhundert revolutionär modernen Londoner U-Bahn klapperten an der Themse entlang bis Westminster und dann in einem weiten Bogen über South Kensington nach Notting Hill. Lorena stieg am Notting Hill Gate an der nordwestlichen Ecke des Hydeparks aus und machte sich auf den Heimweg.

Früher war Notting Hill ein kaum beachtetes Viertel am Rande der Stadt gewesen, doch seit Julia Roberts und Hugh Grant hier im Film ihre Liebe gefunden hatten, kannte jeder Besucher Londons diesen Stadtteil zumindest dem Namen nach. Der Strom der Besucher, den der Film nach sich gezogen hatte, war dagegen schon wieder abgeflaut.

So zielstrebig Lorena in der City auch ausgeschritten war, nun verlangsamte sich ihr Schritt, und als sie die Portobello Road erreichte, ging sie an ihrer Tür vorbei. Was sollte sie jetzt schon in ihrer Wohnung? Vermutlich wartete nicht einmal ihr Kater auf sie. So schlenderte sie ziellos an der Reihe schmaler, bunt gestrichener Häuser entlang, die sich eins ans andere lehnten, blieb an den Auslagen der kleinen Schaufenster stehen, betrat den Teeladen, um sich ein wenig grünen Tee zu kaufen, und wechselte ein paar Worte mit der alten Dame, die den Laden seit über fünfzig Jahren betrieb.

Was nun?, dachte Lorena, als sie wieder auf der Straße stand. Es herrschte noch buntes Treiben. Ganz anders als in der City lebte hier ein Gemisch aus Menschen, deren Vorfahren aus der Karibik stammten, von alten Leuten mit ihren kleinen Kramläden im Erdgeschoss, von Künstlern und Studenten, aber auch von reichen Familien, die den säulengeschmückten Villen entlang der Hauptstraßen zu neuem Glanz verhalfen.

Lorena sog die Luft tief ein. So viele Gerüche mischten sich hier. Von irgendwoher erklang das Klagen eines Saxofons. Sie folgte dem Klang, hörte dem Alten, der auf einer Bank saß, eine Weile zu, und warf ihm dann ein paar Pence in seinen Hut. Er neigte den Kopf und lächelte ihr zu. Lorena erwiderte das Lächeln. Als sie den Blick hob, fiel er auf das Aushängeschild des Friseurladens, den es vielleicht schon fast so lange hier gab wie Madam Rutherfords Teashop. Allerdings hatte hier der Besitzer erst gewechselt und warb nun mit modernem Chic zu kleinen Preisen. Lorena strich an ihren dunkelblonden, glanzlosen Strähnen entlang. Sollte sie es versuchen? Eine neue Frisur? Ein wenig Farbe?

Wozu?, fragte eine resignierende Stimme in ihrem Kopf, die an diesem Tag jedoch von einer neuen, energischen übertönt wurde.

Ja, klar! Komm, trau dich. Du hast dich gegen Alice durchgesetzt, das ist ein Grund zu feiern!

Mit forscher Miene betrat sie den Friseurladen und begab sich in die Hände eines jungen Mannes, dessen Frisur sie von Schnitt und Farbe nur als abenteuerlich bezeichnen würde. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Mut nachher nicht bereuen musste.

»Lorena? Bist du es wirklich?«

Sie schreckte hoch und starrte in ein Gesicht, das ihr fremd und doch auch vertraut vorkam.

»Erkennst du mich nicht mehr?« Er klang fast ein wenig gekränkt.

Bilder schossen ihr durch den Kopf. Der Unfalltod ihres Vaters, der nie ganz geklärt worden war. Die Verzweiflung und die Leere, die sie erfasst hatten, und dann ihre Flucht nach England auf die Highschool. Die vielen unbekannten Gesichter voller Neugier, aber auch abweisend der Deutschen gegenüber, die für die letzten drei Schuljahre von Hamburg her zu ihnen über den Kanal gekommen war. Doch dann war da dieser Junge zwei Klassen über ihr gewesen, der ihr in der Mensa einen Platz an seinem Tisch angeboten hatte.

