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KAPITEL 2

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Die Beine verschränkt, saß die junge Frau auf ihrem Strohlager. Das Licht war schon seit Stunden erloschen, und sie hatte weder Feuerstein noch Zunder, um es wieder zu entzünden. Der Knabe war an ihrer Brust eingeschlafen. Wenn sie die Luft anhielt, konnte sie sein leises Atmen hören. Sie fühlte den Herzschlag des kleinen Wesens an ihrer Haut und sog den betörenden Duft ein. Noch nicht einmal zwei Wochen war es her, dass der Knabe das Licht der Welt erblickt hatte, doch es kam ihr vor, als wäre er schon immer ein Teil von ihr gewesen.

»Johannes«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Ich werde dich auf den Namen Johannes taufen lassen, irgendwann, wenn wir zu leben beginnen. Ich weiß nicht, ob das deinem Vater recht sein wird, aber wie soll ich ihn fragen, wenn ich nicht einmal weiß, wo auf der Welt er sich gerade herumtreibt.« Mara seufzte. »Er weiß ja nicht einmal, dass es dich gibt, mein Kind.«

Langsam begann sie, sich vor und zurück zu bewegen, und summte eine leise Melodie. »Er würde sich freuen«, sagte sie zu dem schlafenden Knaben. »Wenn wir ihn wieder finden, dann wird er dich in seine Arme schließen und stolz auf dich herabblicken, weil du sein Sohn bist, sein Fleisch und Blut. Vielleicht wird er dich in der Luft herumwirbeln, aber auf alle Fälle wird er sich freuen«, sagte sie mit Nachdruck, um die Zweifel in die Tiefen ihres Geistes zurückzustoßen. Sie wollte lieber an die kurze Zeit ihrer stürmischen Liebe denken.

»Warum nur konnte ich mein Herz nicht an einen Bauern verlieren oder an einen Handwerker«, flüsterte sie. »Mit einem Haus, in dem stets ein wärmendes Feuer brennt, einer richtigen Küche und einem gefüllten Keller.« Sie spürte, dass sie Hunger hatte, und ließ ihre Finger tastend über das Stroh wandern, bis sie auf eine hölzerne Schale stießen. Sie aß ein Stück Brot und ein wenig Käse, legte die Reste aber nach ein paar Bissen zur Seite. Sie hatte einfach keinen Appetit.

Draußen erklang das Lied des Nachtwächters. Es war bereits eine Stunde nach Mitternacht, und dennoch legte sich Mara immer noch nicht zum Schlafen nieder. Wozu sollte sie jetzt schlafen, wenn sie es zu jeder anderen Stunde auch tun konnte? Es gab keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Es gab nur das eintönige Warten darauf, dass endlich etwas geschah.

Ich werde ersticken, dachte sie. Mit jedem Tag, der in der Finsternis vergeht, fällt mir das Atmen schwerer, und irgendwann wird die Last mich niederdrücken.

Mara schloss die Augen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Sonne sich auf ihrem Gesicht anfühlte, oder der Nachtwind und das sanfte Mondlicht. Vermutlich hatte sie in ihrem Leben mehr Tage und Nächte im Freien zugebracht, denn in einer Kammer unter einem festen Dach. Wie oft hatte sie das ruhelose Leben verflucht, wenn sie in klammen Kleidern im Regen unter einem Baum Zuflucht suchte oder im Winter die Finger und Zehen vor Kälte nicht mehr spüren konnte. Jetzt erschien ihr das frühere Leben so köstlich wie das Paradies.

»Einfältige Närrin«, schimpfte sie sich selbst. »Du musst nicht erfrieren und nicht hungern. Du hast ein Dach über dem Kopf, während es draußen schneit, und du musst nicht mit dem Kleinen über die eisige Straße ziehen. Sei dankbar und jammere nicht!«


Am nächsten Tag ging es Barbara schon viel besser, so dass Anne Katharina einwilligte, sie in Agnes’ Obhut zurückzulassen, während sich die Familie zur heiligen Messe von Pfarrer Eisenmenger begab und anschließend der Predigt von Magister Brenz lauschte.

Heute trug der Pfarrer statt seines üblichen farbenprächtigen Ornats nur eine einfache Soutane, so wie auch der Prediger sich gewöhnlich nur in Schwarz kleidete. Während der Messe wandte er sich immer wieder den Gläubigen in ihren Kirchenbänken zu und wiederholte einige Passagen, nachdem er sie auf Lateinisch gesprochen hatte, in Deutsch. Anne Katharina kam es so vor, als würde der Messe jede Woche ein winziges papistisches Teil genommen. Kaum merklich vollzog sich der Wandel, so dass man irgendwann, ganz plötzlich, voller Erstaunen feststellen würde, dass nichts mehr von dem römischen Götzendienst geblieben war. Oder würde es doch noch Widerstand geben? Anne Katharina sah Michel unwillig die Stirn runzeln, als er die deutschen Worte des Priesters vernahm. Auf dem Marktplatz hatte die Ratsherrngattin erst vor kurzem mit angehört, wie ein Kaufmann berichtete, in einigen lutherisch gesinnten Gemeinden würde beim Abendmahl Brot und Wein mit den Gläubigen geteilt. Anne Katharina schüttelte ungläubig den Kopf. Wenn Pfarrer Eisenmenger das wagen würde, dann gäbe es ein Aufschrei der Altgläubigen! Vielleicht würde sich gar eine Mehrheit im Rat finden, die Lutherischen aus der Stadt zu treiben.

Johannes Brenz trat aus der Sakristei. In seinem langen, schwarzen Rock, eine Schaube mit Pelz verbrämt um seine Schultern, schritt er bedächtig auf den Altar zu, sammelte sich zu einem stillen Gebet und wandte sich dann dem mit Bürgern und Hausleuten gefüllten Kirchenschiff zu. Seine Kleidung und sein Gebaren, die einem alten Richter zur Ehre gereicht hätten, standen in deutlichem Gegensatz zu dem glatt rasierten, jungen Gesicht mit den wachsamen Augen. Johannes Brenz war gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt, und dennoch lag seine Magisterprüfung bereits sieben Jahre zurück, und er war schon im dritten Jahr Prediger zu Hall.

Er ist ein weitsichtiger Mann, dachte die Bürgerin auf der Kirchenbank der Seyboths und der Feyerabends, vorne in dem hallenartigen Kirchenschiff. Er weiß, dass er mit den alten Herren behutsam umgehen muss, wenn er ihnen seine Lehre nahe bringen will. Sie sind nicht wie die Jungen, die begeistert jede Neuigkeit in sich aufsaugen und zu jedem Wanderprediger vor die Stadt hinauslaufen, um seinen aufrührerischen Reden zu lauschen. Sie wollen sacht in die neue Zeit geführt werden.

Der Prediger legte seine Fingerspitzen aneinander und ließ den Blick über die Köpfe hinwegschweifen. Bei einer auffällig geschmückten Haube, deren goldener Flitter im Kerzenlicht schimmerte, blieben seine Augen für einige Momente hängen, seine Mundwinkel zuckten, dann schweifte der Blick weiter.

»Johannes zwanzig soll uns heute zum Nachdenken anregen«, sagte er, und es schien, als würde er jeden Einzelnen genau ansehen. »Nehmet hin den Heiligen Geist, und Matthäus sechzehn: Ich will dir geben die Schlüssel des Himmelreichs.«

Er ließ die Worte durch das Hallenschiff klingen. Gespannte Ruhe senkte sich herab. Er sprach leise, doch mit fester, klarer Stimme, die mühelos bis in die letzten Reihen vordrang. Dann plötzlich wurde seine Stimme scharf. Einige Köpfe ruckten hoch.

»Das ist der rechte, wahre Schlüssel, durch welchen der Himmel beschlossen oder geöffnet wird, nämlich der Heilige Geist. Nicht das Papsttum, nicht das Bistum oder große Pfründe oder Herrlichkeit, sondern der Geist der Wahrheit. Denn er sagt ja nicht: Nehmet hin das Papsttum, nehmet hin das Bistum, sondern nehmet hin den Heiligen Geist.« Einige Köpfe beugten sich zu ihren Nachbarn, ein Tuscheln schwebte durch den Raum, als die Stimme des Predigers wieder leiser wurde.

»Auch hat Christus darum geboren werden wollen in Bethlehem, einem unachtbaren Flecken, damit er so beweise, seine Kirche sei unansehnlich. Seine Kirche ist nicht da, wo Gepränge ist!« Die Stimme schwoll wieder an. »Kein Mensch, sei er nun Papst oder Bischof, kann das Haupt der Kirche oder Stellvertreter Christi sein, weil Christus nicht von uns gewichen ist. Sein Geist wohnt in uns. Ja, er sagt: Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, sprich auf den starken Glauben an Christus, nicht auf einen Papst oder Bischof! Das wäre fürwahr ein strohenes Fundament, wenn er auf St. Peter gebaut hätte, der sich von einer Frauenperson hat umstoßen lassen und dann Christus verleugnet hat! Dass aber der Fels Christus sei, das wird mannigfaltig bewiesen.«

Anne Katharina studierte aufmerksam die Gesichter der Haller Obrigkeit. Auf manchen war Zustimmung zu lesen, andere Lippen waren ablehnend zusammengekniffen.

Als die Glocken zu läuten begannen und sich die Bürger erhoben, um die lange Freitreppe zum Markt hinunterzuschreiten, schwirrten nicht nur Gesprächsfetzen über die Predigt an Anne Katharinas Ohr, wichtiger noch waren die neuesten Nachrichten von einem erneuten Zusammenstoß zwischen Siederburschen und Knechten des Schenken und ein paar bisher ungesehene, modische Neuerungen um die Schultern oder auf den Köpfen einiger Damen. Die alte Seybothin zischte missbilligend, als sie Anna Büschler mit ihrem extravaganten Kopfschmuck entdeckte. Sie ließ ihre Kirchenbanknachbarin, bei der sie sich untergehakt hatte, ihre scharfe Kritik hören. Anne Katharina unterdrückte ein Kichern. Es waren genau die Worte, die sie Anna am vorherigen Tag prophezeit hatte, als diese mit dem skandalträchtigen Kopfschmuck in ihrem Korb den Laden des Hutmachers verlassen hatte. Die Ratsherrnfrau beugte den Kopf, um ihre Belustigung zu verbergen, während sie zwischen Ehegatte und Schwiegermutter den Heimweg in die Keckengasse antrat. Sie sah erst wieder auf, als die Kinder, die einige Schritte voraus waren, einen Freudenschrei ausstießen. Als Erstes konnte Anne Katharina nur einen ausladenden Schlapphut mit Federschmuck erkennen, vielfarbige Pluderhosen und einen ebenso bunten Rock, an den sich ihre beiden Kinder klammerten. Dann hob der modisch ausgestattete Mann den Kopf und grinste sie an. Zwei braune Augen, die den ihren überaus ähnlich sahen, zwinkerten ihr zu.

