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KAPITEL 3

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Mara lag zusammengekauert im Stroh, zwei warme Decken eng um sich geschlungen, und dämmerte im Halbschlaf durch den Tag. Sie ging wieder über den Marktplatz, die Menschen spuckten nach ihr und beschimpften sie. Sie fühlte die Fesseln um ihre Handgelenke, an denen der Büttel sie durch die Stadt zerrte. Grob stieß er sie in eine Zelle und schlug die Gittertür hinter ihr zu.

Mara fuhr hoch und sah sich hastig um. Die kleine Lampe, die an einem der hölzernen Balken hing, brannte noch und drängte die Schatten in weiter zurückliegende Ecken. Johannes war durch die hastige Bewegung aus ihren Armen gerollt und begann zu weinen.

»Psst, nur ruhig, mein Kleiner.« Sie wiegte ihn in den Armen. »Du musst leise sein, bitte, beruhige dich, es darf uns niemand hören«, wisperte sie ihm ins Ohr.

»Wenn du schön brav bist, dann erzähle ich dir von deinem Vater. Er ist groß und von kräftiger Gestalt und hat das wundervollste Lachen der ganzen Welt. Er kann singen und Geschichten erzählen. Ach, wie oft saßen wir bis zum frühen Morgen mit den anderen Männern um das Feuer und lauschten seiner Stimme. Vater war dagegen, doch ich habe einen sturen Kopf und bin, seit meine Mutter starb, bei so manchem Zug dabei gewesen. Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wo ich schon überall war.« Sie wiegte den Knaben, der inzwischen verstummt war, in ihren Armen.

»In einer schwachen Stunde habe ich zugestimmt, eine Stellung anzunehmen. Vielleicht ahnte ich bereits, dass ich dich in mir trug und den harten Märschen bald nicht mehr gewachsen sein würde? Ach, mein Kind, ich hätte nicht auf Milde hoffen sollen. Wer will schon eine schwangere Magd? Wie viel schwerer war mein Weg, wie viel einsamer die Straße, als ich nun allein dahinziehen musste. Ach, wenn ich nur wüsste, wo er ist. Vor Weihnachten habe ich die Leute sagen hören, die Landsknechte seien über die hohen, schneebedeckten Alpen gezogen, um die Franzosen für den Kaiser zu verjagen. Italien«, sagte Mara und schüttelte den Kopf, »wie unvorstellbar weit. Wer kann schon sagen, wann sie zurückkehren werden.«


Der März strich über das Land. Während die zweite Woche noch einmal eine Ahnung von Winter gebracht hatte, mit kaltem Nieselregen und vom Sturmwind getriebenen Flocken, wurde es ab dem Tag der heiligen Mathilde zunehmend wärmer und freundlicher. Die Handwerker und Mägde saßen nun wieder draußen vor der Tür, um ihre Arbeit zu tun, und ihre fröhlichen Lieder klangen durch die Gassen. Eine emsige Geschäftigkeit breitete sich in der Stadt aus. Es waren nicht nur die Handwerker und Kaufleute, die das Bild bestimmten, nun zogen die Sieder wieder hinunter zum Haal, Salzwasser wurde aus dem Brunnen geschöpft und über lodernden Feuern eingedampft: Die Siedenswochen hatten begonnen. Und doch war das Bild ein anderes, als Anne Katharina es während dreier Jahrzehnte erlebt hatte. Die Nachrichten, die von Süden und Norden her die Stadt erreichten, verhießen nichts Gutes. Viele Stunden hatten die Richter und Ratsherren hinter verschlossenen Türen getagt und beraten, wie sie das Haller Land, und vor allem die Stadt selbst, vor der heraufziehenden Gefahr schützen konnten. Nun also hing die Liste, welche Arbeiten dringend zu verrichten seien, neben der Rathaustür, und alle Bürger und Hausgenossen waren dazu aufgerufen, zu ihrem normalen Tagewerk jeden Morgen und Abend ein oder zwei Stunden der Stadt zur Verfügung zu stehen. Knechte säuberten die Gräben von Unrat und vertieften sie, Weiber trugen Steine heran, mit denen Handwerker die an vielen Stellen brüchige Stadtmauer ausbesserten.

Ulrich war mit dem Richter Peter Firnhaber in die Gelbinger Vorstadt beordert worden, Michel und der Ratsherr Lienhart Troßmann hatten die Aufsicht über die Ausbesserungsarbeiten am Schiedsgraben hinauf bis zum Langenfelder Tor. Stättmeister Schletz und Hermann Büschler verteilten die Arbeiten und fragten jeden Abend ihren Fortgang ab, während der Schultheiß und seine Büttel dafür sorgten, dass keine Händel ausbrachen und kleine Raufereien sofort ein Ende fanden. Überall machten die Gerüchte aus den umliegenden Ländern die Runde. Herzog Ulrich war vor Stuttgart kläglich gescheitert. Nach der Niederlage des französischen Königs in Pavia versiegte seine Geldquelle, und er hatte nichts mehr, seine Schweizer zu bezahlen. Es fehlte ihm an mauerbrechenden Geschützen, mit denen er sich den Weg in seine Residenzstadt hätte freischießen können. Eine Belagerung kam nicht in Frage. So verließen ihn seine Söldner, wechselten die Seiten oder machten sich auf den Heimweg. Mit nur noch zehn Getreuen gelang ihm die Flucht auf den Hohentwiel, wo er sich vermutlich noch immer verbarrikadierte. Es wurde erzählt, seine eigenen Landsknechte hätten versucht, ihn in einen Hinterhalt zu locken, um die Prämie zu kassieren, die der Truchseß auf seinen Kopf ausgesetzt hatte. Nun war Württemberg wieder in Habsburger Hand, doch Ruhe und Frieden waren nicht zurückgekehrt!

In Hall schritten die Vorbereitungen zur Sicherung der Stadt voran. Nach Einbruch der Dunkelheit waren nicht mehr nur der Nachtwächter und seine Gehilfen unterwegs. Paarweise patrouillierten Bewaffnete bis zum Morgen durch die Gassen, und auch die Türmer bekamen Verstärkung. Der Rat wollte nichts dem Zufall überlassen. Kontrolle war wichtig! Man musste wissen, was die Bürger und Bauern taten, wohin sie gingen, worüber sie sprachen, ja, am besten auch, was sie dachten.

Für Anne Katharina wurde es immer schwieriger, ungesehen in die Unterstadt zu gelangen. War sie bisher fast täglich am Abend zu der Scheune hinabgestiegen, ging sie nun dazu über, den Gang am frühen Morgen zu erledigen, wenn die Haller noch schläfrig waren und nicht so sehr auf ihre Mitmenschen achteten.

Abends saß Anne Katharina mit anderen Frauen, Männern und Kindern in der Halle des neuen Zeughauses. Sie füllten Schießpulver ab, kochten Pech und tauchten Kienspäne in den zähen Brei. An langen Gestellen wurden die Fackeln getrocknet. Andere schnitten alte Laken in Streifen und wickelten sie zu Rollen auf. Ein paar Alte vom Spital nähten grobe Hemden und strickten Socken. Etwas abseits saß der Apotheker mit seinen Gehilfen. Sie wogen Schwefel und Asche ab und mischten sie vorsichtig mit viel Salpeter zu einem grobkörnigen, dunkelgrauen Pulver.

