Читать книгу Das Kreidekreuz - Ulrike Schweikert - Страница 9
KAPITEL 1
ОглавлениеSeht ihr nicht die Zeichen? Wie die Schafe lasst ihr euch scheren und gebt ihnen dann noch klaglos eure Haut dazu! Blind lauft ihr hinter dem Wolf im Schafspelz in den Abgrund, ohne auch nur ein Mal innezuhalten. Seht ihr denn nicht die Zeichen? Eisige Stürme und Schnee im Sommer, knospende Bäume mitten im Winter, Wassermassen, die die Ernten verschlingen. Die weisen Männer haben eine Sintflut aus Wasser geweissagt, ich aber sage euch, es wird eine Sintflut aus Blut werden! Es steht in den Sternen, die Zeit ist gekommen! Was oben ist, wird unten sein, und was unten ist, wird obenauf schwimmen. Und alles wird im Blut zugrunde gehen! Dort, wo ich herkomme, ist es schon in aller Munde: Wer im 1523sten Jahr nicht stirbt, 1524 nicht im Wasser verdirbt und 1525 nicht wird erschlagen, der mag wohl von Wundern sagen.«
Zwei Mägde waren vor dem Bettler stehen geblieben, um seinen Worten zu lauschen, nun aber schüttelten sie die Köpfe, nahmen ihre Körbe voller Gemüse wieder auf und setzten ihren Weg fort.
»Oh, ihr Blinden! Ihr denkt, ihr habt Augen, doch ihr seht noch weniger als der arme Bettler vor euch«, rief er ihnen hinterher. Er kratzte sich an dem schmutzigen Verband, der seine Augen bedeckte. Plötzlich hielt er inne und drehte sich langsam zur Seite. Er schnüffelte laut.
»Nun, gnädige Frau? Was starrt Ihr so auf einen alten, blinden Bettler herab? Ich weiß, dass Ihr mich misstrauisch beäugt, darum lasst Euch sagen, ich erkenne den Geruch einer ehrbaren Frau. Gebt mir ein paar Heller aus Eurem Beutel. Lange werdet Ihr Euch eh nicht mehr an Eurem Reichtum erfreuen können. Der Welten Ende ist nah. Habt Ihr es nicht vernommen?«
Ein Lachen erklang und das Rauschen edler Röcke, die sich näherten. »Das ist eine gute Rede, alter Mann, auch wenn sie ebenso wenig wahr ist wie deine Blindheit!«
»Ha!«, rief er erbost und schob sich die Binde ein wenig hoch, um die Spötterin besser betrachten zu können.
»Ist die Ernte nicht die letzten beiden Jahre verdorben? Hungern die Bauern nicht neben ihren leeren Scheunen? Hat das Wetter nicht verrückt gespielt, als würden tausend Hexen im Himmel ihre Kessel rühren? Hört die wandernden Prediger und Propheten, und Ihr werdet erkennen, dass der alte Jodokus Recht hat!«
Ein nachdenklicher Schimmer legte sich über die lebhaften, braunen Augen der Frau. »Ja, das stimmt. Es waren seltsame Jahre, und der Preis für Brot drückt selbst uns, die wir uns zu den ersten Familien der Stadt zählen können. Ans Ende der Welt mag ich jedoch nicht recht glauben. Es sind schwere Zeiten, wie es sie schon oft gegeben hat. Das Volk läuft gern den Schwärmern hinterher. Nicht lange, und es widmet sich wieder still und ernst seinen Feldern.«
»Um das Brot zu bauen, das die Herren ihm dann entreißen«, krächzte der Bettler und grinste, so dass die Frau in seinen fast zahnlosen Mund sehen konnte.
»Noch sind die Herren verstockt und wollen ihren Augen und Ohren nicht trauen. Sie warten, bis die Schrift aus Blut und Feuer über sie kommt, dann erst werden sie verstehen.«
»Wir werden sehen«, sagte die Frau und nickte dem Alten zu.
»Die Heller!«, rief er empört. »Denkt an die Heller, die schon bald nichts mehr wert sind, mir heute jedoch noch einen satten Bauch bescheren könnten! Habt Mitleid, gnädige Frau.«
Die Bürgerin lächelte, nahm ihren Beutel vom Gürtel und löste das Band. »Ich hoffe noch immer, dass deine Worte nur Lug und Trug sind, die wilden Träume eines Elenden. Dennoch lehrt uns die Kirche, barmherzig zu sein und unser Gut mit den Armen zu teilen.«
Sie ließ vier kleine Münzen in die vorgestreckte Männerhand gleiten. Mit einer flinken Bewegung steckte der Alte sie unter seine Lumpen.
»Die Kirche«, knurrte er und spuckte auf den Boden. »Ich hoffe, Ihr redet nicht von der Kirche des räudigen, römischen Wolfes, der seine Kinder aussaugt und sich und seinen Bischöfen die Taschen füllt. Die Kirche, die die Armen erpresst, ihre letzten Münzen für Ablassbriefe auszugeben, weil sie ihnen mit dem Fegefeuer droht.«
Die Frau wandte sich noch einmal zu ihm um. »Nein«, sagte sie zögernd, »hört die Lehre des neuen Predigers. Gott ist gnädig, er schenkt uns alles. Wir brauchen nur an ihn zu glauben.»
Der Bettler schob seine Augenbinde hoch und sah die Bürgerin aus hellblauen, klaren Augen an. »Ja, Gott ist gerecht. Er ist auf unserer Seite und wird uns helfen! Seht in die Heilige Schrift, dort werdet Ihr die Worte finden.«
Nebelschwaden zogen vom Kocher herauf und krochen träge in jeden Winkel. Der Morast auf der ungepflasterten Gasse überzog sich mit feinen Kristallen. Die Kerfengasse lag verwaist unter der sich herabsenkenden Nacht, und auch auf dem Salzmarkt und in der Haalgasse schien niemand mehr unterwegs zu sein.
Ein Scheunentor knarrte leise, als es von einer Hand gerade so weit aufgeschoben wurde, dass eine schlanke Person durch den Spalt schlüpfen konnte. Ein in ein schwarzes Tuch gehüllter Kopf erschien, dann glitt der ebenfalls dunkel verhüllte Leib auf die Gasse hinaus und schob die Tür behutsam hinter sich zu. Einen Korb eng an den Leib gedrückt, stand die Gestalt bewegungslos da, nur ihr Blick huschte rasch die Gasse hinauf und hinunter. Irgendwo bellte ein Hund, aus dem Haus an der Ecke zur Blockgasse erklang Gelächter, doch es war keine Menschengestalt zu sehen. Die freie Reichsstadt Hall schien sich bereits zur Ruhe begeben zu haben.
Anne Katharina Seyboth, die unter dem Namen Vogelmann geboren war, zog mit klammen Fingern ihren Umhang enger um sich. Die feuchte Kühle kroch unter ihre Röcke und wand sich an ihren Beinen empor. Sie schauderte, dass ihr ganzer Körper bebte. Mit einer ungeduldigen Bewegung schüttelte sie nicht nur die Kälte ab; auch die Gedanken, die ihr Gemüt beschwerten, suchte sie hier im Schatten der hinter ihr aufragenden Scheune zurückzulassen.
War es richtig, was sie da tat? Noch einmal schüttelte sie energisch den Kopf. Später wäre immer noch Gelegenheit genug, sich darüber Gedanken zu machen. Nun war es Zeit, zu ihren Kindern zurückzukehren, die sicher schon sehnlich auf sie warteten. Ob Michel seine Ratssitzung bereits beendet hatte? Die Sitzung vermutlich ja, nicht jedoch den anschließenden Umtrunk.
Anne Katharina tastete sich die nebelige Gasse entlang. Obwohl sie jedes Haus und jede Scheune genau kannte, schien der Weg in der nächtlichen Dunkelheit heute viel länger zu sein. Den Kienspan zu entzünden, den sie am Grund ihres Korbes trug, scheute sie sich. Selbst zu dieser fortgeschrittenen Stunde hätte es sie nicht überrascht, hier in der Unterstadt einem der wohlbekannten Gesichter der Ehrbarkeit über den Weg zu laufen. Die grell geschminkten Weiber des Frauenhauses lebten schließlich nicht nur von den Münzen der Handwerker aus den Vorstädten!
Eigentlich sollte das Haus, das dem Prediger Brenz ein schmerzender Dorn im Auge war, schon seit einem Jahr geschlossen sein, aus irgendwelchen Gründen jedoch schoben die Ratsherren die Ausführung des Beschlusses immer wieder hinaus. Anne Katharina grübelte noch darüber nach, als das Licht einer Fackel vom Salzmarkt her auf sie zukam. Sie überlegte kurz, ob sie sich in die Schatten des Hofs zu ihrer Rechten zurückziehen sollte, doch da hatte der Lichtschein sie schon erfasst. Anne Katharina wandte das Gesicht ein wenig ab, murmelte einen Gruß und beeilte sich, den Mann, der ihr entgegenkam, rasch zu passieren. Sie erhaschte einen Blick auf blaue Pluderhosen, deren rotes Futter durch die zahlreichen Schlitze blitzte, und eine Jacke mit glänzenden Knöpfen, deren Oberstoff ebenfalls an den Ärmeln aufgeschnitten war. Unter dem Barett lugte braunes, nackenlanges Haar hervor, ein Schwert schlug beim Gehen mit leisem Klirren gegen sein linkes Bein.
Einer der umherziehenden Landsknechte, dachte Anne Katharina und beschleunigte ihren Schritt, doch dann zögerte sie. Sie konnte nicht sagen, warum sie innehielt und sich umwandte. War es der Klang seines Schrittes, die Haltung seines Körpers?
Auch der Landsknecht war stehen geblieben und drehte sich nach der Frau um. Beide schwiegen und sahen einander prüfend und ein wenig ungläubig an. Der Mann trat näher, bis der Lichtschein seiner Fackel die Szenerie erhellte.
»Jungfrau Anne Katharina?«, presste er hervor. Erstaunen schwang in seiner Stimme.