»Peter!« Die Ratsherrnfrau strahlte und beschleunigte ihren Schritt.

»Wenn du dich jetzt auch noch an mich klammerst, dann ist es um mich geschehen, und ich lande hier im Straßenschmutz. Ich warne dich, diese Hosen und der Rock haben mich ein Vermögen gekostet!«

Anne Katharina blieb kurz vor ihrem Bruder stehen und griff nach seinen Händen. »Peter«, sagte sie noch einmal voll Wärme, »wie schön, dich zu sehen.«

Peter Vogelmann wehrte seinen Neffen und seine Nichte ab und küsste dann, als die Kinder wieder sicher auf der Gasse standen, herzhaft die dargebotene Wange.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Einen neckischen Federschmuck trägst du da auf deinem Barett.«

»Danke, danke, dein Kopfschmuck ist auch nicht gerade unauffällig zu nennen!« Sie lächelten einander an. Peter zog den Hut, beschrieb mit ihm einen weiten Kreis, verbeugte sich tief und stülpte ihn sich wieder auf den Kopf.

»Ihr seid zwar älter an Jahren geworden und dürft Euch nun Advokat nennen, wie ich gehört habe, aber Eure Höflichkeit lässt noch immer zu wünschen übrig, Peter Vogelmann!«, unterbrach Mathilde die Plänkelei der beiden Geschwister. Noch einmal riss Peter den Hut vom Kopf und begrüßte artig die Seybothin, ehe er die Hand des Freundes ergriff.

»Michel, wie gut tut es, dich zu sehen. Wie viele Jahre ist es her, dass wir hier zusammen durch die Gassen zogen?«

»Und voller Trunkenheit durch euren Gesang die Bürger aus dem Schlaf gerissen«, fügte Anne Katharina hinzu. Die beiden Männer blickten sie abweisend, die Kinder voller Neugier an.

»Kennt ihr schon die Geschichte, als euer Vater und euer Oheim Peter in den Gerberturm geworfen wurden?«, fragte sie Bernhard und Veronica, ohne auf den Protest der Männer zu achten.

Die Augen des Knaben leuchteten. »Erzähle!«

»Statt dem Jungen alte Geschichten aufzuwärmen, könntest du dich an deine Gastgeberpflichten erinnern und mich zu Wein und einem kräftigen Mahl hereinbitten!«, unterbrach Peter seine Schwester, doch seine Augen blitzten. Vermutlich wollte er seine nicht ganz so rühmlichen Heldentaten lieber selbst zum Besten geben.

Michel trat vor, stieß die Haustür auf und ließ den Freund aus Jugendtagen eintreten. Er scheuchte Agnes in die Küche, um ein angemessenes Mahl zuzubereiten.

»Was schleppst du denn da alles mit dir herum?«, fragte Anne Katharina und deutete auf die offensichtlich schweren Bündel, die ihr Bruder in die Halle schleifte und dort am Fuß der Treppe liegen ließ.

»Das sind meine Habseligkeiten. Ich musste ja aus der Burse der Universität ausziehen.«

Seine Schwester raffte ihre Röcke und stieg hinter ihm die Treppe zur Stube hinauf. »Kommst du direkt aus Heidelberg? Warst du noch nicht bei Ulrich daheim?«

Peter brummte etwas Unverständliches, trat in die Stube und ließ sich breitbeinig auf der Eckbank nieder. Michel selbst holte einen großen Krug vom besten Moselwein aus dem Keller und schenkte dem Freund ein. Drei Jahre war Peter nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen, und da er kein eifriger Briefeschreiber war, konnte es Anne Katharina kaum erwarten, ihn über sein Leben, so weit weg von daheim, zu befragen. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Zuerst forderte ihr Gatte die Gesellschaft des alten Freundes und schickte sein Weib in die Küche hinunter, um Agnes mit dem Essen zur Hand zu gehen. Anne Katharina verspürte den Wunsch, mit dem Fuß aufzustampfen. Sie wollte jedes Wort hören, das Peter von der ihr fremden Welt zu berichten hatte, und nicht wie eine Magd in die Küche verbannt werden! Sie schoss wütende Blicke in Michels Richtung, die der jedoch nicht einmal zu bemerken schien. Dafür sah ihr Bruder das auflodernde Feuer. Er lachte und griff nach ihrer Hand.

»Dass er noch immer wagt, deinen Zorn herauszufordern, liebes Schwesterherz. So viele Jahre an deiner Seite, und dennoch sieht er prächtig aus, muss ich sagen. Ich fürchte, du hast deinen Meister gefunden.«

Anne Katharina befreite ihre Hand und stürmte zur Tür. »Ja, den Meister im Weghören, im Verdrängen und Weglaufen«, sagte sie leise, so dass die Männer es nicht hören konnten, und sie hasste sich selbst dafür.

Eine Stunde später saß sie mit ihren beiden älteren Kindern und den Männern an einem fürstlich beladenen Tisch. Die Seybothin wollte bei Barbara bleiben und ließ sich von der Magd ein leichtes Mahl nach oben bringen.

Peter griff nach einer kräftig angebratenen Fleischscheibe. Seine Zähne gruben sich in den Braten, dass ihm das Fett über das Kinn lief und auf den Tisch tropfte. Michel presste die Lippen zusammen und schien Peters Blick zu meiden. Wortlos begann auch er, Fleisch und Brot zu essen. Anne Katharina füllte den Kindern ihre Schalen mit Gemüse, schnitt jedem eine Scheibe Brot ab und legte ein Stück Fleisch darauf. Verwirrt sah sie von Peter zu ihrem Ehemann. Über was die beiden wohl gestritten hatten? Was konnte, nachdem sie sich so lange Zeit nicht gesehen hatten, so schnell ihre Harmonie trüben? Anne Katharina schob sich zwei Löffel mit Kohl und Bohnen in den Mund. Die Kinder rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her. Auch sie spürten die ungute Stimmung, die schwer im Raum lastete.

»Hast du Ulrich schon gesehen?«, fragte Anne Katharina schließlich, nur um die drückende Stille zu brechen.

Peter nickte. »Ja, ich habe ihn und sein liebliches Eheweib aufgesucht.«

Seine Schwester unterdrückte ein Kichern. Lieblich war eines der Wörter, das auf die schwergewichtige Frau mit dem kantigen Gesicht und den dichten Augenbrauen nicht passte. Ihre beiden Mädchen schienen ihr leider nachzugeraten und würden wohl nicht zu Schönheiten heranwachsen. Joseph jedoch, der Sohn von Ulrich und seiner zweiten Frau, hatte das üppig braune Haar der Vogelmanns geerbt, die gerade Nase und die großen, dunklen Augen.

Peter biss noch ein Stück Fleisch ab, ehe er mit vollem Mund fortfuhr. »Die Gastfreundschaft in seinem Haus hat in den Jahren gelitten, seit ich das letzte Mal dort abstieg, und auch der verehrte Ulrich kommt mir verkniffener vor, als ich ihn in Erinnerung hatte.«

Er zog eine Grimasse. »Bei drei solch hübschen Weibern im Haus ist das vielleicht kein Wunder.«

Anne Katharina brauchte einige Augenblicke, ihre zuckenden Mundwinkel unter Kontrolle zu bekommen. »Dafür wächst Joseph zu einem hübschen Jungen heran.«

»Ja«, nickte ihr Bruder und wischte sich mit seinem Mundtuch das Fett vom Kinn. »Er wird von Ulrich und den Weibern ja geradezu vergöttert – im Gegensatz zu dem armen David!« Seine Miene verfinsterte sich. »Er lässt ihn mit jedem Wort spüren, dass er nicht sein Sohn ist und dass er Ursula ihren Verrat niemals verzeihen wird.«

Seine Schwester nickte betrübt. »Der arme Junge. Er hat es nicht leicht. Ich würde ihn bei uns aufnehmen, aber weder Ulrich noch Michel wollen etwas davon wissen. Dabei haben wir eine freie Kammer!«

Sie funkelte ihren Gatten an. Der aber hatte den Blick auf seine Schale gesenkt und löffelte noch immer schweigend. Peter trank seinen Becher Wein leer, rülpste und hielt seiner Schwester auffordernd das Zinngefäß entgegen.

»Wenn du gerade von leeren Kammern sprichst, fällt mir ein, ich habe noch keine Bleibe.« Michel stieß einen undefinierbaren Laut aus.

»Könnte ich nicht bei euch wohnen, bis ich weiß, wo ich mich niederlassen möchte, und genug Batzen für einen eigenen Wohnsitz verdient habe?« Er sah wie ein Hund aus großen, braunen Augen zu ihr herüber. »Und sage nun nicht, ich könne doch zurück in unser Elternhaus. Mit Ulrichs Weibern halte ich es keinen Tag unter einem Dach aus, und mit Ulrich selbst bin ich spätestens am zweiten Tag ebenfalls über Kreuz!«

Anne Katharina lächelte ihren Bruder warm an. »Natürlich würde ich mich freuen, wenn du hier Quartier nimmst. Du kannst so lange bleiben, wie du willst …«

Die schneidende Stimme ihres Gatten unterbrach sie. »Ich wusste nicht, dass hier inzwischen die Weiber das Regiment führen! Ich bin der Hausherr, und ich entscheide, wer zu meinem Haus gehört. Willst du deinem Bruder etwa die Kammer neben meiner Mutter geben?«

Anne Katharina sackte ein wenig zusammen. Das Lächeln verblasste. »Nein, das geht natürlich nicht.« Sie seufzte. »Peter, wie gerne würde ich dir helfen, aber es wäre ansonsten nur noch eine Gesindekammer unten neben der Halle frei.«

Der junge Advokat grinste, sprang vom Tisch auf und umarmte seine Schwester. »Ich danke euch für euer Angebot. Meine Sachen liegen schon unten. Ich gehe runter, um meine Kammer zu beziehen. Ist Agnes in der Küche? Bemüh dich nicht. Ich kann ihr selbst sagen, dass sie mir mein Bett richten soll.« Er nickte Michel noch einmal zu, der ihn mit großen Augen anstarrte, und eilte hinaus.