Eine zitternde Unruhe lag über der Stadt und ihren Bewohnern. Man wartete darauf, dass etwas passieren würde, obwohl man tief in seinem Herzen hoffte, der Aufstand würde das Haller Land verschonen. Das Warten und die täglich wechselnden Gerüchte schlugen jedenfalls auf die Nerven und machten die Haller reizbar, so dass der Schultheiß jeden Tag mehr Arbeit bekam und die Türme voll waren mit Bürgern und Hintersassen, die dort ein paar Tage und Nächte ihre Wut abkühlten, ehe sie wieder entlassen wurden. Als die dritte Märzwoche anbrach, befahl der Rat, die Tore und Türme mit Schlangen und Kartaunen zu besetzen. Das war ein Spektakel! Alles, was seine Arbeit für ein paar Stunden liegen lassen konnte, war auf den Beinen, um zuzusehen. Vor allem die Kinder liefen kreischend um die großen Büchsen herum. Ein paar Männer unter den Zuschauern gaben gute Ratschläge. Die Pferde wieherten, die Stadtwächter brüllten, wenn wieder eines der Tiere auf dem schlüpfrigen Pflaster auszugleiten drohte. Immer wieder mussten die Männer mit Hand anlegen, um die Kanonen mit den langen, schlanken Rohren und die kurzen Mörser an die ihnen zugewiesenen Plätze zu bringen. Die Tore wurden noch einmal mit schweren Balken verstärkt. Jetzt war die Stadt bereit. Sie wussten nicht, wann und in welcher Art die Unruhen sie erreichen würden, aber die Ratsherren versprachen den Bürgern, dass sie nun für alle Fälle gerüstet waren.

An diesem Abend, nachdem alle Geschütze an ihrem Platz standen und die Wächter und Türmer ihre Posten bezogen hatten, kam Ulrich zum Nachtmahl ins Haus der Seyboths. Er gab Agnes seine Schaube, die er trotz des warmen Wetters getragen hatte, und zog sich das Barett von dem schon licht werdenden Haar. In dunkelblauen Kniehosen, die weißen Strümpfe nach diesem Tag schlammbespritzt, und in einem bestickten Wams aus hellgrünem Tuch saß er auf der Eckbank und nahm dankend den Krug entgegen, den Michel ihm füllte. Schweigend stillten die Männer ihren Durst. Peter war noch nicht nach Hause gekommen.

Mathilde trat mit den Mädchen in die Stube, mahnte sie zur Ruhe und befahl ihnen, ihre Plätze einzunehmen. Die beiden waren lieblich anzusehen in ihren sauberen Kleidern, die Haare streng zurückgekämmt. Veronica trug sie zu Zöpfen geflochten, Barbaras Schopf wurde von einer weißen Rüschenhaube verdeckt. Artig grüßten sie den Vater und den Oheim und ernteten ein Lächeln. Bernhard dagegen, der in die Stube polterte, war deutlich anzusehen, wo er sich heute herumgetrieben hatte. Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, sein Hemd und die Hosen waren von Schlamm beschmiert, und auch seine Hände hatten sicher schon eine Weile keinen Waschtrog mehr gesehen. Auf Michels Stirn bildeten sich Falten, und auch der alten Seybothin war anzusehen, was sie gleich mit schriller Stimme von sich geben würde. Anne Katharina fuhr von ihrem Schemel auf, packte ihren Sohn und schob ihn hinaus, bevor sich das Gewitter über ihm entlud. Vor der Tür stießen sie beinahe mit Agnes zusammen, die, mit Schüsseln beladen, heraufkam. Der Knabe leckte sich die Lippen, als er das gebratene Geflügel entdeckte.

»Ach, Bernhard, wie ungeschickt«, schimpfte seine Mutter und dirigierte ihn die Treppe hinunter in die Küche. »Du weißt doch, dass wir so ein Auftreten nicht dulden können.«

»Du meinst, Vater und die Alte wollen es nicht dulden.«

»Pst!«, beschwor ihn die Mutter und schob ihn zu dem großen Wassertrog. »So darfst du nicht von deiner Großmutter reden.

Und außerdem schätze auch ich es nicht, wenn du so verschmutzt zum Essen kommst. Also, bitte wasch dich und lass deine Kleider am besten gleich hier, damit Agnes sie säubern kann. Ich lege dir in deiner Kammer ein frisches Hemd und eine Hose zurecht.«

Der Junge zog eine Grimasse, nickte aber und begann, sich vor dem Herdfeuer zu entkleiden. »Aber nur, weil die Alte dich sonst wieder auszankt!«

Anne Katharina wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie beschloss, so zu tun, als habe sie die Worte nicht vernommen, und fügte nur noch streng hinzu: »Und vergiss nicht, dein Gesicht zu waschen! Deine Wangen sind voller Schmutz.« Mit gerafften Röcken eilte sie nach oben, um zu sehen, ob in Bernhards Truhe noch einigermaßen saubere Kleidungsstücke zu finden waren.

Als Anne Katharina zurück in die Stube kam, hatten die Männer das erste gebratene Hühnchen bereits vertilgt. Veronica nagte an einem Flügel, Mathilde war dabei, das weiße Fleisch von ihrer Hühnerbrust zu lösen. Sie schnitt sie in kleine Stücke und steckte sie Barbara in den Mund. Die Hausherrin setzte sich und griff nach einem knusprigen Schenkel und einer Scheibe Brot.

»Es sind schon wieder zwei davon aufgetaucht«, sagte Ulrich mit vollem Mund, zog zwei zerknitterte Blätter aus seiner Gürteltasche und schob sie zu Michel hinüber. »Aufhängen sollte man die! Die Schreiber, die Drucker und die, die dafür sorgen, dass dieses Gift verbreitet wird.« Er schluckte und griff nach seinem Becher. Michel glättete das eine Blatt mit seiner fettigen Hand und begann zu lesen. Bald vergaß er weiterzukauen und starrte auf die Worte vor sich. Anne Katharina reckte den Hals, um etwas erkennen zu können. Sicher würden weder ihr Bruder noch ihr Gatte die Flugblätter an sie weitergeben und ihr gestatten, sie zu lesen. Nun hob Michel das Blatt auch noch an, so dass sie gar nichts mehr erkennen konnte! Bisher hatte sie nur ein paar Worte entziffert. Es ging um die Freiheit des Geistes und um die Bibel, deren Geschichten nur symbolischen Wert hätten. Mehr hatte sie leider nicht erhaschen können, doch eines war ihr aufgefallen. Das »L« tanzte wieder aus der Reihe, war gebrochen und zum unteren Ende hin schief. Das Blatt hatte also den gleichen Urheber oder zumindest den gleichen Drucker!

Wenn sie das Schreiben mitzählte, das Agnes vor ein paar Tagen in der Küche vor ihr verstecken wollte, und davon ausging, dass das zweite, in das sich Michel gerade vertiefte, ebenfalls ein gebrochenes »L« aufwies, dann gab es also schon mindestens vier von diesen Pamphleten von derselben Hand. Wer konnte ihr Verfasser sein? Wie wurden sie unbemerkt in die Stadt geschafft und verteilt? Oder saß der Drucker gar in Hall?

Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihren Gedanken. Die Tür wurde aufgestoßen, und Peter kam herein – kaum weniger schmutzig als sein Neffe eine halbe Stunde zuvor.

»Komme ich zu spät? Oh, das tut mir Leid.« Anne Katharina ahnte, dass ihm weniger der Verstoß gegen den Anstand etwas ausmachte. Sein Bedauern galt dem Haufen Hühnerknochen, die sich allesamt abgenagt in einer Schüssel häuften. Ulrich und Mathilde musterten ihn strafend, während Michel noch immer in das zweite Flugblatt vertieft war.

»Es gibt Brot und Kohlsuppe. Wenn du Glück hast, dann hat dir Agnes ein halbes Huhn aufgehoben, aber bevor ich nachsehen gehe, wirst du dich waschen und umziehen! Du bist deinem Neffen ja ein feines Vorbild!«

Peter und Bernhard grinsten sich an. Dann folgte der Advokat lammfromm seiner Schwester zum Waschzuber. Seine Stimmung hob sich sofort, als er in der Küche nicht nur die Magd beim Kneten eines süßen Teiges antraf, sondern auch noch ein ganzes, knuspriges Federvieh über der Glut entdeckte.