Sie sah ihm ins Gesicht. Seine Haut war gebräunt, und er hatte sich schon einige Tage nicht mehr rasiert. In seinen Augen spiegelte sich das rötliche Licht der Flamme. Der Klang seiner Stimme ließ die Zeit zerrinnen. Er hatte sich kaum verändert in den fünfzehn Jahren. Fünfzehn Jahre? War es wirklich schon so lange her? Wie von fern drangen die Worte an ihr Ohr.
Sie lachte. »Anne Katharina, ja das bin ich, die Jungfrau aber habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört.« Ein leichter Schwindel erfasste sie, und es war ihr plötzlich, als könne sie wieder seine Lippen auf den ihren spüren. Der erste Kuss der Jugend, die erwachende Leidenschaft ungekannter Liebe. Wie süß dieser einzige verbotene Kuss noch immer schmeckte!
Der Landsknecht verbeugte sich vor ihr. »Verzeiht, gnädige Frau, ich wollte Euch nicht beleidigen. Ich wollte damit nicht andeuten, ich meine …«
Zwei Grübchen vertieften sich in ihren Wangen. »Andeuten, ich könne vielleicht als alte Jungfer sitzen geblieben sein?«
Leichte Röte überzog sein Gesicht. Er stotterte noch eine Entschuldigung, dann jedoch schien er das Blitzen in ihren Augen zu bemerken und brach ab.
»Ihr habt Euch nicht verändert«, sagte er und betrachtete sie vom Kopf bis zum Saum des einfachen Mantels. Seine Augenbrauen zogen sich leicht nach oben. Plötzlich fiel Anne Katharina ein, dass sie den Umhang ihrer Magd trug. Mit einer hastigen Kopfbewegung warf sie die Kapuze ab, so dass die mit Perlen bestickte Brokathaube zum Vorschein kam, unter der, von einem engmaschigen Silbernetz gebändigt, ihr üppig rotbraunes Haar zu erahnen war. Sie konnte nur hoffen, dass der Nebel die abgewetzten Stellen des Mantelstoffes verbarg.
»Wie soll ich Euch denn nun ansprechen? Wer ist der Glückliche, der Euch sein Eigen nennen darf?«
Anne Katharina schnaubte unfein durch die Nase. »Ich bin niemandem zu Eigen! Falls Ihr jedoch wissen wollt, wer mein Ehegemahl ist: Michel Seyboth lautet sein Name.«
Rugger nickte. »Ein ehrbarer Sieder und Ratsherr, wie Ihr es vorausgesehen habt.«
Anne Katharina wollte nicht wieder an diese Nacht zurückdenken, in der sie sich für ein paar Augenblicke den Träumen hingegeben hatte, wie es wäre, ein Leben jenseits der Bestimmung der Familie zu führen. Es war so lange her. Seit mehr als einem Dutzend Jahren war sie die Ehegattin von Michel Seyboth und inzwischen Mutter dreier hoffnungsvoller Sprösslinge. Wohin sollte dieses Geplänkel führen? Warum stand sie mitten in der Nacht mit einem Landsknecht auf der Gasse und sprach mit ihm über Dinge, die nicht zu ändern waren? Anne Katharina zog sich ihre Kapuze wieder über die Haube und nickte Rugger mit ernster Miene zu.
»Es ist spät geworden. Ich muss mich eilen, nach Hause zu kommen. Es war eine angenehme Überraschung, Euch wiederzusehen.« Mit zwei schnellen Schritten trat Rugger an ihre Seite. »Ich werde Euch begleiten.«
Anne Katharina hob abwehrend die Hände, aber er ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er bot ihr den Arm, den sie nach einigem Zögern ergriff.
»Zur Keckengasse ist es doch nur ein kurzes Stück«, versuchte sie es noch einmal.
Der Landsknecht, der sie um einen Kopf überragte, lächelte zu ihr herab. »Ihr habt Euch also immer noch nicht abgewöhnt, ohne Licht und ohne Schutz nachts durch die Gassen zu streifen.«
Anne Katharina lächelte versonnen. »Ja, zum argen Verdruss meines Gatten und meiner Schwiegermutter leiste ich in manchen Dingen noch immer Widerstand. In vielen anderen hat die Zeit mich gezähmt.« Sie seufzte schwer.
Rugger entfuhr ein kurzes Lachen. »Eure Reden klingen nicht so, als sei dies jemandem gelungen.«
Wo ist nur meine Erziehung geblieben?, dachte Anne Katharina beschämt. Was war in sie gefahren? Sie kannte diesen Mann an ihrer Seite doch kaum. Sie wusste nur wenig, was er in seinen jungen Jahren getan, und gar nichts darüber, wie er die vergangenen fünfzehn Jahre verbracht hatte. Schweigend ließ sie sich von ihm die Haalgasse hinauf in die Keckengasse führen. Vor dem Haus der Seyboths blieb sie stehen und reichte ihm die Hand.
»Ich danke Euch für Euer Geleit und wünsche Euch eine gesegnete Nacht.«
Er griff nach der kalten, schmalen Hand und hielt sie eine Weile in der seinen. Gerade öffnete er den Mund, um seinen Abschiedsgruß zu sprechen, als sich ein Lichtschein und Männerstimmen die Treppe von der Herrengasse her näherten. Rugger ließ die Hand los und trat einen Schritt zurück. Schon kamen zwei Männer, jeder einen stark rußenden Kienspan in der Hand, in die Keckengasse und blieben vor Anne Katharina und Rugger stehen. Ratsherr Lienhard Mangolt verbeugte sich höflich vor der Gattin seines Kollegen und nickte auch dem fremden Landsknecht zu, Michel Seyboth jedoch stemmte die Hände in die Hüften, kniff ein Auge zusammen und betrachtete sein Eheweib streng. Seine Lippen waren nur noch ein dünner Strich.
Anne Katharina wandte sich mit gespielter Leichtigkeit an Ratsherr Mangolt, erkundigte sich nach seiner Jüngsten, die mit Husten und Fieber darniederlag, und plauderte ein wenig über die nach Tagen der Milde zurückgekehrte Kälte. Unauffällig schob sie die verschlissene Kapuze vom Kopf und verdeckte eine geflickte Stelle des Mantels in einer Falte.
Der Ratsherr schien die Spannung zu spüren, die über ihren Häuptern hing. Er antwortete höflich und verabschiedete sich dann. Die drei sahen ihm nach, wie er durch die Keckengasse davonging. Eine Weile sagte keiner etwas.
»Willst du mir nicht deinen Begleiter vorstellen?«, brach Michel mit schneidender Stimme die Stille. Er war groß gewachsen und hatte blondes Haar, seine sonst blassen Wangen waren gerötet, die grauen Augen sahen finster drein.
»Das ist …«, stotterte Anne Katharina, die fieberhaft nach einer Erklärung für ihre Bekanntschaft mit dem Mann an ihrer Seite suchte, der sich nun vor dem Ratsherrn verneigte.
»Rugger Beltz, des Kaisers Landsknecht, verehrter Herr. Mein Bruder Volkhard war Feurer im Hause Vogelmann. Verzeiht mir meine Dreistigkeit, Eure Gattin nach Hause begleitet zu haben, doch in diesen Tagen sollte keiner im Dunkeln allein durch die Gassen spazieren.«
»Ich habe mich bei Pater Hiltprand verspätet«, fügte Anne Katharina rasch hinzu. »Wir haben uns über die letzte Predigt von Magister Brenz unterhalten und die Zeit dabei vergessen.«
Sie sah, wie Rugger wieder seine Augenbrauen hochzog. Sicher fragte er sich, warum er Anne Katharina in der Nähe des Frauenhauses getroffen hatte, wenn sie von einem Besuch bei einem ehemaligen Mönch kam. Wusste er gar, dass Pater Hiltprand in der Pfaffengasse, unweit des Hauses von Johannes Brenz wohnte? Anne Katharina konnte seinen prüfenden Blick auf sich spüren. Es war ihr, als ziehe er sich langsam von ihr zurück. Er wusste, dass sie log, und reimte sich nun wer weiß was zusammen. Sie spürte ein Drängen, nach seiner Hand zu greifen und ihm die Wahrheit zu erzählen. Wie konnte sie es ertragen, dass er schlechte Gedanken über sie hegte?
Michel Seyboth musterte den Landsknecht mit abweisender Miene. »Dann muss ich Euch wohl danken, dass Ihr mir mein Weib unversehrt nach Hause geführt habt«, sagte er ohne ein Lächeln auf den Lippen. Mit einem Kopfnicken entließ er den Fremden, trat zur Tür und hielt sie für Anne Katharina auf.
»Dann wünsche ich Euch eine gesegnete Nacht«, antwortete Rugger in ebenfalls kühlem Ton, senkte noch einmal den Kopf und schritt gemächlich durch den Nebel davon.
»Möge Gott Euch behüten«, murmelte Anne Katharina und sah ihm einen Augenblick nach, ehe sie den schäbigen Mantel raffte und in die Eingangshalle trat. Sie ließ den Wollstoff von der Schulter gleiten und eilte in die Küche.
»Ich erwarte dich in der Stube!«, folgte ihr die Stimme ihres Mannes. »Und sag Agnes, sie kann das Essen servieren.«
Anne Katharina schob ihren Korb unter das Regal am Fenster und wartete, bis die Schritte ihres Ehegatten auf der Treppe verklangen. Dann erst huschte sie in die Kammer neben der Küche und hängte den Mantel an einen Haken, an dem bereits zwei fleckige Schürzen und ein verwaschenes Wolltuch hingen. Mit einem Seufzer schloss sie die Kammertür wieder. Den Türknauf noch in der Hand, traf sich ihr Blick mit dem der Magd, die mit einer Schüssel voller Zwiebeln aus dem Keller kam.
Agnes sah ihre Herrin durchdringend an, verzog jedoch keine Miene. Schweigend trug sie die Zwiebeln in die Küche, griff nach einem großen Messer und begann die trockenen Hüllen zu entfernen. Anne Katharina folgte ihr.