»Jason? Nein, das glaube ich jetzt nicht!«, rief Lorena und umarmte ihn spontan. Errötend ließ sie ihn wieder los und trat einen Schritt zurück, doch er schien nichts dabei zu finden. Er musterte sie eingehend, als wolle er jede noch so kleine Veränderung aufspüren, die der Fluss der Zeit in fast zehn Jahren bei ihr hinterlassen hatte. Auch Lorena suchte in dem Mann den Schuljungen, den sie vom ersten Tag an heimlich bewundert hatte.

Jason war groß. Sie hatte schon immer zu ihm aufsehen müssen, und noch immer hatte er die Figur eines Sportlers. Sein Haar war ein wenig dunkler als früher, und er trug es kürzer, was ihm gut stand. Seine Züge waren männlicher, die Konturen schärfer geworden. Seine Haut war leicht gebräunt, und er hatte sich schon ein paar Tage nicht mehr rasiert, was ihm einen verwegenen Touch verlieh. Ja, er sah einfach umwerfend aus!

Überraschenderweise schien auch er mit seiner Musterung zufrieden, denn er nickte und lächelte Lorena an, dass sie glaubte, weiche Knie zu bekommen. »Du siehst gut aus«, sagte er. »Schöne Haarfarbe, und auch der Schnitt steht dir.«

»Danke, ich war gerade beim Friseur«, verriet sie ihm und strich über ihr duftendes Haar, das ihr durch den vorn gestuften Schnitt und ein paar Tricks des Figaros locker und weich über die Schultern fiel. Ein paar blonde und rötliche Strähnchen verliehen ihm neuen Glanz.

»Und was machst du hier?«, bohrte er weiter.

Lorena lachte. »Ich wohne hier. Nicht weit, die Portobello Road runter, wo es samstags den berühmten Straßenmarkt für Secondhandkleider und Antiquitäten gibt.«

Jason grinste. »Ah, dann hat es dich also doch in die Künstlerszene verschlagen. Ich wusste es! Du warst beim Schultheater brillant. Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen. Hast du Zeit? Du musst mir alles erzählen!«

Lorena fühlte sich ein wenig überrumpelt, doch was konnte der Abend Schöneres bringen als ein Wiedersehen mit einem geliebten Schulfreund? Es gibt keinen Grund, so nervös zu sein, versuchte sie sich einzureden, während sie sich um ihre Achse drehte und dann auf ein kleines Café an der Ecke deutete, das mit seinen durchgesessenen Polstersitzen sicher ein wenig antiquiert daherkam. Doch der Kaffee war gut, und auch gegen die hausgemachten Kuchen war nichts einzuwenden.

»Der Apple Crumble ist lecker«, empfahl sie Jason, der sich gleich eine große Portion mit viel Sahne bestellte.

Lorena entschied sich für die Lemon-Curd-Baiser-Pie und aß erst einige Bissen, ehe sie ihm die Antwort gab, die sie bis dahin bewusst hinausgezögert hatte, doch Jason war keiner, der lockerließ.

Er wartete, bis sie die Gabel niederlegte, dann drängte er noch einmal: »Nun erzähl schon. Was hast du alles gemacht, nachdem wir uns bei deiner Abschlussfeier das letzte Mal gesehen haben.«

»Nichts Aufregendes«, gab sie zurück und seufzte. »Ich habe mich auf der London Metropolitan University für International Banking and Finance eingeschrieben und dort meinen Master gemacht. Und seit drei Jahren arbeite ich bei der HSBC im Handel – Optionen und verschiedene Derivate. Nichts Aufregendes«, fügte sie noch einmal hinzu, und es tat ihr fast weh, erst sein Erstaunen und dann die Enttäuschung in seinem Blick zu sehen. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Immerhin lag ein Lächeln auf seiner Miene, als er von seinem Apple Crumble aufsah.

»Wow, das hätte ich nicht erwartet. Aber es stimmt schon, du warst in Mathe immer unser kleines Genie. Dann gehörst du jetzt also zu den bösen Bankern, die den kleinen Leuten wertlose Zertifikate andrehen, um sie um ihre Ersparnisse zu bringen!«

Er zwinkerte bei seinen Worten, dennoch brauste Lorena auf. »Nein! Ich habe nicht mit Privatkunden zu tun. Meine Kunden sind große Unternehmen, die genau wissen, worauf sie sich einlassen.«

»Sodass du jede Nacht mit ruhigem Gewissen schlafen kannst«, fügte er mit übertriebenem Ernst hinzu, doch seine Augen funkelten.