Als Anne Katharina in die Stube zurückkehrte, schallten ihr erregte Männerstimmen entgegen. Die Wangen waren vom Wein und der Wärme gerötet und färbten sich nun im Eifer der Worte noch tiefer. Mathilde erhob sich und führte die Mädchen hinaus. Sie winkte auch Bernhard, ihr zu folgen, doch der Knabe wich ihrem Blick aus und starrte fasziniert von seinem Vater zu seinem Oheim und wieder zurück. Ulrich schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Man muss das Übel bei der Wurzel packen. Wenn man ihnen jetzt die Hand reicht, dann wollen sie den ganzen Arm. Wohin soll das führen, wenn der Bauer entscheidet, wie viel er arbeitet und welche Abgabe er bereit ist zu leisten? Haben wir nun das ganze Jahr über Fastnacht, und sind die Narren die Herrn? Wenn ich mein Land verpachte, soll ich dann in Zukunft den Bauern fragen, welche Gült er mir geben möchte? Ihn vielleicht gar auf Knien bitten? Meine Fronarbeit selber machen?« Michel brummte und nickte zustimmend.

»Was mich in Zorn versetzt, ist die Blasphemie, mit der sie Sätze aus der Bibel reißen, um ihre unverschämten Forderungen zu begründen.«

Anne Katharina öffnete ein paar Mal tonlos den Mund und schloss ihn wieder, dann jedoch war das Aufbegehren in ihr stärker als die Vernunft.

»Sie wollen doch nur leben und wehren sich gegen die Willkür der Herren, die sie in den Hunger treibt! Agnes hat mir davon erzählt. Keiner der Bauern will gegen das alte Recht verstoßen. Keiner von ihnen stellt den Kornzehnt oder eine gerechte Gült in Frage. Aber sie wehren sich gegen Steuern, die jedes Jahr erhöht und in immer kürzeren Abständen eingezogen werden, und gegen die Gerichte, die das Recht nur den Herren zukommen lassen.«

Die beiden Männer fuhren hoch und starrten sie an. Für einen Moment waren sie sprachlos, dann fielen sie über die Hausherrin her. Sie redeten beide gleichzeitig, so dass Anne Katharina nur wenige Satzfetzen verstand. Michel drohte, er werde Agnes zeigen, wo ihr Platz sei, Ulrich ereiferte sich, dass seine Schwester über Dinge rede, von denen sie nichts verstünde, und noch dazu so dreist sei, sich in ein Männergespräch einzumischen. Ein Lachen von der Tür her ließ sie verstummen. Dort lehnte Peter und kaute an einem Hühnerbein. Alle starrten ihn an.

»Ach, Anka«, kicherte er, »wie ich höre, hast du dich wieder einmal auf dünnes Eis gewagt und bist darin eingebrochen. Du bist doch ein schlaues Weib, und dennoch könnte in mir der Verdacht aufsteigen, du hättest nur glitzernden Tand in deinem Kopf, wie deine Freundin, die Büschlerin, wüsste ich es nicht besser.« Wieder kicherte er. Seine Schwester und die beiden Männer sahen ihn schweigend an.

»Erstens müsstest du inzwischen wissen, wie solch altmodische Männer wie dein Gatte und unser verehrter Bruder reagieren, wenn ein Weib sich in ihre Gespräche mischt« – er wischte das Raunen der beiden, als er das Wort altmodisch aussprach, mit einer Handbewegung weg – »zweitens sollte ein Weib nie den Worten des Gatten widersprechen, und drittens« – er machte eine bedeutungsvolle Pause – »drittens ist es höchst ungeschickt – vor allem in diesem Fall, da es ja um den einfachen Mann und seine Forderungen geht –, eine Magd als Zeuge und Quelle deines Wissens anzugeben.«

Seine Schwester starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. So muss ein Advokat wohl reden, dachte sie. Sie schwankte zwischen Ärger und dem Lachreiz, der sie in der Kehle kitzelte. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Sie sah in Michels und Ulrichs verdutzte Gesichter.

»Und wie soll ich es dann anstellen, meine Meinung in diesem Haus kundzutun? Oder willst du mir damit sagen, ich solle den Mund schließen, meine Gedanken für mich behalten und meine Hausarbeit erledigen?«

Peter verbeugte sich spöttisch und schluckte den letzten Bissen Hühnerfleisch hinunter. »Wende dich an deinen Rechtsbeistand, denn dafür sind wir Advokaten da. Ich werde es diesen alten Sturköpfen begreiflich machen und ihnen die Augen für die neue Zeit öffnen.«

Endlich lösten sich die beiden so hart angegriffenen aus ihrer Erstarrung und fielen nun über Peter her. Anne Katharina merkte schnell, dass er ihnen mit Worten mehr als nur gewachsen war und dass er auch noch Spaß an der ganzen Sache zu haben schien. Bernhard hing mit einer Miene an den Lippen seines jüngeren Oheims, die an Verehrung grenzte. Nun gut, die Männer waren beschäftigt. Sie erhob sich und verließ so unauffällig wie möglich den Kampfplatz.

Anne Katharina schickte Agnes unter einem Vorwand in die Dachkammer der Seybothin hinauf. Kaum war die Magd verschwunden, zerrte sie ein Fass in der Vorratskammer ein Stück nach vorn, legte das Bündel, das sich dahinter verbarg, in ihren Korb und schob das Fass wieder an seinen Platz zurück. Sie packte noch einige Esssachen darauf, griff nach ihrem Mantel und eilte zur Tür. Gerade legte Anne Katharina die Hand auf den eisernen Knauf, als Peter nach ihr rief. »Anka? Bist du dort unten?«

Seine Schritte polterten die Treppe herab. Er sprang die letzten zwei Stufen herunter und blieb neben ihr stehen. »Ich wollte dich etwas fragen.« Er hielt inne. Anscheinend bemerkte er erst jetzt, dass sie Umhang und Kapuze trug. »Du willst noch weg? Es ist schon lange dunkel!«

Anne Katharina wand sich. Dass sie im Begriff gewesen war, das Haus zu verlassen, konnte sie nun ja nicht mehr leugnen.

»Mir ist eingefallen, dass ich Pater Hiltprand versprochen habe, ihm ein Buch heute noch zurückzubringen.« Sie sah ihren Bruder nicht an, sondern senkte den Blick auf das Tuch, das ihren Korb bedeckte. »Außerdem bringe ich ihm ein paar Äpfel.«

»Und das duldet keinen Aufschub, bis es wieder hell ist?« Er schüttelte den Kopf. Zu Anne Katharinas Erleichterung verfolgte er das Thema jedoch nicht weiter.

»Was willst du mich denn Wichtiges fragen? Sprich jetzt oder warte, bis ich zurück bin!« Ihre Fingerspitzen trommelten auf den Türknauf.

Peter hob abwehrend die Hände. »Nein, richtig wichtig ist es nicht. Es geht nur um die Scheune, die Mutter uns vermacht hat.«

»Ja?« Anne Katharina hielt die Luft an. Das Gefühl der Erleichterung fiel in sich zusammen. Sie spürte, wie sich ihr Nacken verspannte.

»Du brauchst sie doch nicht, oder? Ich habe gesehen, dass du ein Schloss hast anbringen lassen. Gibst du mir den Schlüssel? Nur um ein paar Sachen unterzustellen. Ich will euch ja nicht eure Halle nehmen.« Er winkte lässig mit der Rechten.