Das Ehepaar sah sich einige Augenblicke schweigend an und lauschte den polternden Schritten auf der Treppe und Peters fröhlicher Stimme, die nach der Magd rief. Dann brach Anne Katharina in Gelächter aus.

»Nun hat er uns einfach niedergeritten! Peter wusste schon immer, wie er seinen Kopf durchsetzen kann.«

Michel schüttelte ungläubig den Kopf. »Dass du darüber auch noch lachen kannst. Er hat mich nicht um meine Erlaubnis gefragt!«

»Ach, Michel, ist er nicht seit deinen Kindertagen dein Freund?«

Sie beugte sich vor und griff nach der Hand des Gatten. »Willst du ihm wirklich deine Gastfreundschaft versagen?«

Michel zog seine Hand zurück. »Ja, er war immer mein Freund, doch die Fremde hat ihn verändert und seinen klaren Geist verwirrt. Ich weiß nicht, ob ich solche Gedanken unter meinem Dach dulden kann.«

Anne Katharina starrte ihn verwirrt an. »Was hat er denn gesagt?«

»Darüber werde ich nicht mit dir reden! Was für Verheerungen können in einem Weiberkopf angerichtet werden, wenn gar ehemals aufrichtige Männer verwirrt wurden!«

Nachdenklich kaute die Ratsherrngattin auf ihrer Unterlippe. Sie wusste, dass es sinnlos war, weiter in ihn zu dringen. Er würde stur bleiben. Aber er würde ja nicht immer zu Hause sein, und so nahm sie sich vor, die erste sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um bei Peter selbst ein wenig nach den Gedanken zu forschen, die ihren Gatten so erzürnt oder gar erschreckt hatten.

Anne Katharina erlaubte Veronica und Bernhard, bis zum Einbruch der Dämmerung mit ihren Kameraden auf der Gasse zu spielen. Sie selbst stieg die Treppe hinauf und setzte sich mit einer Handarbeit ans Bett ihrer jüngsten Tochter, der es von Stunde zu Stunde besser ging, so dass es der strengen Stimme der Seybothin bedurfte, das Kind dennoch auf seinem Lager zu halten. Anne Katharina sang ihr kleine Reime vor und erzählte ihr die Geschichte der Feen, die am Ufer des Kochers in einer alten Weide hausten. Mathilde schüttelte missbilligend den Kopf und empfahl, dem Kind lieber aus dem Leben der großen Heiligen zu berichten, statt den kleinen Kopf mit allerlei Magie und Unsinn zu belasten. Schließlich faltete die Alte ihre Stickarbeit zusammen und verkündete, sie wolle noch einmal nach St. Michael gehen, um in einer der Kapellen zu beten. Anne Katharina blieb bei Barbara, bis die Alte zurückkehrte.


Michel und Peter waren ausgegangen, Agnes arbeitete in der Küche. Die Hausherrin ging leise nach unten in die Vorratskammer und packte einige Dinge in ihren Korb. Sorgsam breitete sie ein Tuch darüber und stellte einen Krug mit Honig und eine Schale mit frischem Gebäck darauf. Anne Katharina schlich auf die Haustür zu, hielt dann aber vor der Küche inne. Sie öffnete die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt.

»Ich bringe Pater Hiltprand Honig und Kringel«, rief sie Agnes zu.

»Ich bin zurück, ehe die Männer zum Spätmahl kommen.« Die Magd sah von ihrer Arbeit auf und musterte ihre Herrin mit unbeweglicher Miene.

Sie sieht mehr, als sie sehen sollte, dachte die Hausherrin, während sie hinaustrat. Welch Segen, dass sie mir so treu ergeben ist.

Statt den Treppen hinauf zur Pfarrgasse zu folgen, schritt Anne Katharina die Haalgasse hinunter, bog in die Blockgasse ein und folgte ihr bis zur Kerfengasse. Sie wartete, bis die Straße menschenleer war, dann erst zog sie den unförmigen Schlüssel aus dem Korb und öffnete die Scheunentür. Schnell schlüpfte sie hinein und schob das Tor wieder hinter sich zu.

Den um einige Päckchen und Töpfe erleichterten Korb unter dem Arm, verließ Anne Katharina eine Stunde später die Scheune wieder. Sie hatte den Schlüssel gerade in ihrer Gürteltasche verstaut, als drüben am Eckhaus die Tür geöffnet wurde. Ein warmer Lichtschein ergoss sich auf die Gasse, in dem sich die Silhouette einer Frau abzeichnete. Sie war klein und von zierlicher Gestalt. Den Bewegungen nach schien sie jung zu sein. Da das Licht von hinten kam, konnte Anne Katharina ihre Züge nicht erkennen. Hinter ihr tauchte ein Mann auf. Die Frau trat einige Schritte zur Seite und wandte sich zu ihrem Begleiter um. Der Lichtschein huschte über ein grell geschminktes Gesicht, ein eng geschnürtes Mieder und einen Rock, der bis über die Knie geschürzt war.

Hastig schlang sich die Frau ein Tuch um die nackten Schultern und Arme. Sie winkte dem Mann, ihr zu folgen. Das Licht flutete über modische Kniehosen und ein vielfarbiges Wams. Die Art, wie er sich bewegte, war Anne Katharina vertraut. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als der Wind seine Stimme zu ihr herüberwehte. Sie konnte nur ein paar Wortfetzen erahnen, ehe die Frau ihm die Hand auf den Mund legte und ihn dazu drängte, seine Stimme zu senken. Eng aneinander geschmiegt standen sie an die Hauswand gedrängt und flüsterten miteinander.

Anne Katharina unterdrückte den Wunsch, über die Gasse zu eilen und ihren Bruder aus den Armen dieser verdorbenen Kreatur zu reißen. Peter ging zu den freien Weibern, um sich der unkeuschen Wollust hinzugeben! Die Ratsherrnfrau seufzte leise. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, ihr geliebter kleiner Bruder war erwachsen, und er war ein Mann wie jeder andere.

Anne Katharina konnte ihren Blick nur mühsam von dem Paar losreißen. Es wurde Zeit, diesen Ort zu verlassen! Sie wollte sich gerade unbemerkt davonstehlen, als sie Schritte die Kerfengasse herunterkommen hörte. Ein Fackelschein näherte sich und beleuchtete eine ihr wohlbekannte Gestalt. Michel! Was hatte ihr Gatte um diese Uhrzeit hier zu suchen? Er wollte doch nicht etwa auch …?

Michel Seyboths Schuhe klapperten über den harten Boden. Zielstrebig näherte er sich dem Frauenhaus. Als der Feuerschein das Paar in der Nische erfasste, blieb der Ratsherr stehen. Offensichtlich hatte er seinen Schwager erkannt, obwohl der sein Gesicht im Haar des Weibes zu verbergen suchte.

»Na, wen haben wir denn da?«, schallte Michels Stimme zu seiner Gattin hinüber. Er schlug Peter auf die Schulter und lachte.

Anne Katharina sah, wie die Frau zusammenzuckte. Für einen Moment drückte sie sich noch weiter in die Nische und zog ihr Tuch eng um den Leib, dann jedoch wandte sie sich dem Neuankömmling zu. In ihrer Stimme schwang ein sündiges Versprechen, als sie Michel begrüßte. Sie trat auf die Gasse, ließ das Tuch sinken, so dass man ihre nackten Schultern sehen konnte, und stützte eine Hand auf die vorgestreckte Hüfte. Sie lachte und scherzte mit dem Ratsherrn, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu Peter, der nun neben Michel trat.

»Lass uns hineingehen und uns wärmen«, sagte Peter und nickte der Frau zu.

»Aber ja, Herr«, nahm sie die Worte auf. »Ihr seid doch gekommen, um Wohltaten für Euren Leib und Euer Gemüt zu erlangen?«

Michel zögerte. »Nun ja, eigentlich war es eher der Zufall, der meine Schritte an eurem Haus vorbeilenkte. Ich war auf dem Weg zum ›Wilden Mann‹ jenseits des Kochers, um mich mit meinen Siedern auf einen Krug Wein zu treffen, aber« – sein Blick glitt über die Frau, die inzwischen vor Kälte bebte – »aber es schadet sicher nicht, wenn ich dir vorher ein wenig Gesellschaft leiste, mein hübsches Kind.«

Die Hure kicherte und strich ihm über sein Wams. »Dann folgt mir, edler Herr, Ihr werdet es nicht bereuen. Ihr bekommt etwas für Eure Münzen!« Sie legte den nackten Arm um Michels Taille und führte ihn ins Haus. Unter der Tür drehte sie den Kopf und sah nach Peter, der unschlüssig in der nächtlichen Gasse stehen geblieben war. Das Lächeln und die gezierte Art fielen für einen Moment von ihr ab. Die großen, ernsten Augen schienen Peter eine Botschaft zu übermitteln, die Anne Katharina jedoch nicht verstand. Dann wandte sie sich wieder Michel zu. Das Letzte, was seine Gattin hören konnte, ehe die Tür ins Schloss fiel, war das gezierte Lachen der Hure.

Eine ganze Weile stand Anne Katharina reglos da und starrte auf das Frauenhaus, aus dem gedämpfte Laute zu ihr herüberwehten. Erst als ihre eisigen Hände und Füße sich schmerzhaft meldeten, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Mit gesenktem Kopf schritt sie die Gasse entlang, stieg die Treppen zum Hafenmarkt hinauf und umrundete die Mauern des verlassenen Franziskanerklosters.

Seltsam, dachte sie, es schmerzt mich mehr, Peter in den Fängen dieser Weiber zu wissen als meinen eigenen Gatten. Und dennoch, warum ließ sich Michel so einfach von ihnen verführen? Predigte der Doktor Luther nicht, dass Mann und Frau füreinander geschaffen seien, dass sie sich lieb hätten? Sagte er nicht, jeder Mensch sei zur Ehe berufen? Lieben und ehren sollten die Eheleute einander!

Sie stieß ein freudloses Lachen aus und beschleunigte ihren Schritt. Was war das für eine Ehe, wenn das Weib Erleichterung empfand, wenn ihr Mann seine fleischlichen Gelüste im Frauenhaus auslebte statt in der ehelichen Kammer?

Anne Katharina erreichte die Pfarrgasse und folgte ihr in südlicher Richtung, bis sie sich zu einem lang gestreckten, abschüssigen Platz erweiterte. Sie endete beim Haus des ehrenwerten Predigers Brenz. Zur rechten Seite führten Staffeln zur Herrengasse hinunter, links zogen sich steile Stufen zum großen Büchsenhaus hinauf, das über dem Schildgraben wachte, der die ummauerte Freie Reichsstadt vom Land der ungeliebten Schenken von Limpurg trennte.