»Frage mich nicht«, bat sie, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Habe ich Euch je Fragen gestellt?«, antwortete die Magd, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Dennoch, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt, glaube ich nicht, dass Ihr so Euer Ziel erreicht. Ich denke, es ist unauffälliger, wenn Ihr bei Eurer eigenen Kleidung bleibt.«
Anne Katharina seufzte, ließ sich auf einen Schemel sinken und barg das Gesicht in den Händen. »Ja, natürlich hast du Recht. Der Herr im Himmel weiß, wie viele Tode ich gestorben bin – erst Rugger, dann Ratsherr Mangolt und Michel!«
»Wobei ich denke, dass Euer Gemahl Euch nicht so genau angesehen hat, um den Mantel zu bemerken«, fügte die Magd hinzu.
»Vermutlich nicht«, stimmte ihr Anne Katharina zu, »aber Rugger hat es sehr wohl bemerkt und der Ratsherr vielleicht auch.«
Agnes warf ihrer Herrin einen kurzen Blick zu.
Anne Katharina verstand die unausgesprochene Frage wohl, doch war sie ihrer Magd Rechenschaft schuldig? Auch wenn sie Agnes seit ihrer frühen Jugend kannte und ihr sehr dankbar war, dass sie nach ihrer Heirat mit ihr ins Haus der Seyboths gekommen war, so blieb sie dennoch eine Magd! Zu dumm, dass sie Rugger überhaupt erwähnt hatte.
»Michel sagt, du kannst das Essen auftragen«, fuhr sie daher fort und erhob sich.
Warum, fragte sie sich, verschwendete sie noch einen Gedanken an den Landsknecht? Es hatte ein paar Tage in ihrer Jugend gegeben, da sie sich weltfremden Schwärmereien hingegeben hatte. Die Zeiten lagen jedoch weit hinter ihr. Nun gehörte er nicht mehr in ihr Leben, und was er über sie dachte, durfte ihr einerlei sein. Überhaupt, wie konnte er sich erdreisten, über eine ehrenwerte Ratsherrnfrau Schlechtes zu denken?, ereiferte sie sich im Stillen, während sie langsam die Treppe hinaufstieg. Oben vor der Stubentür holte sie noch einmal tief Luft, ehe sie eintrat und sich zu ihrem Gatten an den Tisch setzte.
Michel leerte bereits den zweiten Becher Wein und kaute an einer dicken Scheibe Dinkelbrot mit Nüssen, als Anne Katharina auf die Bank rutschte. Sie goss sich ebenfalls einen Schluck Wein ein und wartete auf die Strafpredigt, die nun kommen musste.
»Er macht das Andenken an die Heiligen schlecht«, grunzte Michel und goss sich den Becher zum dritten Mal voll.
Seine Ehegattin zog erstaunt die Brauen hoch. Sie hatte mit den unterschiedlichsten Vorwürfen gerechnet, die sie aus ihrer vierzehnjährigen Ehe kannte, doch solch eine Bemerkung hatte sie nicht erwartet. »Ich verstehe nicht«, stotterte sie und blinzelte verwirrt.
»Ich spreche von den Reden des Magisters Brenz, in denen er die heilige Kirche mit Füßen tritt! Ich habe ihm sehr wohl zugehört. Er spottet über die Heiligen, nennt die Gebete und Wallfahrten Abgötterei!«
»Nun, er will damit sagen, dass Gott keines Vermittlers bedarf, dass er selbst seine Gnade …«
»Fall mir nicht immer ins Wort!«, unterbrach Michel seine Gattin barsch. »Ich habe es nie befürwortet – und dein Bruder Ulrich ist da ganz meiner Meinung –, dass der Rat einen Prediger nach Hall ruft, der den Unruhe stiftenden Lehren des Doktor Luther anhängt. Natürlich ist in der päpstlichen Kurie nicht alles zum Besten, aber muss man den ganzen Acker umpflügen, wenn nur ein paar Halme faulen?«
Anne Katharina überlegte, ob sie nun den Prediger und die neue Lehre verteidigen oder einfach nur stumm nicken und Michel seine Reden schwingen lassen sollte. Immerhin war es besser, sich auf Religionsstreitigkeiten einzulassen, als sich seinen inquisitorischen Fragen, wie sie den heutigen Abend verbracht hatte, stellen zu müssen.
Bevor sie sich entschieden hatte, wurde die Tür aufgestoßen. Eine alte Dame in einem hochgeschlossenen, schwarzen Gewand kam herein. Sie war groß und knochig. Das weiße Haar trug sie streng zurückgekämmt unter einer Haube verborgen, deren Bänder sich eng um den Hals schlossen. Die Lippen zu einem Strich zusammengepresst, die blassgrauen Augen verengt, warf sie ihrer Schwiegertochter einen strengen Blick zu. Hinter ihr drängten sich zwei Kinder in die überhitzte Stube. Der Junge hatte den üppig rotbraunen Haarschopf seiner Mutter geerbt. Seine Augen waren braun und von langen, dunklen Wimpern gerahmt. Auch seine Schwester hatte dunkle Augen, ihr Haar jedoch war, wie das ihres Vaters, blond und glänzte wie reifer Flachs. In zwei sauber geflochtenen Zöpfen hing es dem achtjährigen Mädchen über den Rücken.
Ein Strahlen erhellte die Miene des Mädchens, als sie die Mutter dort am Tisch sitzen sah. Sie raffte ihren Rock und rutschte zu Anne Katharina auf die Bank. Mit einem wohligen Seufzer drückte sie ihre Nase in das samtene Mieder der Mutter.
»Veronica!«, erscholl die scharfe Stimme ihrer Großmutter. »Wo bleibt deine Erziehung! Willst du deinen Vater nicht angemessen begrüßen?«
Das Mädchen richtete sich ein wenig auf und sagte ernst: »Ich grüße Euch, lieber Vater.«
Bernhard, der mit seinen elf Jahren schon recht hochgeschossen war, verbeugte sich linkisch vor Michel und nahm dann auf einem Schemel Platz.
Die alte Seybothin stand noch immer hoch aufgerichtet da, einen knorrigen Stock in der Linken, und fixierte Anne Katharina. »Wo bist du gewesen? Im Haus geht alles drunter und drüber, aber die Dame macht sich für Stunden davon! Kein Wunder, dass deine Kinder immer mehr verwildern. Wenn ich nicht nach ihnen sehen und mich um ihre Erziehung kümmern würde, könnte schon jetzt nichts Rechtes mehr aus ihnen werden! Weißt du überhaupt, dass sich Bernhard wieder auf der Gasse geprügelt hat? Ist es dir bekannt, dass Veronica einem Bettelkind ihr neues Schleiertuch geschenkt hat? Ich vermute nicht, denn du bist ja nicht da, um dich um häusliche Angelegenheiten zu kümmern! Ich bin nichts anderes von dir gewöhnt. Dass du dich nun jedoch, ohne ein Wort zu sagen, dich bis in die Nacht draußen herumtreibst, das macht selbst mich sprachlos.« Sie holte tief Luft und schmetterte: »Mit solch einer Mutter zum Vorbild …«
Michel schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt ist es genug! Setzt Euch, Mutter, und lasst uns beten. Das Essen ist gleich so weit.«
Beide Frauen starrten ihn verwundert an. Es kam nicht oft vor, dass er seinem Weib zur Hilfe kam, wenn seine Mutter sich in ihre Litaneien hineinsteigerte, doch nun musste sein Wunsch nach Ruhe und abendlichem Frieden die Oberhand gewonnen haben. Die alte Frau klappte den Mund zu und setzte sich steif auf ihren Stuhl. Er hatte eine fast so hohe Lehne wie der ihres Sohnes und war mit den geschnitzten Ornamenten recht unbequem. Vielleicht saß sie deshalb immer so, als habe sie einen Stock verschluckt.
Die beiden Kinder rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her. Zum Glück betrat Agnes die Stube und brachte das Essen. Michel schöpfte sich seine Schale voll, tauchte den Löffel in den dicken Eintopf und schob ihn in den Mund. Agnes hatte heute so viel Speck mitgekocht, dass sich dicke Fettaugen auf der Brühe bildeten. So liebte es der Hausherr! Er suchte sich noch ein paar große Fleischbrocken heraus, bevor er die Schüssel an seine Mutter und sein Weib weitergab.
»Wo ist Barbara?«, wagte Anne Katharina nach einer Weile die Stille zu brechen.
»Sie schläft in meiner Kammer«, antwortete die Seybothin. »Und dort wird sie auch bleiben. Sie fiebert ein wenig. Ich habe ihr einen Schlaftrunk gebrüht. Sie darf nicht mehr gestört werden!«
Anne Katharina wollte widersprechen. Als ob ein Kind von kaum drei Jahren seine liebende Mutter als Störung empfinden könnte! Sie wollte ihre kleine Tochter in die Arme nehmen und sie in den Schlaf wiegen.
Die Alte schien ihre Gedanken zu ahnen. »Sie wird dich nicht vermissen. Sie ist ja von klein auf an meine Fürsorge gewöhnt!«
Ein Knoten begann sich in Anne Katharinas Magen zu bilden. Sie schluckte die scharfe Säure hinunter, die ihr im Hals aufstieg. Es war völlig normal, dass sich die Alten um die Kinder kümmerten und die Lasten im Haus auf alle verteilt wurden, so wie es in ihren Kräften lag. Michel und seine Mutter hatten entschieden, es sei für die Hausgemeinschaft so am besten. Aber worin lagen ihre Lasten? Wenn sie sich schon nicht um die Kinder kümmern sollte, dann wollte sie sich einer anderen sinnvollen Aufgabe zuwenden. Sie wollte Michel die ungeliebte Schreibarbeit abnehmen, die Bücher führen und die Rechnungen prüfen, wollte notieren, was sich im Lager stapelte, und dafür sorgen, dass das ergänzt wurde, was fehlte. Sie war daran gewöhnt, beschäftigt zu sein. Durch den frühen Tod der Eltern war es nicht nur ihre Aufgabe gewesen, nach dem jüngeren Bruder Peter zu sehen, sie hatte ihrem älteren Bruder Ulrich bis zu ihrer Hochzeit die Bücher geführt. Ihr Ehemann und vor allem seine Mutter schienen jedoch der Überzeugung zu sein, solch wichtige Dinge könne man einem jungen Weib nicht überlassen. Ab und zu durfte sie einen Brief ins Reine schreiben, ansonsten bestanden ihre Aufgaben darin, die häuslichen Pflichten der Magd zu überprüfen, den führenden Ratsfamilien freundschaftliche Besuche abzustatten und sie bei entsprechenden Anlässen mit Präsenten zu bedenken, die Gäste, die Michel ins Seybothhaus brachte, zu bewirten und vor allem unzählbare Stunden bei Handarbeiten und im Gebet zuzubringen.