»Das Schloss gibt es schon seit Jahren«, berichtigte ihn seine Schwester. »Leider kann ich dir nicht sagen, wo der Schlüssel abgeblieben ist.« Sie hoffte inbrünstig, dass er nicht irgendwo in ihrem Korb hervorlugte. Wie zufällig zupfte sie das Tuch, das über die Äpfel gebreitet war, bis zum Rand. »Außerdem ist sie baufällig und feucht. Wir haben genug Platz für deine Sachen. Scheue dich nicht, sie hierher zu bringen.«

Die Antwort schien Peter nicht zu gefallen. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und ließ den Blick durch die Halle wandern. »Hm, wenn der Schlüssel verloren gegangen ist, dann sollte man das Schloss aufbrechen«, sagte er nach einer Weile. »Ich übernehme das gerne.«

»Nein!«, fiel ihm seine Schwester schärfer ins Wort, als sie es beabsichtigt hatte.

»Aber …«

»Ich kümmere mich selbst darum. Was gibt es denn so Wichtiges, das du in der Scheune unterbringen willst?«

Nun war es an Peter abzuwiegeln. »Nein, nein, war nur so ein Gedanke. Mach dir keine Mühe.«

»Gut, dann wäre das geklärt. Kann ich jetzt gehen?« Anne Katharina öffnete die Tür und wollte über die Schwelle treten, aber ihr Bruder hielt sie erneut auf.

»Warte einen Augenblick, dann werde ich dich zu Pater Hiltprand begleiten.«

»Ach, du willst auch noch einmal weg?«, fragte sie mit wenig Begeisterung.

»Aber ja, nach dieser fröhlichen Runde oben« – er nickte in Richtung Stube – »brauche ich noch ein wenig Gesellschaft, die mich aufmuntert.«

Er eilte in seine Kammer und kam wenige Augenblicke später in seinen Mantel gehüllt und mit einem schmucklosen Barett auf dem Kopf zurück. Anne Katharina blieb nichts anderes übrig, als seinen Arm zu nehmen und sich von ihm in die Pfarrgasse geleiten zu lassen.

»Seit wann nimmst du es mit den Konventionen so genau«, murrte seine Schwester.

»Hier geht es nicht um sinnlose Regeln, hier geht es um deine Sicherheit«, klärte er sie auf. Er klang ungewohnt ernst und erwachsen.

Er hat sein dreißigstes Jahr schon erreicht, sagte sie sich. Er ist schon lange ein erwachsener Mann, ein Advokat, der studiert hat, auch wenn mir das seltsam vorkommt. Für mich ist er immer noch der leichtsinnige Bursche, der er vor fünfzehn Jahren war. Allein dieses spitzbübische Grinsen, das sein Gesicht so oft durchzuckt, lässt ihn viel jünger aussehen. Und ist er nicht gestern erst mit den Kindern in der Halle herumgetollt, als wäre er ihr Bruder, hat mit Bernhard gerungen und mit Veronica im ganzen Haus Verstecken gespielt? Anne Katharina warf ihm einen Blick zu. Der Schein des Kienspans, den Peter in der Linken trug, erhellte sein heute ungewöhnlich ernstes Gesicht.

»Auf welcher Seite steht der Pater denn?«, unterbrach Peter die Betrachtungen seiner Schwester.

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, soviel ich weiß, hat er sein Kloster nicht freiwillig verlassen. Er musste gehen, als der Rat es im vergangenen Jahr schloss. Da könnte es doch sein, dass er einen Groll gegen die neuen Gedanken hegt.«

Anne Katharina schüttelte den Kopf. »Nein, davon weiß ich nichts. Er ist mit Magister Brenz befreundet und mit Pfarrer Herolt aus Reinsberg, der ebenfalls ein Anhänger Luthers ist. Ich glaube, es war nicht seine Überzeugung, die ihn zögern ließ, das Kloster hinter sich zu lassen. Es ist ihm eine Last, von der städtischen Fürsorge abhängig zu sein. Wenigstens bekommt er ab und zu Schreibarbeiten, mit denen er sich ein wenig Geld verdienen kann.«

Peter nickte. Sie erreichten das Haus in der Pfarrgasse, Anne Katharina nahm ihre Hand von seinem Arm und drückte die Haustür auf.

»Ich danke dir für dein Geleit und wünsche dir einen fröhlichen Abend.« Sie lächelte. »Allerdings nicht so fröhlich, dass du anschließend den Heimweg nicht mehr findest. Denk daran, die Büttel sind in diesen Tagen schnell zur Hand, wenn es darum geht, einen übermütigen Bürger im Turm abzukühlen.«

Peter verneigte sich. »Ich werde an deine Worte denken, liebe Schwester. Zuerst jedoch möchte ich ein paar Sätze mit dem Pater wechseln – wenn du gestattest.«

Anne Katharina starrte ihn erstaunt an. Sie musste lange zurückdenken, bis ihr eine Gelegenheit einfiel, da Peter mit Pater Hiltprand gesprochen hatte. Zu dieser Zeit war der Pater noch gut zu Fuß gewesen und hatte immer wieder das Kloster verlassen, um für den Guardian Aufträge in und außerhalb der Stadt zu erledigen.

»Was willst du von ihm?« Noch immer stand sie in der Tür und versperrte ihrem Bruder den Weg.

Er zuckte mit den Schultern. »Nur guten Abend sagen. Hast du etwas dagegen einzuwenden?«

Stumm schüttelte seine Schwester den Kopf, obwohl ihr sehr wohl einiges einfiel, das sie dagegen hatte, aber das konnte sie ihm nicht sagen. So raffte sie ihre Röcke und stieg die Treppe hinauf.

»Einen gesegneten Abend wünsche ich Euch, lieber Pater«, begrüßte sie den alten Mann, der wie gewöhnlich, die Beine von einer warmen Decke umhüllt und ein Buch in der Hand, am Fenster saß.

»Anne Katharina, mein liebes Kind, welch schöne Überraschung.«

Bevor er weiterreden konnte, war sie schon zu ihm geeilt und drückte die knochige Hand. »Ich hatte doch versprochen, dass ich Euch Euer Buch zurückbringe«, sagte sie und fuhr gleich fort, obwohl er etwas erwidern wollte: »Seht her, wen ich heute mitgebracht habe!«

Peter verbeugte sich tief. Die Stimme des Paters klang warm und freundlich, als er den unerwarteten Besucher begrüßte, seine Augenbrauen jedoch hoben sich fragend. Sie tauschten ein paar Höflichkeiten aus, dann wandte sich Peter an seine Schwester.

»Anka, ich sehe da einen Krug Wein in deinem Korb. Willst du ihn nicht in der Küche für uns warm machen?«

Sie wollte nicht! Versuchte Peter, sie loszuwerden?

»Das ist eine gute Idee«, pflichtete der Pater ihm bei. »Sei bitte so lieb, mein Kind.«

Anne Katharina knickste und trug ihren Korb in die Küche. Die Magd hatte das Feuer ausgehen lassen. Seufzend stocherte Anne Katharina in der Asche, ob sich nicht doch noch ein Stückchen Glut finden ließ, an der man das Feuer wieder anblasen konnte.

»Welch Nachlässigkeit, welch Schlamperei«, schimpfte sie, während sie frisches Holz aufschichtete. Über der Lampe entzündete sie einen Span und steckte ihn in das Stroh, das sie zwischen die Scheite geschoben hatte. Endlich brannte das Feuer. Erst als die Flammen in sich zusammensackten, konnte sie den Krug näher heranrücken. Es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, bis sie, drei Becher mit dampfendem Wein auf einem Tablett, in die Stube zurückkehrte. Peter erhob sich gerade und drückte dem alten Mann die Hand.

»Ich muss gehen, Pater. Ich wünsche Euch eine gesegnete Nacht.«

»Und was ist mit dem Wein?«, rief Anne Katharina empört.

Peter trat zu ihr, nahm zwei Schlucke und stellte den Becher wieder auf das Tablett zurück.