Anne Katharina betrat das Haus links der Treppe. In den Kammern, die unten von der Halle abgingen, hatten sich ein greiser Schneider und ein Loder eingemietet, die kaum noch ihrer Arbeit nachgehen konnten, und auch unter dem Dach hausten zwei Hintersassen, eine Schneiderswitwe und die Magd des ehemaligen Mönchs, der den größeren Raum im ersten Stockwerk bewohnte. Küche und Vorratskammer nutzten die Bewohner gemeinsam.

Anne Katharina stieg die Treppe hinauf und trat in die Stube, in der der Pater stets am Fenster saß, eine wärmende Decke über den Beinen.

»Meine Liebe!«, rief Pater Hiltprand und klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte. Er legte es auf das Tischchen neben seinem Sessel, auf dem ein Krug mit heißem Kräutersud und eine Schüssel Apfelkompott standen.

Anne Katharina ließ sich von den knochigen Armen an des Paters Brust ziehen. Seine Glieder zeigten deutlich den Verfall des Alters, seine Augen jedoch spiegelten den noch immer frischen Geist wider.

»Mein Kind, wie schön, dich zu sehen. Wer hätte das gedacht, ein Sonnenstrahl in meiner Stube zu so später Stunde.« Er lächelte verschmitzt. »Man muss Gott für seine Wunder loben!«

Die Besucherin lächelte zurück. Die Liebe, die sie warm einhüllte, verdrängte Wut und Bitterkeit aus ihrem Gemüt.

»Fürchtet Euch vor dem Zorn Gottes! Ihr wisst, dass man Seinen Namen nicht leichtfertig im Mund führen soll. Hat das Euer Guardian Euch nicht beigebracht?«

»Das Kloster ist geschlossen, die Mönche in alle Winde zerstreut. Manche haben gar geheiratet! Ein neuer, heller Geist weht durch die Gassen.« Er schien zu überlegen. »Nein, ich glaube, der Zorn Gottes wird mich nicht zerschmettern. Man hört, Er sei ein gütiger Gott der Gnade. Außerdem, wer wird schon einem senilen Greis zürnen?«

Ein braunes und ein blaues Augenpaar trafen sich. »Nun, den Greis will ich zur Not gelten lassen, aber senil? Pah, Ihr nehmt es in einem Disput noch mit jedem aufgeblasenen Studenten auf!«

Wehmut schlich sich in die blauen Augen. »Ja, vielleicht, wenn sie mit mir disputieren würden.« Er strich die Decke über seinen Beinen glatt, die sich inzwischen weigerten, mehr als ein paar wackelige Schrittchen zu gehen. Die Treppe bis zur Straße hinunter zu überwinden war dem alten Pater nicht mehr möglich.

Sie fühlte seinen Schmerz. »Ach ja, nur mit einem Weib zu reden kann Euren großen Geist nicht zufrieden stellen.« Sie ließ ihn seinen Protest nicht aussprechen. »Aber Euch bleiben doch immer noch die Bücher. So viele Schätze des Wissens!« Anne Katharinas Augen leuchteten. Sie strich über den glatten Einband des Buches, in dem der Pater gelesen hatte. »Womit beschäftigt Ihr Euch?«

»Es ist eine Arbeit von Oekolampad zur Hieronymus-Ausgabe des Erasmus von Rotterdam. Der Magister Brenz hat sie mir gegeben. Er selbst hat sich in seinen jungen Jahren, als Oekolampad ihn nach Weinsberg holte, daran beteiligt.«

»Davon verstehe ich leider nichts.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf, lächelte dann jedoch wieder. »Aber ich kann mich noch an viele Geschichten über die heidnischen Griechen erinnern, die Ihr mir als Kind beigebracht habt. Über die Belagerung Trojas und den Seefahrer Odysseus, der in die Irre fuhr.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Lange sind die guten Zeiten schon vorüber, da ich mich mühte, mir die Lehren des Thomas von Aquin zu merken, aber auch die Worte des Aristoteles oder des Sokrates. Jung war ich und wusste die Schätze nicht zu würdigen. Und nun sehnt man sich vergebens nach den alten Zeiten zurück, da das Leben noch so frei und voller Leichtigkeit war.«

»Welche Gedanken sind es, die dich bewegen und so trübsinnig stimmen?«, fragte der Alte.

Anne Katharina zuckte mit den Schultern. »Was der Alltag eben so mit sich bringt, wenn man der Jugend entwachsen ist«, antwortete sie ausweichend.

»Mit anderen Worten, du möchtest deine Sorgen nicht mit mir teilen.«

Anne Katharina wehrte ab.

»Dann erzähle mir, was sich in deinem Geist bewegte, als du vorhin durch die Gassen gingst.«

Um nicht sofort antworten zu müssen, packte sie den Honig und die Kringel aus ihrem Korb. Dann rückte sie umständlich einen Hocker heran, zupfte einen Halm von ihrem Rock und setzte sich. Ihr Blick wanderte durch die Stube, über das schmale Bett, die Eckbank, den Tisch und den eisernen Ofen, der immer wieder dumpf polternde Geräusche von sich gab. Schließlich kehrte er zu den geduldig wartenden Augen zurück.

»Nun, ich dachte über die Ehe nach, über Liebe und Treue, über die Bedürfnisse von Männern und Frauen und warum sie sich so selten gleichen. Sagt nicht Doktor Luther, der Mensch ist zur Ehe berufen? Müsste man dann nicht Zufriedenheit empfinden?«

»Ach, mein liebes Kind. Wie sehr habe ich darum gebetet, dass ihr euch einander näher kommt. Ehen sollen aus Vernunft geschlossen werden. Die beiden Menschen und ihre Lebenswege müssen zueinander passen, wenn sie sich über so viele Jahre hinweg begleiten sollen, ohne Liebe jedoch ist es ein schwerer Weg. Oft stellt sie sich ein, wenn die Partner sorgfältig gewählt sind, aber noch viel häufiger bleibt die Liebe aus.« Er streichelte ihre Hände.

»Ich kann dir nicht sagen, warum das so ist, doch auch der große Doktor Luther hat das erkannt. Obwohl er sagt, dass die Ehe Gottes Wille ist, weiß er, dass es auch nirgends solch bitteren Hass gibt wie in dieser Gemeinschaft zweier Menschen. Einer quält den anderen, beide sind voller Enttäuschung.«

Er hielt inne, als plötzlich die Stubentür geöffnet wurde und Magister Brenz eintrat. Er verneigte sich vor Anne Katharina, nahm sein Barett vom Kopf und legte die Schaube auf die Eckbank.

»Der Stand der Ehe ist heute das Disputationsthema? Pater Hiltprand, ich hörte Euch von der Enttäuschung reden. Der verehrte Luther rät, die Ehe betend zu beginnen und betend zu führen. Dann hilft Gott gegen die Gefährdungen und Anfechtungen, die das Leben uns bereitstellt.«

Anna Katharina schüttelte unwillig den Kopf. »Soll das heißen, wenn ich genug bete und bitte, dann schenkt mir der Herr Jesus Christus Liebe, Verständnis und Harmonie und macht uns zu zufriedenen Eheleuten? Ich habe gebetet! Ehrlich und voller Inbrunst. Vierzehn Jahre bin ich nun verheiratet und habe fünf Kinder geboren. Wie lange muss ich warten, bis Gottes Hilfe sich einstellt?«

Die Miene des Predigers war bekümmert. Er nahm sich den zweiten Schemel und setzte sich neben den Pater.

»So ist es leider nicht. Man kann vom Herrn nicht erwarten, dass Er einem Glück und Harmonie, Reichtum und Macht schenkt und einem ein bequemes Leben hier auf der Erde beschert. Man kann sich nicht durch Fürbitten und Wallfahrten von Krankheit und Schmerz freikaufen.«

»Das meine ich ja auch nicht, nur …« Der junge Prediger hob die Hand, so dass Anne Katharina verstummte.

»Ihr könnt Gottes Heil auch spüren, wenn Ihr in Eurer Ehe unglücklich oder von Eurem Gatten enttäuscht seid. Gott stellt Euch eine Prüfung, an der Ihr Euch reinigen, an der Ihr wachsen könnt.«

Anna Katharina kaute auf ihrer Unterlippe. Die Antwort des Predigers gefiel ihr nicht so recht. Sie erhob sich, schlüpfte in ihren Mantel und nahm den Korb auf.

»Dann werde ich also reifen, während sich die Männer im Frauenhaus das Himmelreich zeigen lassen«, knirschte sie. Erschocken schlug sie sich die Hand vor den Mund, aber die Worte waren schon in die Stube entkommen und bis zu den Ohren der beiden Männer gedrungen.

»Oh, bitte, das hätte ich nicht sagen dürfen.« Sie sah den Prediger flehend an.

»Warum solltet Ihr Eure Gedanken, die Euch Pein bereiten, vor zwei Männern des Glaubens nicht aussprechen dürfen?«, sagte Johannes Brenz sanft. »Seit einem Jahr rede ich mit den Richtern und Ratsherren, dass sie dieses Haus der Sünde endlich schließen, doch nicht nur Gottes Mühlen mahlen langsam. Mir ist wohl bewusst, warum es die Herren nicht eilig damit haben, meinem Drängen nachzugeben.« Er wandte sich zu Pater Hiltprand.

»Habt Ihr mir einen Bogen Pergament und eine Feder? Ich glaube, ich sollte meine nächste Predigt über die Treue halten und die fleischliche Vereinigung, die nur in der Ehe Gottes Segen hat.«

Anne Katharina verabschiedete sich von den beiden Männern, die gemeinsam über dem Predigttext brüteten. Sie würde die Worte am Sonntag ja hören. Und dann? Sollte sie sich, wie es sich für eine Ehefrau gehörte, in die Arme ihres Gatten begeben, damit der es nicht mehr nötig hatte, zu den Huren zu gehen? Trieb sie ihn mit ihrer Weigerung nicht geradezu aus dem Haus? War nicht sie die Sünderin?