Anne Katharina dachte an ihre Jüngste, die oben in der Kammer der Seybothin lag. Sie würde morgen nach dem Kind sehen. Es brauchte seinen Genesungsschlaf. Barbara war noch so zart, ganz anders als ihre Geschwister in diesem Alter. Wozu sich jetzt mit Mathilde zanken?
Die Seybothin aß nur wenig an diesem Abend, und auch Anna Katharina füllte ihre Schale kein zweites Mal. Ihre Gedanken wanderten zu der Scheune in der Unterstadt und ab und zu auch zu dem Landsknecht, der so plötzlich wieder in ihr Leben getreten war.
»Wer war dieser Mann?«
Den ganzen Abend hatte Michel nicht mehr von dem Vorfall gesprochen, und Anne Katharina war im Stillen erleichtert gewesen, so einfach davongekommen zu sein. Nun aber, da er in der Dunkelheit neben ihr im ehelichen Bett lag, stellte er die Frage mit fester Stimme.
Anne Katharina richtete sich ein wenig im Bett auf. »Es war Rugger, der Bruder von Volkhard, dem Feurer, das hat er dir doch schon gesagt«, antwortete sie, nur mühsam die Ungeduld in ihrer Stimme unterdrückend.
»Und wie kommt er dazu, dich in der Dunkelheit durch die Stadt zu begleiten?«, fuhr Michel störrisch fort.
»Es war Zufall, dass ich ihm in der Gasse begegnete, und da hat er mir Geleit angeboten. Was soll die Fragerei?« Sie wusste, dass sie sich zügeln sollte, doch der Zorn kochte in ihr hoch und spülte die Vernunft mit sich fort. »Ich habe diesen Mann fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, weiß nicht, was er getan hat oder warum er wieder in Hall ist, und will es auch gar nicht wissen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass er sich mir gegenüber ritterlich aufgeführt hat, während mein Gatte ihn dafür auch noch schmähte und ihn, statt zum Dank auf einen Trunk hereinzubitten, mit unhöflichen Worten vor den Kopf stieß!«
Nun saß auch Michel senkrecht im Bett. »Ach ja? Einen dahergelaufenen Landsknecht soll ich in mein Haus bitten? Ich, ein Ratsherr der Freien Reichsstadt Hall? Manchmal glaube ich, du hast den Verstand verloren, oder bringt dich die neue Lehre, die in der Stadt ja nun so modern ist, gegen die guten Traditionen auf?«
Anne Katharina lachte trotzig auf. »Soll nun wieder Doktor Luther an allem schuld sein? Du solltest ihm einen Brief schreiben.«
»Lach nicht über mich! Du bist mein Weib und sollst mir gehorsam sein. Das stellt nicht einmal dein Doktor Luther in Frage.«
Die Frau an seiner Seite seufzte. »Dafür, dass du ihn nicht magst, kennst du dich erstaunlich gut mit seiner Lehre aus.«
»Man muss den Feind kennen, wenn man ihn bekämpfen will«, brummte Michel. Sie hörte ihn tief Luft holen und dann wieder ausatmen.
»Ich möchte nur nicht, dass du gegen den guten Ton verstößt und dich nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumtreibst. Wer weiß, wem du das nächste Mal über den Weg läufst. Es sind so viele seltsame Gestalten unterwegs. Das Volk fiebert, und niemand kann sagen, wann die Seuche ausbricht. Bitte sei vorsichtig.«
Anne Katharina ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Ich werde es versuchen. Verzeih, wenn ich dich erzürnt habe.« Sie zog die Decke noch ein Stück höher, rückte ihre Nachthaube zurecht und gähnte herzhaft.
»Eine gesegnete Nacht wünsche ich dir.«
Michel antwortete nicht. Er saß noch immer aufrecht neben ihr. Eine Weile waren nur ihre Atemzüge zu hören, dann räusperte er sich und sagte leise: »Es ist bereits ein halbes Jahr her, dass der Kleine dir tot geboren wurde. Wäre es da nicht wieder an der Zeit, ein Kind zu zeugen?« Anne Katharina spürte seine Hand zwischen den Laken nach ihrem nackten Körper tasten. Sie wich ihr aus und rutschte an den Rand des Bettes, bis sie auf der Kante lag.
»Nein!«, erwiderte sie gepresst und schob seine Hand weg.
»Warum nicht?«, wollte Michel wissen. Sie hatten in ihrer Ehe keine wilde Leidenschaft erlebt, doch normalerweise erfüllte seine Gattin ihre Pflicht und lehnte nur ab, wenn es einen Grund dafür gab.
»Ich bekomme meine unreinen Tage«, log Anne Katharina.
»Schon wieder?«, wunderte sich Michel und legte sich neben sie.
»Ja. Es ist zurzeit – ungewöhnlich. Etwas in meinem Leib ist nicht so, wie es früher war«, fügte sie hinzu und rückte wieder ein wenig näher, da es so nah an der Kante kalt unter die Decke hereinzog. Sie schwor sich, wie Anna Büschler der neuen Mode zu folgen und sich Nachtgewänder nähen zu lassen.
Eine Weile schwieg Michel. Seine Hand hatte er zurückgezogen. Sie dachte schon, er würde bereits schlafen, als seine Stimme erneut erklang. »Du solltest die Trochtelfingerin aufsuchen. Vielleicht weiß sie Rat.«
»Ja, werde ich, mach dir keine Gedanken«, antwortete sie. Die Sorge in seiner Stimme drückte auf ihr Gewissen. Was war sie für eine schlechte Ehefrau, die ihren Gatten anlog und ihren Ehepflichten nicht nachkam!
In ein paar Monaten wäre es immer noch früh genug, noch ein Kind zu zeugen, beschwichtigte sie sich selber. Mussten sich ihr Körper und ihr Geist nicht erst erholen?
Ausflüchte!, schimpfte eine zweite Stimme in ihrem Kopf, die sich unangenehm nach der alten Seybothin anhörte. Du bist pflichtvergessen, trotzig, und du verstößt gegen die Regeln, denen sich jeder unterzuordnen hat!
Anne Katharina rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie lauschte Michels gleichmäßigem Atem und starrte in die Finsternis.
Wie es wohl wäre, mit einem Mann, den man über alles liebt und begehrt, das Bett zu teilen? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die schwitzenden Hände in der Dunkelheit, der schwere Körper, der sich auf einen legte, um den Zeugungsakt zu vollziehen, andere Gefühle auslösen könnten als schmerzhaftes Reiben zwischen den Beinen und ein wenig Ekel, wenn seine klebrige Gabe irgendwann wieder herausfloss. War es die Peinlichkeit der Nacktheit vor einem Mann – selbst wenn er stets vorher das Licht löschte? Sie konnte es nicht sagen. Traumfetzen griffen nach ihrem Geist und zogen ihn in die nächtlichen Welten. Es war ihr, als spüre sie zwei Arme, die sich um sie legten. Warme Lippen berührten die ihren. Der Kuss schmeckte süß, der Atem roch nach Leidenschaft. Anne Katharina seufzte wohlig.
Anne Katharina fühlte sich müde und zerschlagen, als sie sich im Morgengrauen erhob. Die eisige Kälte des Februarmorgens griff nach ihrer nackten Haut, die so rüde der schmeichelnden Wärme der Daunendecke entrissen worden war. Eilig tappte sie durch die Kammer, um sich ein langes, wollenes Hemd und Strümpfe aus der Kleidertruhe zu holen. Der Lichtschein ihrer Lampe erfasste das leere Ehebett. Erstaunt hielt Anne Katharina inne, ehe sie sich das Hemd über den Kopf zog. Wohin war Michel so früh verschwunden?
Sie schlüpfte in einen rund geschnittenen, weiten Rock aus gelb und rot gemustertem, flandrischem Tuch und schnürte das passende Mieder über ihrer Brust. Fröstelnd legte sie sich einen bestickten Goller um die Schultern und schob die bestrumpften Füße in die breiten, flachen Lederschuhe, die scherzhaft Kuhmäuler genannt wurden.
Anne Katharina hörte Agnes die Treppe zur Stube hochsteigen. Sicher brachte sie die Milchsuppe, Brot und warmes Bier, das Michel neuerdings zum Frühmahl trank. Schon vor dem Morgengrauen hatte die Magd Holz im Kachelofen nachgelegt, so dass nun wohlige Wärme die Hausbewohner in der Stube empfing. Anne Katharina ging an der Stubentür vorbei. An der Treppe zögerte sie. Sollte sie nach Barbara sehen? Was, wenn die Seybothin noch schlief? Ihre Hand strich unruhig über das speckige Geländer. Abrupt wandte sie sich ab und öffnete die Tür zu der Kammer, in der Bernhard schlief. Nur der zerzauste Haarschopf ihres Sohnes lugte unter dem Daunendeckbett hervor.
»Steh auf, du fauler Geselle! Meister Genger wird dir keine Extraeinladung senden.«
Der zärtliche Tonfall passte nicht ganz zu ihren rüden Worten. Sie trat ans Bett und strich ihrem Sohn über das rotbraune Haar. Gähnend räkelte sich der Junge und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er brummte ein wenig vor sich hin und zählte einige Gründe auf, warum er heute die Schule nicht besuchen konnte, aber seine Mutter lachte nur, zog die Decke von dem schlaksigen Körper, der langsam dem Kindsein entwuchs, und verließ dann die Kammer. Veronica saß bereits auf einem Schemel in der Stube und ließ sich gerade, als Anne Katharina eintrat, von Agnes die Bänder ihres Kleides schließen. Das Mädchen rutschte ungeduldig auf seinem Platz hin und her. Ehe die Magd nicht ihr Haar entwirrt und wieder in strenge Zöpfe geflochten hatte, blieb ihre Schale ungefüllt.