»Du bist ein Schatz«, sagte er, drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange und war auch schon verschwunden. Seine Schritte auf der Treppe verklangen. Anne Katharina schnappte nach Luft.

»Hm, der Wein riecht gut. Bekomme ich auch einen Becher davon?«

Die Stimme des alten Mönchs riss sie aus ihren Gedanken. »Aber natürlich, Pater.« Sie eilte zu ihm und reichte ihm den Wein. »Was wollte Peter von Euch?«

»Ah, deine Neugier treibt dich wieder.« Er tätschelte ihr die Hand.

»So warst du schon als Kind. Egal, wie sehr man dich rügte, deine Neugierde konntest du nicht unterdrücken.« Er schloss die Augen und trank genüsslich ein paar Schlucke warmen Wein und vergaß anscheinend darüber, ihr eine Antwort zu geben.


Kaum eine Stunde war vergangen, da stand Anne Katharina vor der Scheune. Sie hatte sich einige Minuten in einem Hinterhof verstecken müssen, bis die beiden Aushilfsnachtwächter mit ihren Fackeln vorbeigezogen waren. Nun knirschte der Schlüssel im Schloss, und die Tür schwang mit einem Knarzen auf.

»Keine Sorge, ich bin es«, sagte sie halblaut und ging auf den kaum wahrnehmbaren Lichtschimmer in einer Ecke zu. Langsam, um sich nicht zu stoßen, umrundete sie einen Stapel leerer Kisten, die eine strohgefüllte Nische nahezu vollständig umschlossen.

Die Frau, die dort auf dem Boden saß, sah sie aus furchtsamen Augen an, den Knaben schützend an die Brust gepresst. Der Lichtschein beleuchtete ihren mageren Arm, als sie den eisernen Schirm zur Seite schob, der die Flamme verdeckt hatte.

»Ich habe dir ein frisches Hemd und ein warmes Tuch mitgebracht, und hier noch einmal Windeln für deinen Sohn.« Anne Katharina stellte den Korb ab und legte das Bündel in ihren Schoß.

»Wie geht es ihm? Ist mit dem Kleinen alles in Ordnung?«

Die großen, schwarzen Augen starrten sie ausdruckslos an. »Es war jemand da«, sagt Mara endlich.

Anne Katharina ließ sich auf die Knie sinken. »Hier drinnen? Aber, wie ist das möglich?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, nicht drinnen, aber draußen vor der Tür. Es hat am Schloss gerüttelt und dann an der Fensterluke geklappert. Ihre Augen wanderten zu dem schmalen Fenster, das mit einem hölzernen Laden von innen verschlossen war. Anne Katharina legte der Frau beruhigend die Hand auf den Arm, aber sie zuckte zurück.

»Du musst dich nicht ängstigen. Das Schloss ist stabil und das Fenster viel zu schmal, als dass jemand hindurchkriechen könnte.«

Während sie das mitgebrachte Essen auspackte, dachte sie über den Eindringling nach. Hatte Peter versucht, in die Scheune zu kommen? Möglich wäre es, und nachdem ihm das nicht gelungen war, hatte er sie nach dem Schlüssel gefragt.

»Du bist hier sicher«, sagte Anne Katharina, »und dennoch müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie es mit euch beiden weitergehen soll. Der Winter ist vorüber, das Kind hat die gefährlichen ersten Wochen überstanden. Und außerdem wird es immer schwieriger für mich, dich hier unbemerkt zu versorgen.«

Die junge Frau drückte das Kind noch enger an sich. »Dann werdet Ihr nicht wiederkommen?«

»Aber nein. So habe ich das nicht gemeint. Ich werde morgen und übermorgen zu dir kommen und jeden weiteren Tag, der nötig ist, bis mir eine Lösung einfällt, wo ihr beide leben könnt.«

»Ja, leben«, sagte Mara voller Sehnsucht. »Ich weiß gar nicht mehr, was das bedeutet. In manchen Stunden habe ich gefürchtet, den Verstand zu verlieren, wenn ich nicht sofort wieder frische Luft atmen und den Himmel sehen kann.«

Der Knabe regte sich und öffnete die Augen. Zärtlich strich ihm die junge Mutter über den Kopf, öffnete ihr Hemd und legte ihn an ihren Busen.

»Brauchst du noch etwas? Einen Eimer frisches Wasser?«

Mara nickte. Sie wiegte das Kind und summte ihm leise ins Ohr. Anne Katharina erhob sich, nahm den verbeulten Topf, den Mara als Nachtgeschirr benutzte, und den Wassereimer und verließ die Scheune. Draußen war alles ruhig und menschenleer. Die Ratsherrngattin querte die Gasse und trat in den Hof hinter dem Frauenhaus. Sie entleerte den Topf und füllte den Wassereimer im Regenfass an der Ecke. Plötzlich erstarrte sie. Aus dem Schuppen, der am Frauenhaus lehnte, erklangen Stimmen. Erst die einer Frau und dann eine Männerstimme. Peter! Schon wieder suchte er die freien Weiber auf! Anne Katharina fühlte Wut in sich aufsteigen. Warum suchte er sich nicht ein anständiges Mädchen, heiratete und gründete eine Familie, so wie es üblich war! Nun, da er endlich seine Studien beendet hatte, würde er sicher bald genug Geld verdienen. Außerdem bekam er aus seinem geerbten Sieden, das Ulrich für ihn betrieb, einige Gulden im Jahr. Was war es nur, das ihn zu diesen grell bemalten, ordinären Weibern zog? Es war eine Sünde, sich so seinem körperlichen Drängen hinzugeben!

Sie lauschte den Stimmen im Schuppen. Eigentlich klangen sie nicht so, als wären zwei Menschen in ihrer tierischen Wollust gefangen, aber es hörte sich auch nicht danach an, als würden sie jeden Augenblick den Schuppen verlassen. So leise wie möglich verließ Anne Katharina den Hof, überquerte die Gasse und brachte Eimer und Topf in die Scheune zurück. Sie verabschiedete sich von Mara und Johannes und schloss sorgfältig hinter sich ab. Einen Augenblick zögerte sie, dann huschte sie noch einmal in den Hof des Frauenhauses hinüber. Sie hatte die Schuppentür noch nicht erreicht, da schwang sie auf und entließ einen Mann und eine Frau in den nächtlichen Hof. Anne Katharina fuhr zurück und stieß mit dem Knöchel gegen das Wasserfass. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch das Fußgelenk, und obwohl sie die Lippen fest aufeinander presste, entschlüpfte ihr ein Stöhnen.

»Was war das?« Peter blieb stehen und sah sich um. Anne Katharina duckte sich hinter das Wasserfass.

Auch die Frau an seiner Seite war stehen geblieben. Sie schnüffelte vernehmlich. »Sicher nur eine Katze«, sagte sie laut, griff nach Peters Arm und zog ihn fort. Anne Katharina atmete aus und erhob sich. Sie vermied es, daran zu denken, wie Rock und Mantel nun aussahen. Sie wollte nur noch schnell nach Hause in die warme Stube kommen. Die Mondsichel trat hinter den bisher dichten Wolken hervor und leuchtete ihr den Weg zur Gasse hinüber. In Gedanken war Anne Katharina schon zurück in der heimischen Keckengasse, als ihre Füße gerade erst den Hof des Frauenhauses verließen. Eine Hand schnellte hinter der Ecke hervor und klammerte sich um ihren Arm. Anne Katharina schrie voll Entsetzen auf und versuchte, sich loszureißen, doch eine zweite, kräftigere Hand griff nach ihrem Ellbogen.

»Da haben wir ja die schleichende Katze!«, hörte sie die Stimme der Hure. »Seht Ihr, ich hatte Recht!«

Die Tür des Frauenhauses wurde geöffnet, um zwei Nachtschwärmer in die Gasse zu entlassen. Der Lichtschein huschte über das Gesicht der Ertappten.