Nein, das wollte sie mit den beiden Männern nicht besprechen. Aber mit wem sonst konnte man über solch ein heikles Thema reden? Wenn sie eine Mutter hätte, vielleicht. Oder mit Agnes? Nein, es war nicht gut, wenn eine Magd zu viel über ihre Herrschaft wusste. Wobei Anne Katharina sich fragte, ob den wachsamen Augen der Magd überhaupt jemals etwas entging. Ihre Trippen klapperten über die feuchten Treppenstufen. Und wie wäre es mit Anna Büschler? Offensichtlich kannte sie sich bereits mit den fleischlichen Freuden aus. Aber auch mit den fleischlichen Leiden, die ein Ehemann mit sich brachte? Nein, das konnte sich Anna nicht vorstellen. Warf sie ihrem Vater nicht immer vor, dass er jeden möglichen Kandidaten vergraule?

Die Ratsherrnfrau seufzte. Nein, in dieser Misere konnte ihr niemand raten und auch niemand helfen. Sie hatte sich von ihrem Bruder Ulrich in diese Ehe drängen lassen, und nun musste sie damit leben. Ein zynisches Lächeln teilte ihre Lippen, als sie zur leeren Stube hochstieg. Michel würde sicher nicht so schnell zurückkehren.

»Nun gut, dann werde ich eben an seiner Sünde wachsen!«


Zwei Tage vergingen mit häuslichen Pflichten und den kleinen Ärgernissen des Alltags. Bernhard wurde vom Schulmeister bestraft, weil er in der Stunde geschwatzt hatte und die Psalmen nicht aufsagen konnte, die er hätte lernen sollen. Magister Genger betonte, als er die Ratsherrnfrau auf dem Markt traf, mit seinem fehlerhaften Latein bliebe Bernhard hinter den anderen Schülern zurück. Er malte eine überaus düstere Zukunft für den Knaben, endete dann aber damit, dass Bernhard die Salzsiederei und den Weinhandel seines Vaters vermutlich auch ohne die große Sprache der Gelehrten werde führen können. Oder dächte die gnädige Frau etwa daran, ihn zum Studium der Theologie zu schicken?

Anne Katharina schüttelte den Kopf, wechselte noch ein paar höfliche Worte mit ihm über seine Rückenprobleme und die beginnende Gicht in seinen Fingern und verabschiedete sich dann. Froh, Magister Genger entkommen zu sein, schlenderte sie an den Ständen vorbei und kaufte, was ihr gefiel: drei Fleischpasteten, Nelken und Pfeffer und ein fettes Stück Schweinebauch. Bei einem fahrenden Krämer erstand sie mit Silber überzogene Knöpfe und ein besticktes Samtband, mit dem sie ihre schon etwas abgeschabte Kugelhaube verschönern wollte. Für die Kinder ließ sie sich vom Apotheker mit grobem Zucker bestreutes Latwerg und ein paar kandierte Früchte einpacken.

Wie ungerecht das Leben ist, dachte sie, während sie ihre Einkäufe in ihrem Korb verstaute. Veronica ist wie ich und saugt alles Wissen, das ihr geboten wird, in sich auf. Wenn es möglich wäre, würde sie mit Freuden die Lateinschule besuchen oder später gar an einer Universität studieren. So jedoch muss sie sich mit Psalmen und Bibelsprüchen begnügen, mit Lesen und Schreiben und dem Erlernen der häuslichen Tugenden, auf die die Männer so viel Wert legen.

Sie schlenderte zurück auf den Marktplatz und blieb am Wagen eines Tuchers stehen. Abwesend strich sie über einen Ballen mit blau glänzendem Atlas. Welch Privileg hatte sie in ihrer Jugend genossen, an Pater Hiltprands Wissensschätzen teilhaben zu dürfen. Nun, er war früher, bevor er sich ins Kloster zurückgezogen hatte, bei der Familie Vogelmann ein- und ausgegangen, war Anne Katharinas geliebtem Großvater Freund oder fast wie ein Sohn gewesen. Damals hatte er sich noch Chirurg genannt. Im Jahr von Anne Katharinas Geburt war dann aus ihm Pater Hiltprand bei den Barfüßern in Hall geworden. Der Großvater war längst gestorben, und nun raubte jedes Jahr ein größeres Stück von des Paters Lebenskraft. Sie wollte es sich nicht vorstellen, welch Leere in ihr Leben Einzug halten würde, wenn auch der Pater von ihr genommen werden sollte. Und doch war es nur noch eine Frage von wenigen Jahren, ja, vielleicht nur noch von Monaten.

»Nimm ihn, er wird dir phantastisch stehen!«

»Was?« Anne Katharina fuhr herum und sah in die strahlenden Augen ihrer Freundin. »Wovon sprichst du?«

Die Lippen der Büschlertochter teilten sich zu einem Lächeln. »Ich spreche von dem blauen Atlas, meine liebe Kathi, aber anscheinend bist du wieder einmal in deine Grübeleien versunken und der Welt völlig entrückt.«

»Aber nein – nun ja, ein wenig in Gedanken war ich schon. Ich wollte nicht unhöflich sein. Verzeih mir, Anna.«

Die junge Frau machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll die Förmlichkeit? Erzähle mir lieber, was dich so beschäftigt. Ist es ein Mann? Hast du dir endlich einen Galan gesucht?«

Anne Katharina lachte. »Ich habe einen Gatten und bin froh, wenn er müde und erschöpft von der Arbeit in unser Ehebett kriecht. Nein, ich sehne mich nicht nach männlicher Aufmerksamkeit!«

Die Büschlerin schüttelte den Kopf. »Oh, Kathi, du weißt nicht, welch Süßigkeit des Lebens dir entgeht!«

»Wenn du vor deinem Vater auch so lockere Reden führst, dann wundert es mich, dass er dich noch frei herumlaufen lässt, statt dich in den Keller zu sperren, bis eine keusche Tochter aus dir geworden ist.«

»Sprich nicht von so etwas, Kathi«, sagte die Büschlerin düster.

»Beschwöre kein Unheil auf mich herab. Wer weiß, was das Leben noch für mich bereithält.« Sie kaufte an einem Bäckerstand einen großen Gewürzkuchen, und ihre Miene hellte sich wieder auf.

»Die nächsten Abende jedenfalls wird er mir nicht in die Quere kommen«, sagte sie, als sie sich so weit von dem Stand entfernt hatten, dass der Bäcker ihre Worte nicht mehr verstehen konnte. »Er ist mit dem Fuhrwerk nach Heilbronn gefahren und wird sicher zwei Nächte dort bleiben.«

Anne Katharina zog die Augenbrauen hoch. »Du erwartest nicht zufällig Besuch, den dein Vater nicht sehen soll?« Das Strahlen in Annas Augen sprach Bände. »Erasmus ist also noch in der Stadt.«

Die Büschlerin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er treibt sich wieder in der weiten Welt herum und findet nur selten Zeit, mir zu schreiben. Ich weiß nicht, was aus uns noch werden soll, und verbanne ihn aus meinen Gedanken, soweit dies möglich ist. Nein, der Grund, warum mein Herz erwartungsvoll klopft, heißt Daniel Treutwein!«

»Der Bruder von Eitel Treutwein, dem Domherr und Dekan auf der Komburg?«

Anna nickte. »Er kämpft für den Schwäbischen Bund. Du brauchst nicht gleich die Nase zu rümpfen. Er ist bei der Reiterei und macht zu Pferd eine wundervolle Figur!« Sie übersah Anne Katharinas Kopfschütteln. »Früher war er Adjutant von Herzog Ulrich, jetzt steht er in den Diensten des Pfalzgrafen Ludwig.«

»Und was macht er für den Grafen?«

»Na, was schon? Räuberische Ritter und aufständisches Gesindel töten! Doch du darfst nicht denken, dass er ein gefühlloser Klotz ist. Er schreibt Gedichte und wundervolle Briefe! Er ist ganz anders als Erasmus, mit dem man wundervoll lachen und kindische Streiche machen kann. Daniel dagegen ist ein richtiger Mann, seine Schläfen zeigen das erste Grau, und sein Körper ist vom Kampf gestählt. Er ist ernsthaft und ehrlich, und ich fühle mich bei ihm geborgen.«

»Weiß dein Vater von euren Gefühlen?«, fragte Anne Katharina vorsichtig, als sie hinter der Freundin zum zweiten Mal die voll gestopften Räume des Apothekers Gessner betrat.

»Was denkst du!«, wehrte Anna ab. »Er mag Daniel nicht und würde sich wie ein wütender Dämon aufführen, wenn er davon erführe.« Sie wog einen großen Zuckerhut, der ein Vermögen kostete, in den Händen.

»Ich habe eine Rehkeule und einen Fasan besorgt und werde das neue Fass mit Moselwein anstechen. Was hältst du von süßem Mandelreis nach dem Fleisch, Kathi? Oder soll ich von diesem herrlichen Konfekt etwas mitnehmen?« Sie stibitzte sich ein Stück der wertvollen Süßigkeit und steckte es in den Mund.

»Himmlisch!« Sie verdrehte die Augen und bot Anne Katharina ebenfalls ein Stück an. Diese sah den Apotheker aus seiner Werkstatt kommen und schüttelte den Kopf.

»Hoffentlich verdirbt Barbara die Rehkeule nicht«, fuhr Anna fort und füllte eine Schale mit Konfekt. Nach einigem Zögern legte sie den Zuckerhut auch noch in ihren Korb.

»Die Magd wird für euch kochen? Kannst du ihr denn vertrauen?«

Achtlos kramte die Büschlertochter einige Batzenstücke aus ihrem Beutel und drückte sie Meister Gessner in die Hand. Der Apotheker verneigte sich, dankte herzlich und bot den beiden Frauen ein winziges Stück Marzipan an. Das war eine neue Kostbarkeit in der Auslage des Apothekers, die aus Mandeln hergestellt wurde und heilende Wirkung haben sollte. Anna wartete mit ihrer Antwort, bis sie das Marzipan geschluckt und die Ladentür hinter sich geschlossen hatte.

»Eigentlich steht sie auf meiner Seite, dennoch werde ich ihr heute Abend, wenn sie mit dem Kochen fertig ist, frei geben, damit sie sich um ihren kranken Oheim kümmern kann. Sie muss nicht sehen und hören, was nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt ist.«

»Anna«, sagte die Ratsherrngattin streng, »es scheint mir so, als wolltest du es nicht bei Essen und Trinken und erbaulichen Gesprächen an diesem Abend belassen!«

Ein Lächeln huschte über das hübsche Gesicht. Die blauen Augen leuchteten. Sie war keine Spur verlegen, als sie Anne Katharina von seinen zärtlichen Händen und seinen liebenden Küssen berichtete.

»Er ist ein so viel zärtlicherer Liebhaber als Erasmus«, schwärmte sie.