Anne Katharina küsste ihre Tochter, während ihr Blick zu ihrem Ehegemahl wanderte, der auf der Bank saß, neben ihm ein Mann, der die fünfzig bereits überschritten hatte, dessen kraftvoller Körper und sein klarer Blick ihn aber jünger wirken ließen. Er trug ein reich verziertes Barett auf dem Kopf, die wertvolle Schaube mit dem breiten Kragen aus Fuchsfell hatte er achtlos über einen Hocker geworfen.
»Gottes Segen mit Euch an diesem Morgen, Stättmeister Schletz«, begrüßte die Hausherrin den frühen Gast.
Michel Schletz ließ den Zinnhumpen sinken, wischte sich den Schaum von den Lippen und erwiderte den Gruß. Anne Katharina schnitt ihm eine Scheibe Brot ab und schob ihm eine Schale mit Milchsuppe hin.
»Ihr wart auf Reisen, erzählt man sich. Kommt Ihr aus München?«
Der Stättmeister nickte. Noch ehe er den vollen Mund geleert hatte und ihr antworten konnte, mischte sich der Hausherr ein. »Ja, er ist gestern erst kurz vor dem Schließen der Tore zurückgekehrt, und die Stadt wartet voll Ungeduld auf seinen Bericht.«
Anne Katharina sah ihn erwartungsvoll an. Den drängenden Wunsch, ihre Wissbegierde in Worte zu fassen, unterdrückte sie. Sie wusste, wie wenig die Männer es schätzten, wenn Frauen sich – mehr als es ihnen nach Meinung der Männer zustand – für die Ereignisse in der Welt interessierten. An diesem Morgen jedoch war der Stättmeister der Freien Reichsstadt in redseliger Stimmung. Er ließ sich von der Magd den Zinnhumpen noch einmal füllen, rülpste vernehmlich und begann zu berichten.
»Ich war zuerst in München und komme nun aus Stuttgart, wo ich mich selbst vergewissert habe, wie ernst die Lage in Württemberg drüben ist.« Er nickte langsam und schien das Erlebte noch einmal vor seinem inneren Auge zu sehen.
»Ihr wisst, dass Herzog Ulrich schon seit geraumer Zeit versucht, seine Finger wieder nach der alten Heimat auszustrecken, aus der er – meiner Meinung nach zu Recht – vertrieben wurde?« Anne Katharina nickte. Gespannt wartete sie darauf, dass der Stättmeister weitersprach. Der jedoch trank erst noch einige Schlucke und wischte sich den Bart ab. Auch die Magd und die beiden Kinder blickten ihn neugierig an.
»Allerorts herrscht Unzufriedenheit unter dem Volk, und man murrt über die Herrschaft«, fuhr er endlich fort. »Die Württemberger Bauern lieben die fremden Habsburger Herren nicht gerade, und so vergessen sie schnell, wie sehr sie einst unter der Knute des Herzogs gelitten haben. Nun will er plötzlich der Bauernfreund sein und mit ihrer Hilfe wieder in sein Stuttgarter Schloss einziehen. Er ist bereits am Tag des heiligen Matthias mit einer ganzen Schar Schweizer Söldner und einigen Bauernfähnlein gen Stuttgart aufgebrochen. Er lagerte vor Dotternhausen bei Balingen, und seine Schweizer feierten in den umliegenden Dörfern eine wilde Fastnacht!« Er wandte sich wieder an Michel.
»Ich sage Euch, das war ein rechter Schreck am Münchner Hof! Der Truchseß war ja noch mit den Hegauer Aufständischen beschäftigt. Die Zeit drängte, sich mit ihnen zu einigen oder sie zumindest zum Stillhalten zu bewegen, damit er nach Württemberg den Rücken frei hätte.« Der Stättmeister kicherte. »Ja, der Herr Truchseß Georg von Waldburg ist ein Fuchs. Er ließ einen Haufen Hegauer von seinen besten Reitern überfallen und die Gefangenen gefesselt nach Stockach bringen. Das genügte, um den Rest zu überzeugen.«
»Dieses Bauernpack!«, schimpfte Michel. »Der Waldburger geht viel zu milde mit ihnen um.«
»Was blieb ihm anderes übrig? Nun konnte er Ulrich nachjagen. Mit dreihundert Reitern und siebenhundert Landsknechten zog er über Tuttlingen und den beschwerlichen Weg durch das Bärental. Kennt Ihr Balingen?«
Michel schüttelte den Kopf. Auch er lauschte mit offenem Mund dem Bericht des obersten Stadtherrn.
»Der Lochen ist ein Bergvorsprung, der senkrecht über die Stadt emporragt. Der Truchseß beobachtete das Lager und griff am frühen Morgen einen Haufen Schweizer an, die abseits lagerten. Das muss ein Schreck gewesen sein, als die Reiter des Truchsessen im ersten Licht des Tages die Lochensteige hinabsprengten. Er gab keine Gnade, ermahnte sie noch, sich um Leib und Leben zu wehren. Die Schweizer sahen wohl, dass der Waldburger ein Exempel statuieren wollte, um des Herzogs Truppe zu demoralisieren, und so wehrten sie sich tapfer. Die Reiter erschlugen weit über einhundert Männer, wobei von den Adelsleuten des Truchsessen keiner den Tod fand. Nur einige Pferde verloren sie in dem Scharmützel.«
Anne Katharina fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Warum konnte sie die Begeisterung des Stättmeisters nicht teilen? Sie musste doch auf Seiten des Bundes stehen, der das Recht verteidigte und dafür sorgte, dass dieser vogelfreie Herzog, von dem so viele grausame Geschichten erzählt wurden, nicht wieder in Stuttgart Einzug hielt. Und dennoch sah sie vor sich die eingekesselten Schweizer, für die es keine Gnade gab, wie sie, einer nach dem anderen, von den adeligen Reitern niedergestochen und in Stücke gehauen wurden. Sie schüttelte energisch den Kopf, um die blutigen Bilder zu vertreiben, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Richter Schletz’ Worte.
»Die Rechnung des Waldburgers ging auf. Viele Schweizer kehrten Ulrich den Rücken und machten sich auf den Heimweg, und der Bauernhaufen, den er mitgebracht hatte, zog davon. Auch fand er die Bauern im Land nicht so auf seiner Seite, wie er das wohl gehofft hatte. Ulrich zog mit den restlichen Schweizern rasch weiter nach Herrenberg. Sie schossen ein paar Doppelhaken ab, doch der Herzog setzte sich auf den Spitalacker und richtete seine Geschütze auf die Stadt. Nun kam auch der Truchseß mit Trommeln und Fahnen über die Höhe. Man sagt, der Waldburger hätte Schwierigkeiten mit dem württembergischen Landaufgebot gehabt. Sie wären einfach mit ihren Wagen gen Tübingen abgezogen, und so war dem alten Fuchs nichts anderes übrig geblieben, als ihnen zu folgen. Herrenberg fiel an den Herzog, dann Böblingen und Sindelfingen. Dort lagerte er noch, als ich von Stuttgart aufbrach.« Stättmeister Schletz lachte.
»Die Schweizer trinken den Mönchen im Kloster der Vorstadt ihr Bier und ihren Wein aus und haben darüber vergessen, dass es noch eine Hauptstadt zu erobern gilt, ehe Württemberg wieder Land des Herzogs ist. Nun ist also Graf Helfenstein mit Geschützen, Fußknechten und Reitern in Stuttgart eingezogen und wird die Stadt halten. Ulrich hat all seine schweren Geschütze in Balingen zurückgelassen, und ihm fehlt das Geld, die Stadt mit seinen Schweizern lange genug zu belagern, bis sie aus Hunger fällt.«
»Dann bleibt Württemberg also weiter am Habsburger Band«, stellte Michel fest.
Der Besucher nickte. »Ja, wenn nicht die göttlichen Heerscharen sich plötzlich auf Ulrichs Seite stellen, dann ist das das Ende seiner Träume vom wiedergewonnenen Herzogtum. Der Truchseß hat einige Spione in Ulrichs Lager eingeschleust. Sie sollen für Unruhe sorgen und versprechen einen ganzen Haufen Gold für den, der den Herzog ausliefert.«
»Glaubt Ihr, sie werden ihren Herrn einfach so verraten und dem Bund übergeben?«, platzte Anne Katharina heraus.
Richter Schletz zuckte mit den Schultern. »Ja, ich denke schon. Er ist nicht ihr Herr. Er hat sie gekauft. Zeigt mir den Schweizer, der nicht für Gold zu haben ist. Seit jeher haben sie demjenigen gedient, der am meisten bezahlt.« Michel Schletz erhob sich und griff nach seiner Schaube.
»Ich glaube nicht, dass wir lange auf die Nachricht warten müssen, dass dem Herzog endgültig das Handwerk gelegt wurde. Vielleicht haben sie ihn ja schon ergriffen, und er muss sich in diesem Augenblick vor seinem Schöpfer für seine Taten rechtfertigen.«
Der Stättmeister schritt zur Tür. Michel Seyboth setzte sich sein mit Federn üppig verziertes Barett auf, warf sich ebenfalls seinen Mantel um die Schultern und folgte ihm die Treppe hinunter. Anne Katharina und Agnes tauschten stumme Blicke. Die Magd erhob sich.
»Nun wird es aber Zeit für die Schule.« Sie zupfte Bernhard am Ohr. »Lern schön deine lateinischen Sprüche. Irgendeinen Nutzen werden sie schon haben, auch wenn ich ihn bisher nicht erkennen kann.« Sie kicherte, verstummte aber, als sie Anne Katharinas Miene bemerkte. Hastig drückte sie dem Jungen zwei Holzscheite in die Hand.
»Du solltest das Brennholz für den Herrn Magister nicht schon wieder vergessen. Ein gewogener Schulmeister hilft gegen so manchen Rutenstreich.«
Bernhard grinste. »Bei meinem Gedächtnis für diesen lateinischen Unsinn würden nicht einmal Scheite aus purem Gold etwas nützen.« Er nahm seine Schwester bei der Hand und führte sie aus der Stube. Seine Schritte polterten auf der Treppe, dann wurde es still.