»Anne Katharina!«, stieß Peter zwischen den Zähnen hervor.

Es war lange her, dass er sie bei ihrem vollen Namen genannt hatte, und vermutlich hatte er es noch nie in diesem Ton getan.

»Ihr kennt sie?«, vergewisserte sich die Frau.

»Sie ist meine Schwester!«, stieß er mit solchem Abscheu hervor, dass Anne Katharina fast in Tränen ausgebrochen wäre.

»Und nun?«, fragte die Hure mit den schwarz umrandeten Augen und den grellroten Lippen.

»Geh hinein. Ich bringe sie nach Hause.«

Die Hure nickte, musterte die Ratsherrngattin noch einmal scharf und verschwand dann im Innern des Frauenhauses. Auf der Gasse wurde es wieder dunkel. Noch immer waren Peters Finger fest um ihren Oberarm geschlossen. Der Druck verstärkte sich, und ihr blieb gar nichts anderes übrig, als neben ihm die Gasse entlangzustolpern.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fauchte er. »Du verfolgst mich durch die Stadt? Du spionierst mir hinterher? Wer bin ich? Dein unmündiger Sohn?« Anne Katharina schwieg und konzentrierte sich darauf, nicht auszurutschen. Ihrem Bruder schien es egal zu sein, dass sie mit ihren langen Röcken nicht so weit ausschreiten konnte wie er. Außerdem schmerzte sie ihr Knöchel.

»Ich bin dreißig Jahre alt und ein erwachsener Mann, falls dir das entgangen sein sollte, und es geht dich nichts, aber auch gar nichts an, was ich tue! Willst du wieder den Moralapostel spielen? Und mich aus den Fängen dieser Frauen befreien?«

Seine Schwester stöhnte unter seinem harten Griff, aber er ließ nicht locker. Vielleicht war er zu wütend, es zu bemerken, vielleicht wollte er sie bewusst strafen. Was sollte sie zu ihrer Verteidigung sagen? Welchen Grund könnte sie angeben, der um diese Zeit ihren Aufenthalt beim Frauenhaus erklären konnte? Es fiel ihr nichts ein, daher schwieg sie und lauschte den Worten, die noch mehr schmerzten als ihr Arm.

»Ich hatte gehofft, irgendwann würde es aufhören, dass du dich schlimmer, als eine Mutter es je könnte, mir gegenüber aufführst. Ich bin nicht nur vor Ulrichs Predigten nach Heidelberg geflohen, sondern auch vor deiner unermüdlichen Fürsorge! Ich hätte meine Studien schon vor Jahren beenden können, wenn ich es gewollt hätte, aber es gab nichts, das mich nach Hause zurücktrieb. Und wenn du so weitermachst, dann packe ich mein Bündel und kehre Hall wieder den Rücken.«

»Peter, nein, das ist ungerecht«, stieß sie hervor. »Du weißt nicht, was du sagst, schließlich hast du unsere Mutter nicht einmal kennen gelernt. Ja, ich habe mich um dich gekümmert, um dir die Mutter ein wenig zu ersetzen, doch statt dir Vorschriften zu machen, suchte ich dich stets vor Ulrichs Strenge zu schützen! Wie oft nahm ich die Folgen auf mich, die dein Leichtsinn über die Familie brachte!«

»Vielleicht hättest du das nicht tun sollen«, brummte er. »Kinder müssen lernen, für ihre Taten einzustehen.« Er öffnete die Haustür und schob seine Schwester in die Halle. »Es ist spät. Du solltest ins Bett gehen«, sagte er noch, dann ließ er sie stehen, stürmte in seine Kammer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Ach, und wer behandelt nun wen wie ein unmündiges Kind?«, schimpfte Anne Katharina hinter ihm her. Missmutig stieg sie die Treppe hinauf. »Aber das ist ja sicher wieder etwas ganz anderes.

Schließlich bin ich nur ein Weib, und dem darf ein Mann Anweisungen geben. Ja, ja, stürz dich nur in dein Unglück. Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du dein Leben an die freien Weiber verschwenden willst, statt eine Familie zu gründen.«

Dennoch ging sie in Gedanken die heiratsfähigen Töchter der Stadt durch, die von der Familie und der Mitgift her für ihn in Frage kommen könnten. Vielleicht sollte sie – ganz unauffällig – seine Bekanntschaft mit den ledigen Schwestern seiner früheren Freunde erneuern?

Nein, lieber nicht, dachte sie, während sie ihr Haar zu zwei Zöpfen flocht und die Nachthaube aufzog. Wenn er etwas von diesen Absichten bemerkt, dann macht er seine Drohung womöglich wahr und verlässt Hall. Sie spürte, wie dieser Gedanke sie ängstigte. Peter bedeutete ihr viel, und es war ihr Freude und Trost, ihn hier im Haus zu wissen.

Sie schlüpfte in ihr Nachthemd, das sie seit ein paar Wochen trug. Es kam immer mehr aus der Mode, nackt zu schlafen, und sie fand es angenehm, nicht immer erst nach einem Umhang suchen zu müssen, wenn sie nach einem der Kinder sehen wollte. Anne Katharina trat an die Waschschüssel und schob sich die rüschenverzierten Ärmel hoch. Dort, wo die Hure nach ihr gegriffen hatte, waren zwei schwarze Flecken zurückgeblieben. Die Sünde klebte an ihrer Haut und ließ sich nur schwer abwaschen. Erst als sie zu einem Bimsstein griff, verschwanden die Zeichen der Schande. Die Haut leuchtete rot und war wund, aber sie war wieder rein.


Die nächsten Tage grübelte Anne Katharina darüber nach, wie sie ihr »Problem in der Scheune« lösen könnte. Oft war sie so abwesend, dass man sie zweimal ansprechen musste, ehe sie reagierte. So saß sie am Samstag nach dem Frühmahl bei Agnes in der Küche, aber sie hörte nicht, was die Magd erzählte, während diese auf den Knien den Küchenboden schrubbte.

»Habt Ihr gehört, eine ganze Anzahl von Männern und Weibern ist in das Kloster Schöntal eingedrungen. Zwei Tage und zwei Nächte haben sie gezecht. Die Mönche haben lieber ihren Keller geleert, als sich den Zorn der Meute zuzuziehen. Anscheinend ist der Haufen nun weitergezogen, sich eine andere Wirtschaft zu suchen.«

»Hm.«

»Ich habe gestern Nachricht von meiner Schwester bekommen«, wechselte die Magd das Thema. »Wie Ihr wisst, arbeitet sie in Reinsberg bei Bauer Grohnbach.«

»Hm.«

»Sie ist in der Scheune vom Boden gefallen und hat sich das Bein gebrochen. Anscheinend will die Wunde nicht heilen, und das Fieber lässt das Schlimmste befürchten.«

»Hm.«

Die Magd ließ die Scheuerbürste sinken und drehte sich zu ihrer Herrin um, die mit glasigen Augen vor sich hin starrte.

»Herrin?«

»Hm.«

»Anne Katharina!«

Die Ratsherrngattin fuhr von ihrem Schemel hoch. »Was? Oh, entschuldige bitte, ich habe nicht zugehört. Was hattest du gesagt?«

Für einen Moment verengten sich die Augen der Magd, dann jedoch wiederholte sie in ruhigem Ton, was ihrer Schwester zugestoßen war.