»Anna, willst du Daniel heiraten?«

Die Büschlerin zuckte mit den Schultern. »Die Frage brauche ich mir nicht zu stellen. Vater hat mir den Umgang mit Daniel verboten, damit ich erst gar nicht auf unsinnige Gedanken komme.«

Anne Katharina seufzte tief. »Du treibst ein gefährliches Spiel, Anna. Nicht nur, dass die beiden Männer voneinander erfahren könnten. Mir läuft es kalt über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, was dein Vater dazu sagen würde!«

»Mir auch«, nickte die junge Frau.

»Sei vorsichtig, meine Liebe. Unterschätze die Boshaftigkeit und Klatschsucht der Nachbarn nicht. Du weißt, dass viele – vor allem die Bürgerinnen – nicht gut auf dich zu sprechen sind. Sie stoßen sich an deiner auffälligen Kleidung und deinem freien Leben, sie neiden deinem Vater den Reichtum und die Macht, und sie werden dich vernichten, wenn der Zufall ihnen eine Waffe in die Hände spielt.«

Anna Büschler umarmte die Freundin. »Wie rührend, dich so besorgt zu sehen, doch lass dich nicht von Albträumen plagen. Ich bin vorsichtig. Niemand wird etwas erfahren. Ich …« Sie brach ab und betrachtete aufmerksam Anne Katharinas Mienenspiel. Die Augen der Freundin weiteten sich für einen Moment, dann schoss Röte in ihre Wangen. Schnell wandte sie sich ab.

»Was ist mit dir?« Die Büschlertochter fuhr herum, um die Quelle dieser ungewöhnlichen Reaktion ausfindig zu machen, aber alles, was sie sehen konnte, war ein hochgewachsener Landsknecht, der die Gasse entlangschritt. Er näherte sich den beiden Frauen, tippte an sein Barett, verneigte sich knapp und schritt weiter. Anna musterte die Freundin, die nun eher blass schien.

»Kennst du diesen Mann?«

Anne Katharina mied ihren Blick. »Ja, sein Bruder war vor Jahren Feurer bei Ulrich, und er hat einige Zeit als Wächter in Hall gedient.«

»Das erklärt aber nicht, warum du erst rot und dann blass wirst, wenn er an dir vorübergeht«, stellte die junge Frau fest. »Gibt es etwas, das du mir erzählen wolltest?«, forschte sie neugierig.

Anna Katharina zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, wie kommst du denn darauf? Was sollte ich mit einem Landsknecht zu schaffen haben?«

Die Freundin zeigte deutlich, was sie von dieser Antwort hielt.

»Wenn ich es wüsste, müsste ich dich ja nicht fragen. Schade, ich dachte, du hättest Vertrauen zu mir. Aber dann vielleicht später.«

Sie küsste Anne Katharina auf beide Wangen. »Ich muss jetzt gehen und Barbara das Fleisch bringen, sonst wird sie nicht rechtzeitig fertig. Wünsch mir Glück!«

Anne Katharina sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke bog, ihre Gedanken jedoch hingen dem Mann nach, der in die andere Richtung verschwunden war.


Eine Weile spielte Anne Katharina mit Barbara und schrieb Veronica die zehn Ziffern auf, die sie fleißig abmalte, bis die Seybothin die Kinder zu sich rief, um ihnen aus ihrem Buch der Psalmen und Heiligengeschichten vorzulesen. Dankend lehnte die Hausherrin ab, mit den Kindern der erbaulichen Lesung zu lauschen, und machte sich stattdessen auf die Suche nach Agnes. Sie fand die Magd in Peters kleiner Kammer. Anne Katharina sank auf einen Hocker und sah Agnes dabei zu, wie sie ein frisches Linnen über Peters Bett zog. Dann sammelte sie die Kleidungsstücke auf, die über den Boden verteilt lagen, und zupfte die Binsenhalme ab.

»Der Mann, mit dem du heute Morgen vor dem Haus gesprochen hast, war das nicht dein Bruder Wolf aus Braunsbach?«

Die Magd nickte. »Ja, ich bekomme ihn nicht häufig zu Gesicht, heute aber war er in Hall unterwegs, um …« Sie brach ab und wandte sich wieder den Kleidern zu. Sorgfältig legte sie eine dreifarbige Kniehose zusammen.

»Was wolltest du sagen?«

»Nun, ja«, fuhr die Magd zögernd fort, »um die Stimmung zu ergründen, die in den Vorstädten und der Unterstadt herrscht.«

Die Hausherrin, die bis zu diesem Augenblick ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte, sah Agnes erstaunt an. »Wie meinst du das? Stimmung? Ich verstehe nicht.«

Die Magd ging zur Tür und warf einen Blick in die leere Halle, dann schloss sie die Tür hinter sich. »Es ist so: Seit vielen Jahren schon sind die Bauern nicht mehr zufrieden. Jedes Jahr werden die Belastungen höher und drücken sie Stück für Stück mehr zu Boden. Den großen Zehnt sind sie ja bereit zu liefern und auch die Gült, wenn sie angemessen ist, aber auf manchen Gütern fordern die Herren fast die Hälfte von allem, was wächst und gedeiht! Es gibt Steuern, gut, aber in manchen Jahren werden diese dreimal eingezogen, weil irgendwo wieder einmal Krieg herrscht, ein Bischof gestorben ist und ein neuer sein Amt teuer von Rom erkaufen muss oder irgendeine andere missliche Lage den Herrn zwingt, seine Bauern noch mehr als sonst auszuquetschen.« Ihre Stimme klang sarkastisch.

»Früher musste jede zehnte Garbe abgegeben werden, heute jedoch verlangen sie auch den Blutzehnt auf alles Vieh und den kleinen Zehnt auf Kraut und Rüben, Erbsen und Zwiebel, Heu und Obst. Der kleine Mann möchte keinen Handlohn mehr bezahlen, wenn das Gut an den Sohn übergeht, er will nicht mehr sein bestes Stück Vieh abgeben, wenn der Bauer stirbt, vor allem aber verlangt er, frei zu sein, dass er den Kopf so hoch erhoben tragen kann, wie die feinen Bürger und Herren auf ihren Burgen. Die Dorfleute wollen nicht mehr um Erlaubnis bitten, wenn sie heiraten oder wegziehen möchten, und sie fordern, dass das Recht in den Büchern auch das Recht der Kleinen und nicht nur der Reichen und Mächtigen ist. Was passiert denn, wenn ein Herr einem Bauern Unrecht getan hat? Er muss ihn verklagen. Der Herr nimmt sich einen Advokat, der verzögert den Fall, dann kommt er vor das nächste Gericht und immer so weiter, bis der arme Mann aufgeben muss. Wie soll er nach Rottweil oder Esslingen oder Würzburg ziehen und seine Sache vor dem hohen Gericht vertreten, das über die Reden des einfachen Bauern nur die Nase rümpft?«

Anne Katharina starrte ihre Magd erstaunt an. Mit roten Wangen und erhobenen Armen hatte sie ihre Rede mit feurigem Eifer vorgetragen. Nun schwieg sie, ließ die Arme sinken und sah zu Boden. Eine Weile war es in der Kammer still.

»Und nun kommen sie nach Hall, um dort nach Unzufriedenheit mit dem Rat zu forschen? Wollen sie sich verbünden und einen Aufstand wagen? Mit erhobener Sense und Geschrei die Stadt stürmen?« Die Ratsherrngattin schüttelte ungläubig den Kopf.

»Nein, aber die Kunde vom Bodensee und von der Donau hat ihnen Mut gemacht, ihren aufgestauten Zorn zu zeigen und von den Herren ihr Recht zu fordern. Verhandelt nicht der Bund mit den Bauern? Nur wenn der kleine Mann zusammensteht und in lautem Chor seinen Unmut zeigt, werden die Herren ihm überhaupt zuhören.«

»Ich wusste nicht, dass die Haller Bauern so unzufrieden sind«, erwiderte die Hausherrin verwundert. »Ich kann ja verstehen, wenn die Untertanen des Markgrafen stöhnen oder die Eigenleute, die unter der Willkür der kirchlichen Herren leiden. Geht es den Leuten im Haller Land nicht um vieles besser? Nun gut, sie liefern ihre Henne zu Fastnacht und zahlen einen, wie ich finde, nicht zu hohen Betrag, wenn sie das Land verlassen wollen, aber müssen sie sich deshalb versklavt fühlen? Der Rat von Hall ist doch kein tyrannischer Unterdrücker! Auch hatte ich, wenn ich in den vergangenen Jahren übers Land nach Michelfeld oder Tüngental fuhr, nicht den Eindruck, die Bauern würden schwere Not leiden oder ihre Kinder wären am Verhungern. Welch üppige Tafeln werden in den Dörfern zu den Kirchweihfesten aufgefahren!«

»Ihr könnt das nicht verstehen«, antwortete die Magd leise. »Ihr seid in eine freie Bürgerfamilie hineingeboren worden. Wohlstand und Ansehen sind Euch selbstverständlich. Ihr wisst nicht, wie das Leben auf dem Land ist. Mag sein, dass es den Haller Bauern besser geht als manchen unter der Knute eines Abts oder Bischofs, mag sein, dass manche Bauern wohlhabend sind und es auf den Festen reichlich zu Essen gibt. Aber der Alltag sieht auch im Haller Umland kärglich aus!«

Anne Katharina wollte etwas erwidern, als sich stürmische Schritte näherten und die Tür der Kammer aufgerissen wurde.

»Ach, hier seid ihr«, begrüßte Peter seine Schwester und die Magd.

»Ich dachte, es wäre langsam Zeit für das Nachtmahl, doch in der Küche ist noch nichts zu sehen und zu riechen.« Er verzog das Gesicht zu einer leidenden Miene.

Anne Katharina lachte. »Das ist schlimm! Du machst mir einen recht verhungerten Eindruck, Herr Advokat. Da bleibt mir ja nichts anders übrig, als Agnes sofort in die Küche zu schicken.«

»Ich bin fast verhungert!«, betonte Peter. »Das Studentenleben ist hart und entbehrungsreich, vor allem, wenn man einen solch knausrigen Bruder besitzt, der einem nicht einmal Gulden für die nötigsten Dinge zur Verfügung stellt!«

Seine Schwester zog die Augenbrauen hoch. »Du meinst, solch nötige Dinge wie Kartenspiel und Saufgelage?«

Peter räusperte sich und wechselte rasch das Thema. »Kann David auch zum Essen bleiben? Er hat mir schon den ganzen Nachmittag Löcher in den Bauch gefragt, und seine Wissbegierde nach meinen Studien ist noch nicht befriedigt. Nun, da er die Lateinschule beendet hat, will er unbedingt nach Heidelberg ziehen.«

Ein schlaksiger Jüngling von fünfzehn Jahren streckte den Kopf ins Zimmer. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, liebe Tante, aber Peter meinte, ich wäre Euch keine Last.«

Anne Katharina trat zu ihm und zauste ihm das kurze Blondhaar.