Anne Katharina schenkte sich einen Schluck Wein in ihren Tonbecher und seufzte. »Ich weiß nicht, was aus Bernhard noch werden soll, wenn das mit ihm so weitergeht. Die jungen Männer müssen Magister sein oder zumindest das Bakkalaureat der sieben freien Künste auf der Universität abschließen, wenn sie in der heutigen Welt etwas werden wollen. Früher genügte es, einen guten Namen zu haben, eine einflussreiche Familie und Geld. Aber heute? Sieh dir die Ratsherren und Richter doch an!«
Die Magd lächelte. »Ihr seid zu ungeduldig. Es sind zwar nicht mehr die Mönche, die den Kindern mit ihren Rohrstöcken die Psalmen einprügeln, viel angenehmer ist der Unterricht bei den Schulmeistern der Stadt aber sicher auch nicht. Denkt an Euren Bruder Peter. Hättet Ihr es, als er in diesem Alter war, für möglich gehalten, dass er jemals sein Studium erfolgreich absolviert und der Advokat der Familie werden würde?«
Nun lächelte auch die Hausherrin. »Nein, da hast du Recht. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann war er noch widerspenstiger und fauler und hat sich noch häufiger in den Gassen geprügelt. Allerdings weiß ich nicht, wie es ihm gelungen ist, die Prüfungen in Heidelberg zu bestehen.«
»Bestechung oder Erpressung«, vermutete die Magd heiter und begann, die Reste des Frühmahls abzuräumen. Sie wollte noch etwas hinzufügen, das Öffnen der Tür ließ sie jedoch verstummen. Das Lächeln verschwand von ihrer Miene, der Blick senkte sich zu Boden.
»Soll ich Euch die Milchsuppe noch einmal wärmen, gnädige Frau?«, fragte Agnes mit leiser Stimme.
Die alte Seybothin trat in die Stube. Bedächtig zog sie ihre schwarzen Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch, ehe sie sich mit steifem Rücken auf ihren Stuhl setzte.
»Nein. Ich werde heute fasten!«
Die Magd schloss leise die Tür hinter sich und eilte in die Küche hinunter, wo ein langes Tagewerk auf sie wartete.
»Einen guten Morgen«, wünschte Anne Katharina mit heller Stimme. »Wart Ihr in solch eisiger Früh schon aus, Mutter?« Das letzte Wort kam ihr nur schwer über die Lippen. Sie konnte und wollte sich nicht daran gewöhnen, die alte Seybothin Mutter zu nennen. Sie hatte nur eine Mutter gehabt, und die war kurz nach Peters Geburt vor dreißig Jahren gestorben.
»Es ist der Todestag meines Vaters – Gott hab ihn selig!«, antwortete die Alte in scharfem Ton. »Doch anscheinend bin ich in diesem Haus die Einzige, die die Toten in Ehren hält. Ich war in St. Michael, um für seine Seele zu beten und eine Kerze zu stiften. Heute Mittag wird eine Messe für ihn gelesen. Wer weiß, ob er noch immer in den Qualen des Fegefeuers büßen muss oder endlich Gottes Herrlichkeit schauen darf. Trotz meiner schmerzenden Knie habe ich mehrere Rosenkränze gebetet und den Heiligen Blasius angefleht, dass er für ihn bittet.«
Anne Katharina verzichtete darauf, die Erinnerung der Seybothin auf die Predigt des vergangenen Sonntages zu richten. Hatte der Magister Brenz nicht wieder betont, es gäbe gar kein Fegefeuer, in dem die Verstorbenen braten müssten, und es hätte auch keinen Sinn, für sie Seelmessen lesen zu lassen, Kerzen zu stiften oder zu heiligen Marienstatuen zu wallfahren? Er nannte es sogar Abgötterei, die Heiligen anzurufen, und sprach von der Gnade Christi, von dem Geschenk, das man einfach in Demut annehmen müsse. Aber welchen Sinn machte es, mit der Seybothin darüber zu streiten? Sie war noch weniger als ihr Sohn gewillt, das Licht des neuen Glaubens in ihr Herz zu lassen. Sie klammerte sich lieber an die verstaubten Rituale der alten, römischen Kirche. Plötzlich fiel Anne Katharina etwas ein.
»Wenn Ihr heute schon so früh in der Kirche wart, dann liegt Barbara seit Stunden allein in Eurer Kammer!«, rief sie. »Wenn sie nun aufgewacht ist und weint und keiner kommt, um nach ihr zu sehen.«
»Ich habe ihr einen starken Schlaftrunk eingeflößt. Sie ist sicher noch nicht wieder zu sich gekommen«, wehrte die Alte ab.
»Geborgenheit in den Armen ihrer Mutter braucht sie, um gesund zu werden, nicht Euer Gebräu, das sie ruhig stellt!«, ereiferte sich Anne Katharina.
»Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst. Ich habe schon Kinder aufgezogen, da hast du noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt.«
Während die Alte weiter von ihrer Erfahrung sprach, begann sie die Bänder zu lösen, mit denen sie ihre hoch aufragende Haube unter dem faltigen Kinn festgebunden hatte. Die Seybothin gehörte zu den wenigen, vor allem älteren Frauen, die noch solche Ungetüme auf dem Kopf trugen. Die meisten Bürgerinnen schmückten sich mit verzierten Baretts oder kleinen Kappen über ihren Haarnetzen. Allenfalls Kugelhauben durften sich noch modern nennen.
Nun wandte sich die Seybothin wieder ihrem verstorbenen Vater und den Pflichten der Familie gegenüber den Toten zu. Obwohl sie offensichtlich mit den Vorwürfen an ihre Söhnerin noch nicht zu Ende war, erhob sich Anne Katharina.
»Verzeiht, dass ich Euch in einer solch schweren Stunde allein lasse«, sagte sie, »ich muss nach meinem kranken Kind sehen.«
»Nein!«, rief die Alte. »Sie hustet, und ihre Augen sind gerötet. Ich pflege das Kind, und später soll Doktor Brellochs nach ihr sehen.«
»Barbara ist meine Tochter!«
Die Seybothin sah ihre Schwiegertochter verständnislos an. »Natürlich, was hat das damit zu tun? Du wirst dich um deine Aufgaben kümmern und Veronica zu dir nehmen, wenn sie von der Schule zurückkehrt. Ich will dich oben nicht sehen, bis die Gesundheit des Kindes wieder vollständig hergestellt ist.«
Anne Katharina war es, als würde sie in der überhitzten Stube keine Luft mehr bekommen. »Ihr habt Recht, ich muss nun meinen überaus wichtigen häuslichen Pflichten nachgehen. Ich werde mich bei den Finhabern nach dem Befinden des Erben erkundigen und den von Roßdorfs einen Besuch abstatten, um höfliche Konversation zu betreiben, ach ja, dem jungen Mangolt könnte ich zur Wahl seiner Braut gratulieren, und dann muss ich unbedingt beim Krämer vorbeisehen, um Garn und Borten zu kaufen. Schließlich darf die Handarbeit nicht liegen bleiben. Soll ich Euch etwas mitbringen?«
Die Seybothin kniff die blassen Augen zusammen. Der Tonfall ihrer Schwiegertochter war voller Respekt, dennoch war da etwas in ihrem Blick, das ihr nicht gefiel. Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie auf das gefaltete Schleiertuch auf dem Tisch deutete, das sie beim Kirchgang stets über der Haube trug.
»Du könntest mir vom Tucher Stoff für einen neuen Sturz mitbringen.«
»Gerne, Mutter.« Anne Katharina knickste und verließ dann eilig die Stube.
Auf ihren hölzernen Trippen rutschte Anne Katharina über die unebenen Pflastersteine und den angefrorenen Belag aus Lehm und Abfällen. Sie zügelte den für eine Ratsherrnfrau unangemessenen Schritt erst, als sie, ein wenig außer Atem, den Tuchhändler in der Sporengasse erreichte. Sie blieb vor der Ladentür stehen, bis ihr Gesicht aufhörte zu glühen und die Brust sich nur noch langsam hob und senkte. Warum schaffte sie es nicht, auch innerlich ruhig zu bleiben, wenn ihre Stimme der Alten gegenüber den geforderten Respekt bekundete? Warum spürte sie bereits einen Knoten im Magen, wenn sie die Seybothin nur zu Gesicht bekam? Warum konnte sie sich nicht damit abfinden, dass ihre Kinder mehr Zeit in der kleinen Stube unter dem Dach verbrachten als bei ihrer Mutter? Sie hatte gehofft, sich im Laufe der Jahre daran gewöhnen zu können und gegen Vorwürfe und spitze Bemerkungen abzustumpfen, stattdessen schien der Druck in ihr zu steigen. Immer wieder kam es zu hässlichen Szenen, die so leicht zu vermeiden gewesen wären.
Anne Katharina trat bei Tucher Baumeister ein, kaufte den Sturz für die Seybothin und ging dann in die andere Hälfte des Ladens hinüber, den der Krämer Binder mit seinen Auslagen nutzte. Dort suchte sie sich rotes und silbernes Garn aus und vier Ellen einer mit farbigen Ranken bestickten Borte, mit der sie den Halsausschnitt ihres blauen Kleides verschönern wollte. Sie kramte gerade ein paar Heller und einen glänzenden Batzen aus ihrem Beutel am Gürtel, als eine hochgewachsene, schlanke Frau in einer teuren Pelzschaube den Laden betrat. Auf ihrem Blondhaar saß ein kleines, verwegen schief sitzendes Hütchen aus Goldbrokat mit drei langen Straußenfedern, die ihr bei jedem Schritt neckisch um die Ohren wippten.
»Liebste Kathi«, rief die junge Frau, die die Mitte der Zwanziger gerade erst erreicht hatte, eilte auf die Ratsherrnfrau zu und umarmte sie. »Wie schön, dich zu treffen. Lass sehen, was du in deinem Korb hast.« Beim Anblick des Schleiertuches rümpfte sie die Nase. »Das ist doch nicht etwa für dich? Willst du dich unter die alternden Matronen einreihen?«
Anne Katharina schüttelte lächelnd den Kopf und erwiderte die Umarmung der Freundin.