»Wie schrecklich!«, rief Anne Katharina, und für eine Weile verdrängte die Nachricht ihre Sorgen. »Wird sie denn richtig versorgt?«

Agnes zuckte mit den Schultern. »Geld für einen richtigen Chirurgen werden die Grohnbachs sicher nicht ausgeben. Ich glaube, ein Bader hat nach ihr gesehen.«

»Kann man denn gar nichts tun?«

»Ich wollte Euch bitten, ob ich am Sonntag zu ihr gehen darf, um sie wenigstens noch einmal zu sehen, falls es zum Schlimmsten kommt.«

»Aber ja, wir kommen hier schon zurecht.« Grübelnd zog sie die Stirn in Falten.

»Ich würde ein oder zwei Nächte wegbleiben«, fügte die Magd leise hinzu.

»Ja, ja«, nickte die Herrin. »Das Fieber, man müsste etwas gegen das Fieber machen und gegen das Nässen der Wunde. Ich werde Meister Gessner fragen.« Sie erhob sich und ging hinaus. Verwundert sah ihr die Magd nach.

Anne Katharina ließ sich vom Apotheker eine Tinktur gegen Wundbrand geben und ein Pulver mischen, das in Wein aufgelöst das Fieber senken würde. Sie bezahlte die geforderten Silberstücke und machte sich dann auf den Heimweg. Auf der Treppe kam ihr die Büschlertochter entgegen.

»Schon wieder ein Krankheitsfall in der Familie?«, fragte sie die Freundin und deutete auf die beiden Fläschchen in Anne Katharinas Händen. »Ich hoffe doch, es ist die Seybothin und nicht wieder dein zartes Töchterlein.«

Anne Katharina lächelte. »Nein, weder noch, die Medizin ist für Agnes’ Schwester.«

»Die Schwester deiner Magd?«

Anne Katharina nickte. Die Büschlerin hakte sich bei ihr unter und stieg mit der Freundin die Treppe hinunter, die sie gerade erst erklommen hatte.

»Du bist zu gut, viel zu gut für diese Welt«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich hoffe, die großen Kirchenmänner einigen sich bald darüber, ob nun gute Taten für das Seelenheil zu empfehlen sind oder nicht. Jedenfalls vermute ich, dass dein Buch der guten Taten – sollte es existieren – schon bis zur letzten Seite gefüllt ist!«

»Oh, du Schmeichlerin«, wehrte Anne Katharina ab. »Erzähle mir lieber, wie es dir geht.«

Die Büschlerin machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Mir geht es prächtig, denn ich werde mich morgen nach der Messe nach Rothenburg aufmachen.«

»Besuchst du die Familie deiner Mutter – Gott habe sie selig?«

Anna nickte. »Ja, aber das ist es nicht, was mich die Stunden bis zum Aufbruch zählen lässt. Ich werde über Leofels reisen.«

Anne Katharina machte ein verständnisloses Gesicht. »Leofels?«

»Ja, denn ein gewisser Reitersmann ist dort für ein paar Tage einquartiert!«

»Du wirst doch nicht etwa ganz allein reisen!«

Anna verdrehte die Augen. »Und wie soll ich mich heimlich mit Daniel treffen, wenn mir ständig ein Knecht nachschnüffelt? Ich nehme den Wagen. Mit unseren Gäulen komme ich bestens zurecht.«

»Ich hatte auch nicht befürchtet, dass du mit den Zügeln nicht umzugehen weißt«, schimpfte Anne Katharina. »Es geht vielmehr darum, wer sich außer dir noch auf den Landstraßen herumtreibt. Ich denke, nicht einmal dir ist entgangen, dass sich allerorts wüstes Gesindel zusammenrottet.«

Anna Büschler zog die Augenbrauen hoch. »Aber Kathi, das hätte ich nicht von dir erwartet, dass du den armen, unterdrückten Bauersmann, der für eine gerechte Welt gegen die bösen Herren kämpft, als Gesindel bezeichnest!«

Anne Katharina blieb stehen. »Du kannst dir deinen Spott sparen«, schimpfte sie. »Wie kannst du nur so leichtsinnig sein. Was sagt denn dein Vater dazu?«

Die Büschlerin zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich glaube kaum, dass er mich fragen wird, ob ich mir einen Knecht zu meiner Begleitung miete oder nicht. Unser Knecht jedenfalls ist die Tage nicht abkömmlich.«

Anne Katharina blieb vor dem Seybothschen Haus stehen. »Ich merke, es hat keinen Sinn, dir weiter Ratschläge zu erteilen, daher lasse ich es und wünsche dir für deine Reise alles Gute. Ich glaube, du tust gut daran, dich für Daniel zu entscheiden. Dein Vater wird schon einwilligen, wenn er merkt, dass du es ernst mit ihm meinst.«

Anna Büschler schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Du kennst meinen Vater nicht so gut wie ich. Er hat mich an die Stelle seines verstorbenen Weibes gesetzt, weil ich der Mutter so ähnlich bin. Er liebt mich und verwöhnt mich, ist in vielen Dingen nachsichtig mit mir. Ja, ich denke gar, er erfreut sich an meinem Anblick, wenn ich mich wieder einmal so ausstaffiere, dass die alten Klatschbasen fast in Ohnmacht fallen. In einer Sache jedoch wird er hart bleiben. Er wird mich nicht gehen lassen. Wenn es nach ihm geht, dann werde ich mein Leben an seiner Seite führen, bis Gott ihn zu sich nimmt.« Sie seufzte.

»Aber das ist gegen die Natur«, wandte Anne Katharina ein.

»Wenn du einen Mann liebst und mit ihm leben willst und er und seine Familie angemessen sind, dann muss der Vater seinen Segen geben!«

Die Büschlerin küsste ihre Freundin auf beide Wangen. »Ach, liebste Kathi, es ist alles sehr schwierig. Noch will auch ich nicht auf eine Hochzeit drängen. Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Welchen Mann soll ich bevorzugen, welchen wegschicken? Ich liebe sie beide, und beide sind nur selten da. Hier und da ein Briefchen, das genügt mir nicht. Ich mag Erasmus’ fröhliches Lachen. Er ist so unbeschwert und voller Einfälle, und ich liebe Daniels ernste Liebesschwüre und seine Zärtlichkeit. In seinen Armen fühle ich mich geborgen.« Sie schwieg einige Augenblicke. Ihre Miene war ernst. »Nein, noch ist der Augenblick der Entscheidung nicht gekommen. Ich lebe jeden Tag und greife mir das Glück, das sich mir bietet. Wer weiß, wie lange es währt?«

Anne Katharina sah der Freundin nach, wie sie in ihrem eleganten Gewand auf den hohen Sohlen davonschritt. Sie war wie einer der exotischen Vogel, die sich manch Junker aus einem fernen Land hatte mitbringen lassen und der nun in einem Käfig langsam zugrunde ging. Anna war so voller Leben, aber auch leichtfertig, und dennoch konnte Anne Katharina sie nicht verurteilen. Wie lange konnte das Versteckspiel noch gut gehen? Es war ihr, als zögen sich düstere Wolken am Horizont zusammen.

Am Abend saß Anne Katharina noch lange allein in der Stube, als es im Haus bereits ruhig geworden war, und hing ihren Gedanken nach. Es war schon spät, als unten die Tür klappte. Michel kam die Treppe hoch und traf unter der Stubentür mit seiner Gattin zusammen. Ein seltsam süßlicher Geruch hüllte Anne Katharina ein. Michel legte ihr einen Arm um die Schultern und versuchte, sie auf den Mund zu küssen, aber sie drehte das Gesicht weg. Was war das? Sie hatte das schon öfter gerochen, nun jedoch schien der Geruch mit einer neuen Erinnerung verknüpft zu sein. Sie sah Peter vor ihrem inneren Auge auftauchen. Eine nächtliche Begegnung huschte durch ihren Geist.

»Was ist mit dir?«, fragte Michel ein wenig undeutlich. »Warum bist du noch wach?«

Das Frauenhaus! Das Mädchen an Peters Seite hatte nach diesem aufdringlichen Parfüm gerochen.