»Wie großzügig von Peter, über unser Nachtmahl zu verfügen! Nein, du brauchst nicht so verschreckt dreinzuschauen, du bist uns natürlich herzlich willkommen.«

Während die Hausherrin mit den beiden Männern in die Stube hinaufstieg, begab sich Agnes in die Küche, um schnell ein deftiges Mahl zuzubereiten.


Seit einigen Tagen war es endlich Frühling. In den Gärten überzog sich das triste Braun mit Farbe, das Gras glänzte in saftigem Grün, und die ersten Blüten reckten sich der Sonne entgegen. Anne Katharina hatte beim Schuster hinter der Kommende der Johanniter neue Reitstiefel für Michel bestellt und spazierte nun aus dem Weilertor hinaus. Es war ein herrlicher Tag, an dem man die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut genießen sollte, bevor man sich wieder seiner häuslichen Arbeit zuwenden musste. Es war nicht Sonntag, aber Anne Katharina tröstete sich damit, dass Gott sicher nicht darauf bestand, seine Schöpfung nur sonntags zu loben. Wie schade, dass die Mädchen in der düsteren Kammer bei ihrer Großmutter saßen. Welch Freude hätten die Kinder daran, hier im Gras zwischen Gänseblümchen Fangen zu spielen oder frische Weidenwedel zu brechen, die in der Stube rasch sprießen würden. Sie könnte den Mädchen auch zeigen, wie man aus den biegsamen Zweigen Körbe flechten konnte.

Anne Katharina ging zur Uferböschung hinüber, an der drei Weiden ihre Zweige im Wasser badeten. Sie nahm das kurze Messer vom Gürtel, das sie stets bei sich trug, und beugte sich vor, um einen Wedel zu schneiden.

Das feuchte Gras dämpfte den Huftritt des Pferdes. Es kam bis auf fünf Schritte an die Ratsherrngattin heran, ohne dass sie es bemerkte. Kein Schnauben, kein unruhiges Tänzeln verriet seine Anwesenheit, und auch der Reiter schwieg und beobachtete, wie Anne Katharina die Weidenzweige brach.

»Wenn Ihr vorhabt, ins Wasser zu fallen, dann sagt es mir bitte rechtzeitig, damit ich mir die Stiefel ausziehen kann«, erklang eine Stimme hinter ihr, die nicht nur einmal nachts durch ihre Träume gegeistert war. Anne Katharina stieß einen Schrei aus und fuhr herum. Für einen Moment schien es, als würde sie ihr Gleichgewicht verlieren und tatsächlich in die schäumende Flut stürzen. Der Reiter sprang vom Pferd, aber ehe er die Strauchelnde erreichen konnte, hatte sie bereits wieder festen Boden unter den Füßen.

»Rugger, was fällt Euch ein, mich so zu erschrecken«, rief sie aus. Röte schoss ihr in die Wangen. Rasch beugte sie sich zu den Zweigen am Boden hinab und sammelte sie in ihre Armbeuge.

»Was tut Ihr hier?«, fragte sie, als sie sich so weit von der Überraschung erholt hatte, dass sie wieder wagen konnte, ihm ins Gesicht zu sehen.

Er trat auf sie zu und streckte die Arme aus. Erschrocken wich Anne Katharina zurück und kam der steil abfallenden Böschung wieder gefährlich nahe.

»Darf ich Euch Eure Last abnehmen? Es wäre doch schade, wenn Ihr Euch Euren Rock damit beschmutzt.«

Widerstrebend überließ sie ihm die Weidenruten. Rugger wickelte ein Stück Hanf um die Enden und befestigte das Bündel an seinem Sattel. Die Zügel nahm er in die linke Hand, den rechten Arm bot er der Ratsherrngattin.

»Es ist wirklich nicht nötig, dass Ihr Euch die Mühe macht!«

Rugger zog die Augenbrauen hoch. »Euch zu begleiten? Ja, da habt Ihr Recht. Ausnahmsweise ist es weder dunkel, noch ist dies ein Ort, an dem man Töchter aus feinen Bürgerhäusern nicht antreffen sollte.«

Was bildete sich dieser Landsknecht ein, ihr Vorwürfe zu machen?

Was ging es ihn an, wo sie sich zu welcher Tages- oder Nachtzeit herumtrieb? Sie ignorierte bewusst seinen Arm und ging an ihm vorbei kocherabwärts.

»Ich wollte meinen Spaziergang noch nicht abbrechen«, sagte sie abweisend. »Ich danke Euch für Eure Hilfe und wünsche einen schönen Tag. Ihr könnt die Zweige Agnes übergeben. Sie ist im Haus anzutreffen.«

Rugger lachte leise. »Nun habt Ihr mich vortrefflich in meine Schranken verwiesen, und Ihr habt Recht damit. Dennoch war mein Anliegen nicht, Eure Zweige oder Euch auf schnellstem Wege in die Stadt zu bringen. Der Sinn stand mir mehr danach, mit Euch zu plaudern.«

»Oh!« Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Nun hatte er sie wieder aus dem Gleichgewicht gebracht, obwohl sie mit beiden Füßen fest im Gras stand. Lag es daran, dass er sich so gar nicht an die Regeln hielt? Er verhielt sich nicht so, wie ein Landsknecht sich verhalten musste, und er sprach ganz anders, als man es von einem Mann aus einer einfachen Familie der Vorstadt erwarten würde. Und es fehlte ihm an Respekt vor Höhergestellten! Sie sollte ihm eine eiskalte Abfuhr erteilen, um ihm zu zeigen, wo sein Platz war! Stattdessen merkte sie, wie sie ihn anlächelte und nun doch nach seinem Arm griff. Voll Verwunderung hörte sie ihre Lippen Worte formen, die sie gar nicht aussprechen wollte.

»Wo wart Ihr all die Jahre? Die Stadt war ein Stück ärmer ohne Euch.« Nein wie schrecklich! Anne Katharina biss sich auf die Lippen und wandte den Blick dem fließenden Wasser zu.

»Die ganzen Jahre? Wenn ich Euch das alles erzähle, dann würdet Ihr wieder zu ungehörig später Stunde heimkommen und den Zorn Eures Gatten auf Euer Haupt laden. Mein Weg war lang und verworren und hat mich zuletzt nach Pavia geführt.«

Anne Katharina blieb stehen und starrte ihn an. »Pavia? Im Land der Welschen?«

Rugger nickte. »Ja, ein kleiner Ort einen Tagesmarsch südlich des überwältigenden Milanos.«

»Wart Ihr bei der großen Schlacht dabei? Erzählt!«

»Ah, große Heldentaten locken die Frauen, auch wenn ich an solch einem Gemetzel nichts Heldenhaftes finden kann. Aber gut, ich beuge mich Eurer Wissbegierde und will die Ereignisse kurz zusammenfassen. Ihr wisst vielleicht, dass in der Ebene des Po schon lange die Stimmung gegen Habsburg kochte. Die alten Städte wollten wieder frei und mächtig werden und dachten, das würde ihnen mit Hilfe des französischen Königs gelingen. Nur mit Waffengewalt und viel Diplomatie konnte sich der Kaiser im Welschenland noch halten. Doch dann geschah etwas, womit der edle Karl nicht gerechnet hatte. Der Heilige Vater in Rom schloss zu Weihnachten ein Bündnis mit dem Franzosen und mit Venedig.«

Anne Katharina hing an seinem Arm und ließ nicht einen Blick von seinen Lippen. Wie sehr genoss sie es, dass ihr jemand von der Welt dort draußen und der großen Politik berichtete. Sonst war sie immer auf die Brocken angewiesen, die sie in der Stadt oder bei Tisch aufschnappen konnte, wenn Michel Besuch ihres Bruders Ulrich oder von einem der anderen Ratsherren hatte. Aber das war etwas anderes. Hier sprach ein Mann mit ihr, der dabei gewesen war, der wirklich wusste, wovon er redete, und der es nicht für unter seiner Würde hielt, einer Frau davon zu berichten!

»Papst Clemens ließ Herzog Albany mit seinem französischen Heer durch den Kirchenstaat marschieren, um Neapel anzugreifen. Ich sage Euch, die Erbitterung über den Verrat des Vertreters Christi war an den habsburgischen Höfen und in den Feldlagern unbeschreiblich. Sie konnten es nicht fassen, dass der Heilige Vater sich aus niederer Selbstsucht auf die Seite der Franzosen schlug!«, erzählte der Landsknecht weiter. »Als das neue Jahr begann, war der Kaiser in einer schlimmen Lage. Franz belagerte Pavia, aber er konnte keine Verstärkung über die Alpen bringen, da französische und italienische Truppen die Pässe besetzt hielten.«

»Ja, aber wie konnte der Kaiser das Blatt doch noch wenden?«, fragte Anne Katharina. Schließlich waren in den ersten Märztagen Siegesmeldungen über die Alpen bis nach Hall gedrungen.

»Nicht so ungeduldig, gnädige Frau, ich bin bereits an der Stelle angekommen, da ich selbst in das Geschehen mit eingreifen konnte. Ich war bei den Landsknechten, die sich unter Jörg von Frundsbergs Fahne in Tirol versammelten. Er ist ein tollkühner Feldherr und schreckte nicht davor zurück, uns mitten im Winter durch enge Schluchten und über kaum begangene Pfade über die Berge bis in die Poebene zu führen. Ich sage Euch, ich habe schon viel erlebt, aber dieser Marsch wird mir immer in Erinnerung bleiben!«

»Und dann? Seid Ihr nach Pavia gezogen?« Sie zitterte vor Aufregung. Der Landsknecht an ihrer Seite lächelte.