»Genau«, log Lorena.

Wenn sie eines nicht konnte, dann ruhig schlafen, aber das hatte nichts mit der Bank oder den Wertpapieren zu tun.

»Und du? Was machst du? Was führt dich nach Notting Hill?«, gab sie die Frage zurück, um von sich abzulenken.

»Ich bin nach Schottland gegangen, nach Edinburgh, um Musik zu studieren.«

Lorena vergaß ihre Pie. »Du hast es wirklich wahr gemacht? Schon damals in der Schule hast du herrlich Klavier gespielt, aber du hast immer behauptet, Musik sei eine brotlose Kunst.«

Jason lachte und hob dabei die Schultern. »Das wird sich zeigen. Im Moment geht es ganz gut. Ich habe mich auf das Cello konzentriert und seit ein paar Wochen ein Engagement bei einem Orchester. Klavier spiele ich nur noch nebenher, meist wenn ich Schüler unterrichte. Und wenn ich von der klassischen Musik genug habe, hole ich das Saxofon hervor.« Er schmunzelte ein wenig spitzbübisch. »Meine Erholung heißt Jazz.«

»Eine anspruchsvolle Erholung«, meinte Lorena.

Jason bestellte eine zweite Runde Kaffee und schob den letzten Löffel Apple Crumble in den Mund. Mit einem Seufzer lehnte er sich in seinem schon ein wenig abgeschabten Sessel zurück. »Mich erfüllt es, und ein wenig Geld bekomme ich meistens auch für diese zusätzlichen Auftritte, es sei denn, ich treffe mich nur mit ein paar Freunden in einer Jazzkneipe, um ein wenig zu improvisieren. Aber dann sind zumindest die Getränke umsonst.« Er grinste so entwaffnend, dass auch Lorena ihn warm anlächelte.

»Du wirkst jedenfalls glücklich mit deiner Entscheidung«, stellte sie fest.

Jason nickte. »Ja, das bin ich, und seit ich das Engagement beim Orchester habe, sind auch meine Eltern wieder ein wenig versöhnt. Jetzt kann ich mir endlich ohne Unterstützung meine Wohnung und ein Auto leisten und muss keinem mehr auf der Tasche liegen. Ein Problem, das du sicher schon lange nicht mehr kennst. Ich vermute, bei deinem Job verdienst du richtig gut.«

Lorena zuckte mit den Schultern. »Ja, das stimmt, aber irgendwie ist es mir nicht wichtig. Ich habe hier meine Wohnung und meine Katze, und das genügt mir.«

Jason sah auf die Uhr. »Ich muss weiter. Ich bin mit ein paar Kumpels verabredet. Wir wollen die Stücke durchgehen, die wir morgen spielen. Ach ja, wenn du noch nichts vorhast und gerne kommen möchtest: Wir spielen morgen ab neun in der Mau Mau Bar.«

Lorena hob die Augenbrauen. »Das ist ja nur die Straße runter. Ja, natürlich komme ich!«

Er hauchte ihr zum Abschied zwei Küsse auf die Wangen und ging davon.

Lorena sah ihm hinterher und fühlte, wie ihr Herz aufgeregt pochte. »Sei still«, befahl sie und zwang ihre Schritte in die entgegengesetzte Richtung. »Es gibt überhaupt keinen Grund für diesen Aufruhr. Nur ein ehemaliger Schulfreund, der ein wenig von alten Zeiten plaudern will.«

Doch ihr Herz wollte sich nicht beruhigen und fand Unterstützung in wilden Fantasien, die in ihr aufstiegen und sie bis zu ihrer Haustür mit warmen Gedanken erfüllten.

»Jetzt ist aber Schluss!«, mahnte sie sich zur Ordnung, als eine Bewegung in den Augenwinkeln sie von ihrem freudig pochenden Herzen ablenkte. Es war schon dunkel, aber nicht so spät, als dass nicht noch einige Passanten unterwegs gewesen wären. Lorena hielt inne und sah sich um, doch keiner der Leute schien ihre Aufmerksamkeit erregt und sie aus ihren Gedanken gerissen zu haben. Sie kamen von der Arbeit oder hatten die letzten Einkäufe erledigt und strebten nun ihren Wohnungen zu, in Gedanken vielleicht noch bei ihrem Arbeitstag oder schon beim Abendessen.