»Was führt die extravagante – viel bewunderte und viel beschimpfte – Anna Büschler hierher?«, fragte sie. »Das ist übrigens eine wundervolle Kopfbedeckung – auch wenn die Seybothin sicher andere Attribute dafür finden würde.«
Anna grinste, verbeugte sich spielerisch und drehte sich dann um ihre Achse, damit die Freundin das Werk von allen Seiten bewundern konnte.
»Ich brauche so manchen Flitterkram, damit die alten Tanten nach der Messe wieder etwas zu reden haben. Außerdem dachte ich daran, mir ein Mieder aus dieser durchwirkten Seide machen zu lassen.« Sie rollte ein wenig Stoff von einem Ballen und hielt ihn vor sich hin. »Meinst du, er ist zu durchsichtig?«
Anne Katharina schüttelte den Kopf. »Ich würde es nicht wagen, so herumzulaufen, aber von dir ist man ja seit Jahren Kummer gewöhnt. Außerdem scheint dein Vater dich mit Münzen nicht zu knapp zu halten – daher kaufe dir diesen herrlichen Stoff!«
Anna schnaubte durch die Nase. »Erinnere mich nicht an meinen Vater! Wir haben uns ganz schrecklich gezankt. Er ist ein Tyrann und ein Geizhals«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken, während sie dem Krämer die Münzen reichte. Der schien ihre ungehaltenen Worte geradezu in sich aufzusaugen. Wann bekam man schon rechten Klatsch über Mitglieder der städtischen Ehrbarkeit direkt aus erster Hand geliefert? Immerhin wurde der reiche Hermann Büschler als der nächste Stättmeister gehandelt, wenn Michel Schletz im Sommer, wie üblich nach Ablauf der Jahresfrist, seinen Posten für mindestens ein Jahr zur Verfügung stellen musste. Anne Katharina zog sie schnell aus dem Laden. Es berührte sie peinlich, solch Bemerkungen vor fremden Ohren auszubreiten.
Eingehakt gingen die Freundinnen durch die Gassen. An einem Bäckerstand kauften sie sich süße Kringel und verspeisten die noch warmen Gebäckstücke auf ihrem Weg. Anna Büschler strebte auf das Kappeltor zu, das in die Gelbinger Vorstadt hinausführte, denn dort wohnte der Hutmacher Craft Renner, der ihr schon manche Kappe oder Haube in ein auffälliges Kunstwerk verwandelt hatte. Der Weg in die Vorstadt hinaus bot den beiden Frauen Gelegenheit, Neuigkeiten auszutauschen.
»Er hat endlich geschrieben!«, raunte Anna der Freundin zu.
»Der junge Schenk?«
Die Büschlerin nickte. Sie öffnete den Beutel an ihrem Gürtel, in dem ein ganzer Packen zusammengefalteter Blätter steckte, und zog ein Schreiben heraus. »Erasmus sagt, ich solle dem Gerede über ihn keinen Glauben schenken. Er will mich sehen, und ein Geschenk hat er mir auch versprochen.« Sie drückte Anne Katharina den Brief in die Hand.
»Herzliebste Jungfrau Anna«, begann das Schreiben. Anne Katharinas Blick huschte über die schwungvollen Zeilen, bis der Brief mit den Worten: »Möge Gott Euch tausend gute Nächte geben und uns mit Freuden zusammenführen«, endete.
Sie gab das Blatt zurück, das die Büschlerin sofort wieder in ihrem Beutel verstaute. »Hast du ihm denn Vorwürfe gemacht?«
Anna nickte. »Aber ja, auf der Burg reden sie von seinen Eskapaden, von den freien Weibern, mit denen er sich umgibt und bis in die Nacht hinein trinkt und unkeusche Dinge tut. Das kann und will ich so nicht hinnehmen!« Sie stampfte mit dem Fuß auf, dass der angetaute Morast zur Seite spritzte.
»Glaubst du seinen Beteuerungen, dass das alles nur Gerede ist?«
Die Büschlertochter zog ein finsteres Gesicht. »Nein, ich weiß sehr gut, dass es wahr ist, und ich weiß auch, dass er mir zürnt, wenn ich ihn deswegen rüge. Von mir verlangt er jedoch, dass ich mich zurückhalte! Dass ich den Zungen keinen Anlass gebe, sich an mir zu wetzen!«
»Weiß dein Vater inzwischen von eurer – Freundschaft?«
Die Büschlerin schüttelte den Kopf, dass die Straußenfedern flatterten. »Gott bewahre! Er würde mich aus dem Haus prügeln oder noch Schlimmeres mit mir anstellen.« Ihre Stimme klang bitter.
»Ihm ist gar kein Mann genehm, der es wagt, mich zu bemerken.«
»Denkst du denn, Erasmus hat ehrenhafte Absichten mit dir?«, fragte Anne Katharina vorsichtig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Schenken von Limpurg damit einverstanden wären, wenn ihr Sohn die Tochter eines Haller Bürgers ehelichte. Sicher, Hermann Büschler stellte einen der wichtigsten Männer der Stadt dar und war mit der adeligen Anna Hornberger aus Rothenburg verheiratet gewesen, dennoch ragten die standesmäßigen Schranken unübersehbar zwischen der Bürgerstochter und dem zwar verarmten, aber stolzen Geschlecht der ehemaligen Reichsschenken von Limpurg auf. Doch war das auch Anna klar?
Die Büschlerin lachte kurz auf. »Kathi, hältst du mich für ein unmündiges Kind? Natürlich spiele ich manches Mal mit dem Gedanken, wie es wäre, einst Herrin von Burg Limpurg zu sein, aber so dumm bin ich nicht, dass ich daran glaube. Vielleicht würde mich mein Vater ja zu diesem Preis gehen lassen, aber die Schenken haben mit Erasmus sicher etwas Besseres im Sinn.« Wieder lachte sie hart. »Es ist eine Tändelei, nein, es ist mehr, es ist eine Liebe, die eine Weile währt – bis er heiratet vielleicht.«
»Oder bis du heiratest?«
Anna Büschler blieb vor der Tür des Hutmachers stehen. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Er wird mich nicht aus seinen Fängen lassen.«
Anne Katharina wollte sie fragen, wie sie das verstehen sollte, aber die Büschlertochter war schon in den Laden gestürmt. Sie stieß kurze Rufe der Begeisterung aus und flatterte zwischen perlenbestickten Bändern und gefärbten Federn hin und her, so als hätten sie sich den ganzen Weg nur über Putzzeug unterhalten.
»Komm, Kathi, sieh dir die Pfauenfedern an! Meinst du, man könnte diese Haube damit schmücken?«
Der Hutmacher begrüßte seine beste Kundin ehrerbietig und wurde nicht müde, ihr Vorschläge zu unterbreiten.
»Los, du musst auch etwas ausprobieren«, forderte die Büschlerin ihre Freundin auf. Anne Katharina betrachtete ihr Barett mit der aufgeschlagenen Krempe, die mit kleinen Perlen verziert war, in einem runden Spiegel, der zwischen zwei Regalen mit Jagdhüten an der Wand hing. Noch immer gärte es in ihr, und so musste die Büschlerin sie nicht lange überreden. Schließlich erstand die Gattin des Ratsherrn Seyboth zwei grün gefärbte Straußenfedern, die ihr – wie Anna immer wieder versicherte – ganz vorzüglich zu Gesicht standen.
»Sie passen wunderbar zu deinen braunen Augen!«, schwärmte die Freundin. »Michel wird begeistert sein.«
Das wiederum wagte Anne Katharina zu bezweifeln. So gern er Frauen mit tiefen Dekolletés oder eng geschnürten Miedern nachsah, bei seiner eigenen Gattin legte er andere Maßstäbe an.
»Trinkst du noch einen Wein mit mir?«, fragte Anna, als sie mit ihrem Bündel unter dem Arm wieder auf der Gasse stand.
Anne Katharina schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten. Ich sollte noch ein paar Anstandsbesuche erledigen, und Veronicas Schulstunde ist bald schon zu Ende. Ich muss mich eilen!«
»Ja, richtig, jetzt gibt es ja auch eine Klasse für Mädchen im verlassenen Gemäuer der Barfüßer.« Die Büschlerin schritt neben ihr her zur oberen Stadt zurück.
»Die Frau von Peter Neff, dem deutschen Schulmeister, bringt ihnen morgens und abends jeweils eine Stunde lang Gebete, Lieder und die zehn Gebote, aber auch Lesen und Schreiben und ein paar Dinge des Haushalts bei«, berichtete Anne Katharina. »Es ist ein Versuch. Magister Brenz hat viel vor. Er will das gesamte Schulwesen neu einrichten. Nicht nur in den Gottesdiensten stehen uns noch viele Änderungen bevor. Wenn es nach ihm ginge, wäre die heilige Messe schon in ganz Hall abgeschafft!«
»Mein Vater hält nicht viel von ihm«, bemerkte die Büschlerin und winkte einem stattlichen jungen Mann zu, der sich tief verneigte und sein Barett zog.
Am Marktplatz nahmen die Freundinnen Abschied. Die Büschlerin hielt Anne Katharinas Hand fest. »Ihr habt doch die Scheune unten in der Kerfengasse. Gibt es da drinnen eine Kammer, die man verschließen kann?«
Anne Katharina zuckte zurück. »Nein, das nicht, aber die Scheunentür hat ein Schloss. Warum?«
»Ich habe mich dort mal umgesehen. Ich suche immer noch nach einem Platz, an dem ich Erasmus ungestört treffen kann, und da dachte ich an die Scheune. Sie gehört doch dir, nicht?«
»Ja, nein«, stotterte Anne Katharina, »sie ist aus dem Erbe meiner Mutter und gehört Peter und mir, aber ich kann dich nicht hineinlassen, unmöglich!«
Anna sah die Freundin überrascht und ein wenig gekränkt an.