»Ja, wie der Zorn Gottes kamen wir über die Franzosen, die vor Pavia lagerten, und brachten sie zwischen zwei Fronten. Die Belagerten schöpften neuen Mut, und wir sorgten dafür, dass Franz seine Reiterei und seine Geschütze nicht einsetzen konnte. Es war der Tag des heiligen Matthias, des Kaisers Geburtstag, als sich für Habsburg das Blatt wendete. In nur wenigen Stunden war das französische Heer vernichtet. Franz focht zwischen seinen Männern, sein Pferd brach unter ihm zusammen, aber er kämpfte im Stehen weiter, bis er erschöpft und verwundet sich den Kaiserlichen ergeben musste. Ich habe es selbst gesehen, wie der König seinen Panzerhandschuh auszog und dem Herrn von Lannoy übergab.«

Anne Katharina sah ihn fragend an. »Wer ist das?«

»Der Vizekönig von Neapel. Er hat das kaiserliche Heer angeführt.«

Sie waren noch ein Stück den Kocher entlangspaziert, kehrten nun jedoch um und wanderten auf der Landstraße zum Weilertor zurück. Der schwarze Hengst trottete geduldig hinter ihnen her.

»Was passierte dann, nachdem der französische König gefangen war?«

»Die Nachricht vom Sieg des Kaisers eilte nach Mailand. Die französischen Truppen räumten die Stadt und zogen ab. Nun ist also der ganze Norden der italienischen Lande in der Hand Habsburgs.«

»Und der Kaiser? Wo ist der Kaiser?«

»Er ist nach wie vor in Madrid. Seine Landsknechte jedoch, die in Italien nicht mehr gebraucht werden, strömen zurück über die Alpen. Den Truchseß von Waldburg wird es freuen – wenn sie sich nicht auf die Seite der Aufständischen schlagen!« Seine Miene wurde düster. »Es ist eine Sache, gegen die Franzosen zu fechten, eine ganz andere aber gegen die Bauern des eigenen Volkes!«

Sie schritten durch das Tor, passierten die Kommende der Johanniter und folgten dann dem Strom aus Menschen und Karren über die Henkersbrücke.

»Und Ihr, was werdet Ihr nun tun? Bleibt Ihr in Hall?«

Der Landsknecht schüttelte den Kopf. »So gut hat der Kaiser uns leider nicht bezahlt, dass ich nun auf der faulen Haut liegen könnte.«

»Ihr könntet wieder für die Stadt arbeiten«, schlug Anne Katharina vor und wunderte sich, warum ihr etwas daran lag, ihn in der Nähe zu behalten. »Der Rat hat beschlossen, die Stadt stärker zu befestigen. Sie scheinen zu fürchten, dass sich die Unruhen bis ins Haller Land fortpflanzen, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann.«

Noch einmal schüttelte Rugger seinen Kopf. »Nein, der Dienst als Stadtwächter ist nichts für mich. Meine Kräfte und Erfahrungen werden mehr Nutzen bringen, wenn ich nach Ulm ziehe. Ich werde mich in den Dienst des Bundes stellen. Ich habe gehört, dass der Truchseß ein Fuchs ist und der Kanzler Eck ein geborener Diplomat. Noch gibt es Hoffnung, dass man sich ohne großes Blutvergießen einigen kann, dennoch stellt der Waldburger ein Heer auf.«

Sie folgten der Schwatzbühlgasse. Ohne darüber nachzudenken, bog Anne Katharina in die Kerfengasse ein, obwohl der Weg an den Sudhäusern entlang und dann die Haalgasse hinauf der breitere und sicher auch bequemere war.

»Glaubt der Bund, dass er eines Heeres bedarf?«, fragte Anne Katharina. »Ich verstehe die Bauern nicht. Was ist nur in sie gefahren?«

Rugger zuckte mit den Schultern. »Vor Weihnachten hat es schon unten am Bodensee und in den tiefen Wäldern des Schwarzwaldes gegärt. Einzelne Gemeinden haben Beschwerdebriefe verfasst, sich geweigert, die ein oder andere Abgabe, den Spanndienst oder andere Fron zu leisten. Sie sind zu den wandernden Predigern gelaufen und haben deren verführerischen Worten gelauscht.«

Anne Katharina nickte. Davon hatte sie gehört. Im Herbst hatte das Gerücht die Runde gemacht, in Stühlingen habe die Gräfin ihre Bauern während der Ernte von den Feldern geholt und ihnen aufgetragen, Schneckenhäuser zu sammeln, damit sie und ihre Damen ihre vielfarbigen Seidengarne aufwickeln konnten. Die Bauern hätten daraufhin einen Haufen gebildet und seien zum Schloss marschiert. »Klageschriften sind verfasst und zum Reichskammergericht geschickt worden. Danach waren es die Waldshuter, deren Stadtpfarrer Hubmaier gegen die verbrecherischen Herren wetterte und das Blut der Bauern erhitzte. Nun, seit die heiligen Tage zu Ende gegangen sind, wird auch an der Donau der Unmut der Bauern immer lauter. Sie jammern, dass das Joch sie zu Boden drücke, dass die Bischöfe, Äbte und Grafen sie mit jedem Jahr mehr aussaugen und, wenn sie sich wehren, willkürlich in ihre Verliese werfen lassen. Nun schießen in Baltringen, in Memmingen und Laupheim, in Kempten, Oberndorf und Wurzach – ach, ich kann die Orte gar nicht alle aufzählen – bewaffnete Haufen aus dem Boden. An einem Tag arbeiten sie noch friedlich auf den Feldern oder sitzen bei Handwerks arbeiten in den Scheunen zusammen, am anderen Tag stoßen sie wüste Drohungen aus, packen sich ihre Sense, einen Sauspieß oder eine Pike und rotten sich um eine Fahne zusammen. Der Schwäbische Bund sieht das mit großer Sorge. An manchen Orten sind die Haufen auf acht- oder gar zehntausend Mann angewachsen!«

Anne Katharina stieß einen überraschten Ruf aus. In ihren Gedanken hatten sich ein paar Dutzend betrunkene Gesellen getummelt, die, unzufrieden mit ihrem Schicksal, sich bei ihren Herren beschwerten. Tausende Männer und Frauen, die ihre Arbeit verließen und sich bewaffneten – das ging über ihre Vorstellung.

»Wie wird das enden?«, fragte sie leise.

»Ich hoffe, ohne einen Strom von Blut«, murmelte Rugger. Eine Weile schwiegen sie.

»Wann reist Ihr?«

»Morgen in aller Frühe.«

So bald schon?, formten sich die Worte in ihrem Kopf, doch sie unterdrückte sie, bevor sie ihrem Mund entschlüpften. Stattdessen sagte sie: »Dann bleibt mir nur, Euch eine gute Reise und Gottes Segen bei Eurer Mission zu wünschen.«

»Und ich kann nur hoffen, dass Ihr Euch nicht wieder zu später Stunde an Orten herumtreibt, die Ihr lieber meiden solltet.« Er warf dem Frauenhaus, das sie gerade passierten, einen bedeutungsvollen Blick zu. »Denn als nächtlicher Begleiter kann ich mich nun leider nicht mehr zur Verfügung stellen.«

»Ich wüsste nicht, was es Euch angehen könnte, wann ich wohin gehe!«, schnappte die Ratsherrngattin. »Ich komme gut ohne Euch zurecht!«

Ihr Begleiter schmunzelte. »Oh, die Kampfeslust ist noch vorhanden. Ganz hat man sie Euch also nicht ausgetrieben.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber von einem Blatt Papier abgelenkt, das hinter einen Schmutzhaufen geweht worden war. Rugger bückte sich und hob es auf. »Dachte ich mir es. Wieder so ein Pamphlet.« Er knüllte es zusammen und wollte es wegwerfen, aber Anne Katharina war schneller, nahm ihm das Blatt aus der Hand und strich es glatt.

»Der tote Buchstabe der Bibel kann uns nicht befriedigen«, stand da. Überrascht sah Anne Katharina zu Rugger, der nur mit den Schultern zuckte. Er wartete still, während ihre Augen über den gedruckten Text huschten.

»Nimmt das geschriebene Wort seine Glaubwürdigkeit aus sich selbst? Können wir nicht irren, wenn wir Christus und die Apostel für göttlich halten, nur weil sie selbst es sagen und um der Wunder willen, die sie voneinander erzählen? Wenn wir diese Geschichte für wahrhaftig halten, der Göttlichkeit der Erzähler willen, glauben wir sie nicht nur aufgrund der Erzählung göttlich? Haben nicht auch die Türken ein Buch, worin sie das Wort Gottes zu lesen glauben und worin Wunder erzählt werden, an die sie so fest glauben wie wir an die Wunder des Neuen Testaments. Wo sind die Beweise, dass ihre Lehre falsch, die unsere aber wahr ist?«

»Welch Schändlichkeit«, stieß Anne Katharina aus, »wer kann es wagen, Christus so zu lästern? In der Heiligen Schrift liegt die Wahrheit. Sie ist Gottes Wort! Hat das nicht Doktor Luther gesagt, und betont unser Prediger Brenz es nicht immer wieder?«

»Offensichtlich ist unser Schreiberling kein Lutheraner«, sagte Rugger und streckte die Hand nach dem Flugblatt aus. »Eher ein Jünger dieses Schwärmers Thomas Müntzer.«

Anne Katharina warf noch einen Blick auf das aufrührerische Pergament, bei dem das »L« in der fett gedruckten Überschrift gebrochen schien. Der untere Teil stand ein wenig schräg, und an der Bruchstelle fehlte etwas Druckerschwärze.

»Seid Ihr ein Anhänger der Lehre Luthers?«, fragte die Seybothsgattin und reichte ihm das Blatt. Der Landsknecht zerknüllte es wieder und steckte es in seine Tasche.

»Ach, wer kann schon wissen, ob es ein Fegefeuer gibt oder nicht, ob der Leib Christi beim Abendmahl tatsächlich zugegen ist oder nicht. Ich bin kein Gelehrter. Ich sehe nur, dass sich die Professoren und Doktoren mit Pamphleten überschütten und sich für jede noch so kleine Änderung in der Formulierung bis aufs Messer bekämpfen.«

Sie blieben vor dem Haus der Familie Seyboth stehen.

»Aber Ihr seid doch nicht etwa mit den Machenschaften des Papstes einverstanden, der behauptet, für Geld Seligkeit verteilen zu können?«

»Sind der Glaube und die Machenschaften der Kirchenmänner nicht zwei unterschiedliche Dinge?«

Anne Katharina kaute auf ihrer Unterlippe. Sie ließ es geschehen, dass er ihre Hand zwischen die seinen nahm, als er sich zum Abschied verbeugte.

»Lebt wohl, Anne Katharina, und Gottes Segen mit Euch. Wer weiß, wann wir uns wieder begegnen.«

Die Hufe seines Hengstes klapperten über das Pflaster, als er das Tier in Richtung Barfüßerkloster davonführte.

Das Kreidekreuz

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