Lorena schüttelte den Kopf und ging weiter, doch sie war kaum ein Dutzend Schritte gegangen, als sie wieder diesen Schatten bemerkte. Etwas wie ein intensiver Blick brannte in ihrem Rücken. Wieder blieb sie stehen und wandte sich um. Sie sah die Straße entlang. Einer dieser Passanten hier musste sie so fixiert haben, dass sie den Blick körperlich hatte spüren können. Doch keiner schaute in ihre Richtung oder schenkte ihr sonst irgendwie Beachtung. Sie sah nur einen Mann, der wie versteinert mitten in der Bewegung innegehalten hatte und verträumt ins Leere starrte. Eine Frau trat aus einem kleinen Laden und sprach ihn an, doch er reagierte nicht. Es sah immer noch so aus, als habe er gerade einen Geist gesehen. Lorena lächelte ein wenig mitleidig, als die Frau ihn am Arm packte und schüttelte. Langsam kehrte sein Blick aus der Ferne zurück, und es schien ihm schwerzufallen, auch seine Gedanken auf die Frau vor sich zu lenken. Lorena konnte an ihrer Miene sehen, dass sie ihn gehörig auszankte, dann ergriff sie seinen Arm und zog ihn mit sich auf die andere Straßenseite. Wie ein Schlafwandler tappte er hinter ihr her.

Lorena setzte ihren Heimweg fort und hatte den Schatten und den Mann bereits vergessen, als sie hinter dem kleinen Antiquitätenladen die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Maunzend kam ihr Finley entgegen und forderte eine Portion Katzenfutter und seine Schüssel Milch ein.

»Du sollst nicht so viel Milch trinken. Du weißt, das bekommt dir nicht«, mahnte Lorena, als sich der schwarz-weiß gefleckte Kater wie üblich durstig auf die Schüssel stürzte.

Sie streichelte ihm über den Rücken, was er mit einem Schnurren quittierte, und schalt sich selbst, dass sie so nachgiebig war. Es war ihre Aufgabe, auf seine Gesundheit zu achten. Der Kater forderte nur ein, was ihm schmeckte.

Lorena seufzte und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Warum war es nur so schwer, konsequent zu sein?

Lorena schlug die Abendzeitung auf, die ihr Vermieter Mr. Gordon wie üblich auf die Treppe gelegt hatte, und las den Aufmacher der lokalen Nachrichten, um nicht schon wieder an Jason zu denken.

Mysteriöser Selbstmord in der City, lautete die Überschrift. Solche Geschichten interessierten sie nicht sonderlich, dennoch las sie weiter. Das war nicht weit entfernt von dem Gebäude passiert, in dem sie arbeitete.

Ein Mann, Angestellter bei einem großen Architekturbüro, war gestern um Mitternacht vom Dach eines Hochhauses gesprungen. Seine Kollegen sagten aus, ihr Chef hätte kurzfristig Überstunden anberaumt. Das Opfer und seine drei Kollegen hätten Pläne überarbeiten sollen. Kurz vor Mitternacht sei eine der Kolleginnen hinausgegangen, um eine Pause zu machen. Das Opfer habe ebenfalls das Büro verlassen und sich nur wenige Minuten später vom Dach einunddreißig Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Lorena wollte sich nicht vorstellen, was nach diesem Aufprall von seinem Körper übrig geblieben war. Die Rettungskräfte beneidete sie nicht um ihren Einsatz.

Anders als der Schreiber des Artikels fragte sie sich, was geschehen sein konnte, das den Mann so unvermittelt in den Tod getrieben hatte. War es ein Unfall gewesen? Oder vielleicht gar Mord? War er vielleicht in seine Kollegin verliebt gewesen und ihr gefolgt? Hatte er sich mit ihr auf dem Dach getroffen und sich mit ihr gestritten? Hatte sie seine Annäherungen abgelehnt und er sich daraufhin in Verzweiflung vom Dach gestürzt? Oder hatte sie ihn gestoßen?

Seltsam, dass die Zeitung nur von Selbstmord sprach. Einen Abschiedsbrief konnten sie ja kaum gefunden haben, wenn sie von einer spontanen Tat im Affekt ausgingen.