»Was kann es dir schon ausmachen?«, wunderte sie sich. »Willst du dich nun zu den Matronen gesellen und mir Vorhaltungen machen?«
Anne Katharinas Gesichtsfarbe wechselte von rot zu blass. »Nein, das nicht, aber ich habe den Schlüssel nicht mehr. Außerdem ist dort drin alles voller Gerümpel und Staub, das kannst du nicht wollen!«
»Wenn du meinst«, stimmte die Büschlerin widerstrebend zu.
»Schade, dass die Seybothin bei euch wohnt, sonst hätte ich um eine Kammer in eurem Haus gebeten.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Anne Katharina froh, dass es ihre Schwiegermutter gab. Der Gedanke, Michel könne davon erfahren, dass sie Anna und dem Schenkensohn unter seinem Dach die Möglichkeit zu einem Stelldichein gegeben hätte, sandte ihr kalte Schauder über den Rücken.
»Na ja, mir wird schon rechtzeitig ein warmes, trockenes Plätzchen einfallen«, sagte Anna nun wieder heiter. Ein verträumter Blick schlich sich in ihre Augen. »Schon morgen werde ich ihn in meinen Armen halten.«
Anne Katharina griff nach ihren Händen. »Du machst doch keine Dummheiten? Du weißt, wie schnell etwas passieren kann, das dir dein ganzes Leben raubt!«
Anna lachte glockenhell. »Kathi, was denkst du von mir? Ich kenne mich aus und treffe meine Vorkehrungen. Sei doch nicht so einfältig. Die Zeit, da mein Liebster nur meine Hand halten wollte, ist längst vorbei. Ihn reizen ganz andere Freuden. Schau nicht so schockiert. Nicht er drängt mich, auch ich sehne mich immer wieder nach den verbotenen Früchten!«, fügte sie trotzig hinzu.
Darüber musste Anne Katharina noch lange nachdenken. Sie eilte mit ihren Einkäufen nach Hause. In der Küche fand sie Agnes, die gerade ein Huhn für das Sonntagsessen ausnahm. Neben ihr auf einem Schemel saß Veronica, kaute an einem Apfel und zählte der Magd die zehn Gebote auf. Die Hausherrin nahm sich einen Hocker, setzte sich neben ihre Tochter und schlang die Arme um die schmale Taille des Kindes. Mit einem genüsslichen Seufzer ließ sich Veronica an die Brust der Mutter sinken.
»Agnes, singen wir noch einmal das Lied?«, fragte das Mädchen.
»Wenn du meinst«, brummte die Magd und drehte dem Huhn das Bein aus dem Gelenk.
Mit heller Stimme begann sie, den Choral zu wiederholen, den die Gläubigen nach der Predigt am vergangenen Sonntag gesungen hatten – auf Deutsch! Die Magd summte die Melodie mit. Der Text war ihr entfallen.
Anne Katharina wiegte das Mädchen in ihren Armen, roch den süßen Duft ihres Haares und überließ sich wieder ihren Gedanken. Wollte sich Anna morgen in irgendeiner Scheune dem um einige Jahre jüngeren Schenkensohn hingeben? So wie sie es verstanden hatte, war das nicht das erste Mal. Wie konnte sie so sicher sein, nicht schwanger zu werden? Ja, es gab gewisse Rezepte, aber wie oft versagten sie oder brachten gar Krankheit und Tod! Und dann noch die Angst, erwischt zu werden! Schon bei dem Gedanken färbten sich Anne Katharinas Wangen rot. War es das alles wert? Konnte die körperliche Vereinigung so verlocken? Vierzehn Jahre war sie nun schon mit Michel verheiratet, doch das ging über ihre Vorstellungskraft hinaus. Für die Männer bot es seinen Reiz und Befriedigung ihrer heißen Lüste, aber für eine Frau? Dennoch war Anna nicht die Art Frau, die sich einschüchtern oder zu etwas überreden ließ, das sie nicht mochte. Anne Katharina dachte an den jungen Schenkensohn. Er sah gut aus, war ein Draufgänger und sicher ein angenehmer Gesellschafter, aber weder für ihn noch für einen anderen Mann würde sie je ihre Ehre aufs Spiel setzen, da war sie sich ganz sicher!
Ein anderes Gesicht schob sich vor das des jungen Schenken. Waren seine Küsse so wundervoll wie der Kuss, der ihre Erinnerung an den fremden Landsknecht band? Ein Hauch von Verstehen huschte durch ihren Geist. Und dennoch, sich ihm nackt und wehrlos hingeben? Nein! Welch schrecklicher Gedanke. Es war schon unangenehm genug, dass man in der Ehe nicht darum herum kam. Die Kinder mussten ja gezeugt werden.
Männerschritte auf der Treppe unterbrachen ihre Gedanken. Anne Katharina erhob sich, strich ihren Rock glatt und ging hinaus. Es war der Arzt, der nach der kranken Barbara gesehen hatte. Die Hausherrin eilte ihm entgegen, um ihn nach dem Befinden ihrer Tochter zu fragen. Er verbeugte sich galant und versicherte der Ratsherrnfrau, dass sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen brauche. Er drückte ihr ein Blatt in die Hand, das mit seiner schnörkeligen Handschrift bedeckt war. Diese Rezepte sollten beim Apotheker angerührt werden. Anne Katharina gab Agnes ein paar Münzen und schickte sie sofort los, um den Trank aus Silberweidenrinde, Teufelsabbiss und Schlüsselblume brauen zu lassen, außerdem eine Paste aus Salbei, Portulak und Honig.
»Ihr solltet ihr Schwitzbäder bereiten und Mandelmilch zur Stärkung verabreichen«, riet der Arzt, ehe er sich noch einmal verbeugte und dann zu seinem nächsten Patienten eilte. Anne Katharina sah ihm eine Weile nach, ehe sie energisch die Tür schloss. Sie raffte ihre Röcke und stieg die beiden Treppen bis unters Dach hinauf, wo die alte Seybothin ihre Schlafkammer und eine eigene, kleine Stube hatte. Oben angekommen, zögerte die Hausherrin.
Warum klopfte ihr Herz und wurden ihre Hände feucht, wenn sie nach ihrem kranken Kind sehen wollte? Musste sie die Erlaubnis ihrer Schwiegermutter einholen, ehe sie Barbara in die Arme schließen durfte? Wieder fühlte sie diesen Druck in ihrer Brust, der ihr so oft den Appetit vertrieb. Sie spürte den heißen Zorn in sich aufsteigen, der sie früher häufig dazu verleitet hatte, gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren. Heutzutage ließ er nur ihre Wangen glühen und erzeugte das Gefühl von Hilflosigkeit.
Wenn wenigstens Peter in der Stadt wäre, dachte sie plötzlich, und das Bild ihres jüngeren Bruders stieg vor ihr auf. Obwohl er die dreißig nun ebenfalls erreicht hatte, lauerte noch immer der jugendliche Schalk in seinem Blick, und er neigte dazu, sich kopflos auf unsinnige Streiche einzulassen. Er war bei sich, aber auch bei seiner Schwester, mit der Auslegung, was sich gehörte und was nicht, sehr großzügig. Ganz anders als Michel, mit dem Peter seit seiner Schulzeit befreundet war, oder ihr älterer Bruder Ulrich, dessen Unterhaltungen mit Anne Katharina meist aus Belehrungen und Ermahnungen bestanden. Von ihrer Schwiegermutter ganz zu schweigen.
Die Mutter ballte die Fäuste, atmete einmal tief ein und aus und klopfte dann forsch an die Tür. Sie wartete nicht auf eine Reaktion von drinnen, öffnete und trat ein. Die alte Seybothin saß in einem Sessel neben dem schon etwas abgewetzten Lotterbett, auf das sie das kranke Kind gebettet hatte. Der Raum war nicht so erhitzt wie die Stube unten, dennoch verbreiteten zwei Kohlepfannen angenehme Wärme. Mathilde Seyboth sah von ihrem Psalmenbuch auf, aus dem sie dem Kind vorgelesen hatte.
»Schließ die Tür! Es zieht!«, sagte sie barsch.
Anne Katharina schloss leise die Tür, trat an das Lotterbett und ließ sich auf die Knie sinken.
»Mein armer kleiner Schatz!«
Die Wangen des Kindes glühten, die Stirn war schweißnass, seine Augen jedoch leuchteten, als es sich an seine Mutter klammerte.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht heraufkommen!«
Anne Katharina drückte das Kind noch fester an ihre Brust. »Ich musste einfach nach ihr sehen und sie in meine Arme nehmen.«
»Hat der ehrenwerte Doktor Brellochs dir nicht gesagt, dass wir nichts zu befürchten haben?«
»Doch, schon.«
Verständnislosigkeit war der Alten ins Gesicht geschrieben. »Aber warum dann?« Sie brach ab und betrachtete schweigend ihre Söhnerin, über deren Wangen zwei Tränen rannen. Plötzlich teilte ein Lächeln die blassen, dünnen Lippen. »Du bist wieder freudiger Erwartung! Ja, da hat man verwirrende Gefühle und verhält sich zuweilen seltsam.«
Die Hausherrin wandte den Blick ab. »Nein, das kann nicht sein.« Sie streichelte das Haar ihrer Tochter und lauschte dem kindlichen Gebrabbel, von dem man noch nicht alle Worte verstehen konnte.
Der Blick der Seybothin wurde wieder hart. »Kommst du deinen ehelichen Pflichten nicht nach? Es wundert mich nicht, dass Michel mit dir nicht zufrieden ist. Ich kann dich nur ermahnen …«
Anne Katharina fiel ihr ins Wort. In ihren Augen funkelte es seltsam. »Das ist ganz allein meine und vielleicht auch seine Sache. Euch hat das nicht zu interessieren!«
Die Seybothin erhob sich und stemmte die Hände in die Hüften. Groß und mager stand sie mit geradem Rücken da, den faltigen Hals ein wenig nach vorn gereckt. Anne Katharina floh, ehe Mathilde ihre Meinung über den unverschämten Tonfall ihrer Söhnerin und den fehlenden Respekt gegenüber der Hausältesten in Worte fassen konnte.