Irgendetwas stieß Lorena sauer auf. Das passte nicht zusammen. Es kam ihr gar so vor, als solle von vornherein jeder Zweifel ausgeschlossen werden. Es war Selbstmord und Ende. Keine weiteren Fragen, keine Untersuchungen. Selbst wenn jemand Interesse daran hatte, den Fall damit abzuschließen und in Vergessenheit geraten zu lassen, seit wann ließen sich die Zeitungen auf so etwas ein? War es nicht ihre Aufgabe, den Finger in die Wunde zu legen?

Ein Polizeisprecher wurde zitiert, der sagte, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass sich eine weitere Person auf dem Dach befunden habe, und da man im Blut des Opfers weder Alkohol noch Drogen gefunden habe, gehe man von einer Selbsttötung im Affekt aus.

Lorena schob die Zeitung beiseite und lauschte dem Gefühl der Unzufriedenheit, das sich in ihr ausbreitete. Sie kannte das bereits. Wenn ihr »Bauch« mit ihr sprach, nützte es nichts, ihn zu ignorieren. Diese Unruhe würde sie so lange quälen, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war. Schon zog sie ihren Laptop heraus, schaltete ihn an und begab sich auf die Suche, was im Internet über den Fall zu finden war.

In den meisten Artikeln stand nichts Neues, doch dann fand sie die Zeugenaussage eines Mitarbeiters, der berichtete, das Opfer sei seiner Kollegin, die vor ihm in die Pause gegangen war, fast vor die Füße gefallen, sodass sie einen Schock erlitten habe. Das bedeutete natürlich, dass sie nicht mit ihm auf dem Dach gewesen sein und noch weniger ihn gestoßen haben konnte. Das unterstützte zwar die Selbstmordtheorie, dennoch war Lorena mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Sie konnte nicht sagen, was ihr dabei noch immer übel aufstieß. Sie suchte nach einer Aussage der Kollegin, doch sie selbst hatte sich gegenüber den Reportern offensichtlich nicht zu Wort gemeldet. Ihre Aussage wurde lediglich von anderen zitiert.

Weil sie einen Schock erlitten hatte? Lorena fragte sich, ob die Polizei sie dennoch vernommen hatte. Vermutlich.

Lorena durchforstete das Internet nach Fotos und betrachtete die mehr oder weniger unscharfen Amateuraufnahmen mit einem wachsenden Gefühl der Unruhe. Was war es, das sie dabei übersah?

Mit einem Maunzen sprang Finley ihr auf den Schoß. Der Kater drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ sich dann mit einem Seufzer der Zufriedenheit nieder. Er schloss die Augen und begann, sich genießerisch die Pfoten zu lecken.

Lorena hielt inne und klappte dann den Laptop mit einer energischen Bewegung zu.

»Was tue ich hier eigentlich?«, fragte sie sich laut.

Der Kater maunzte, so als habe sie von ihm eine Antwort verlangt.

Lorena schmunzelte. »Du meinst, ich solle meine Finger lieber in dein Fell versenken und dich ordentlich kraulen, nachdem ich dich den ganzen Tag allein gelassen habe?«

Wieder maunzte er, als wolle er ihr zustimmen.

»Na dann, aber nur wenn du mir erzählst, was du den ganzen Tag getrieben hast«, sagte sie, während sie dem Kater zärtlich das Fell zauste.

Finley schnurrte leise und drückte sich noch enger an sie.

»Sicher war dein Tag spannender als meiner«, fuhr sie mit ihren Selbstgesprächen fort. »Du bist durch die Hinterhöfe geschlichen, hast den Spatzen aufgelauert und vielleicht gar die eine oder andere Maus erbeutet?«

Sein Schnurren wurde lauter.

Lorena seufzte. »Weißt du, Finley, manches Mal wünschte ich mir, mein Leben wäre so einfach wie deines. Du musst dir keine Gedanken über deine Zukunft machen, und noch weniger quält dich deine Vergangenheit. Vermutlich weißt du nicht einmal, was Albträume sind. Du lebst einfach so in den Tag hinein und weißt, dass ich jeden Abend nach Hause komme und deine Schüsseln fülle.«

Der Kater sah sie mit seinen grünen Augen aufmerksam an, dann rekelte er sich und gähnte herzhaft. Das Thema war für ihn offensichtlich erledigt.

Nachtmahr – Das Erwachen der Königin

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