»Du warst bei den freien Weibern«, stieß Anne Katharina hervor, ehe sie darüber nachdenken konnte, ob es klug war, dieses Thema zu nächtlicher Stunde anzusprechen.

Michel trat einen Schritt zurück und sah seine Gemahlin aus geröteten Augen an. »Eine anständige Frau führt keine solchen Reden!«

»Und ein verheirateter Bürger sollte nicht ins Frauenhaus gehen«, gab sie zurück.

»Das geht dich nichts an«, schrie er. »Wer treibt mich denn aus dem Haus? Wer verweigert mir denn seit Monaten mein eheliches Recht? Habe ich dich je gezwungen? Habe ich dich deswegen gestraft? Also hör auf, mir Vorwürfe zu machen!« Er rülpste und drückte sich die Hand gegen die Leibesmitte. »Ich gehe nun zu Bett«, brummte er und tappte davon.

Anne Katharina sah ihm nach. Sie fühlte sich erschöpft und sehnte sich nach einem weichen Lager, verspürte aber keine Lust, neben Michel unter die Decke zu schlüpfen. Dieser widerliche Gestank hing ihr noch immer in der Nase. Hatte er früher auch so gerochen, wenn er aus dem Frauenhaus kam? Sie überlegte. Vielleicht war es ihr nicht aufgefallen, weil sie keine Verbindung zu den Huren hatte herstellen können, vielleicht roch er heute aber auch stärker als bisher.

Anne Katharina zögerte. Am liebsten würde sie ihn zum Waschtrog scheuchen, bis auch der letzte Rest seines sündigen Tuns von ihm abgenibbelt wäre, aber ihr war klar, dass er diesem Wunsch nicht Folge leisten würde. Wahrscheinlich lag er bereits im Bett und schnarchte!

Nein, heute Nacht würde sie mit Veronica das Lager teilen und den wundervollen Kinderduft einatmen.


Der Sonntag fing mal wieder mit einem Streit beim Morgenmahl an. Die Seybothin schimpfte über Bernhard, der sich nicht ordentlich gekämmt hatte, und machte seiner Mutter die üblichen Vorhaltungen. Michel hatte einen schweren Kopf vom Vorabend. Mit ein paar scharfen Worten brachte er die Frauen zum Schweigen. Peter war erst gar nicht erschienen und tauchte auch nicht auf, als sich alle für den Kirchgang anzogen. Schweigend schritten sie die Keckengasse hinunter und bogen am alten Barfüßerkloster nach rechts in die zum Marktplatz ansteigende Gasse ein. Auf dem großen Platz unterhalb der St. Michael Kirche versuchten, wie an jedem Sonntag, Schmalz- und Honigbäcker den Gläubigen die Messe und die anschließende Predigt mit Honigkringeln oder anderen Leckereien zu versüßen. An der großen Freitreppe saßen Bettler, streckten die Hände aus und sahen die Bürger aus großen, hungrigen Augen an.

»Geht heute Mittag zur Armenschüssel«, schimpfte Michel zwei Burschen. Der jüngere der beiden hatte einen verkrüppelten Fuß, der andere versuchte, das Brandzeichen auf seiner Wange hinter langen Haarsträhnen zu verbergen.

»Der Rat hat das Betteln vor der Kirche untersagt, aber das scheint keinen zu kümmern! Wir müssen strenger durchgreifen, sonst werden wir das Gesindel niemals los.«

»Sie werden von einer Stadt in die andere geschoben, weil niemand sie haben will«, sagte Anne Katharina, »und dann wundern sich die feinen Bürger, wenn sie sich irgendwann einfach nehmen, was sie zum Leben brauchen.«

Michel drehte sich zu seinem Eheweib um und funkelte es an. »Die Stadt sorgt sehr wohl für ihre Armen, und auch die Wandernden dürfen ein paar Tage bleiben. Willst du jeden Strauchdieb in die Stadt locken? Du könntest all unser Geld verschleudern und würdest dennoch das Elend in dieser Welt nicht ausrotten. Wir geben Almosen und verhalten uns, wie es von anständigen Christen verlangt wird! Das ist mehr, als man erwarten kann.«

Anne Katharina presste die Lippen aufeinander. Sie nahm Barbara in ihre Arme und trug sie die letzten Stufen bis zum Portal hinauf, durch das die Bürgerschaft in die Kirche strömte.


Es war noch nicht Mittag, als sich die ersten schwangeren Frauen aus Braunsbach und der Umgebung unten an der Mühle am Kocher einfanden, wo der Müller sie, wie es der Brauch war, zum Fischessen geladen hatte. Ein knappes Dutzend Weiber waren es, mit mehr oder weniger geschwollenen Bäuchen, die sich fröhlich schwatzend um den Tisch setzten und sich gedünsteten Fisch und Kohlsuppe schmecken ließen. Auch Marga, die Frau von Agnes’ Bruder Wolf, war unter ihnen. Die Frauen lachten und scherzten, während sie das Essen mit Kocherwein hinunterspülten. Bei Marga würde es noch zwei Monate dauern, die dicke Grete an ihrer Seite dagegen wartete jeden Moment, dass es mit den Wehen beginnen möge. Sie hatte Wasser in den Beinen und konnte kaum mehr vom einen Ende des Dorfes zum anderen gehen. Der quirligen Els, die auf der anderen Seite saß, sah man ihre vierte Schwangerschaft noch nicht so recht an, aber sie schwor bei Gott, dass auch sie ein Anrecht auf das Essen habe.

Die Sonne stieg höher, und die Teller waren geleert, als die Ehemänner sich zu ihren Weibern gesellten. Und weil es solch ein schöner Tag war und der Wein schließlich getrunken werden musste, setzten sie sich zu ihnen. Sie redeten und tranken, riefen nach immer mehr Wein und vergaßen ganz, dass sie gekommen waren, um die Frauen nach Hause zu begleiten. Natürlich waren auch in Braunsbach die Unruhen in den Dörfern das wichtigste Gesprächsthema. Plötzlich tauchte eine Gruppe Männer auf. Zwei Dutzend waren es, die sich pauken- und pfeifespielend der Mühle näherten. Wolf erkannte den Geislinger Veit Lang und Hödlin aus Enslingen. Ein Großteil der Bauern, die nun ihre Trommeln und Pfeifen zur Seite legten und den Müller Rapolt nach Wein schickten, schien aus Jungholzhausen zu stammen.

»Was ist das für ein Umzug?«, fragte Wolf und hob prostend seinen Becher.

»Wir wollen auch einen Haufen versuchen«, antwortete einer der Jungholzhäuser.

»Er hat Recht! Wir sollten uns der Bauernlust anschließen!«, stimmte ihm Hödlin von Enslingen zu, ein kräftiger Mann mit fransigem Blondhaar. Einige andere nickten.

»Ja, wir müssen sie unterstützen«, rief der Schmied.

»Auch wir wollen frei sein und nicht den Haller Säckel mit unserer Hände Arbeit füllen!«, sagte Veit Lang, ein Hüne mit grauem Bart, dem stets jeder zuhörte, wenn er die Stimme erhob.

Wolf ließ sich den Becher noch einmal füllen. »Das ist richtig. Es ist an der Zeit, die Fesseln abzuwerfen. Doch wenn das recht gelingen soll, dann müssen wir uns zusammenschwören und sehen, dass wir jeden Mann bekommen!«

»Und jede Frau«, schrie die dicke Grete dazwischen. Die anderen Weiber johlten.

»Ja, genau, dich werden sie mit zum Aufstand tragen!«, kicherte Marga.

»Ruhe, ihr Weiber«, herrschte sie der Lang an. »Das ist eine ernste Angelegenheit. Hier geht es um unsere Freiheit!«

»Wir brauchen einen Anführer«, mischte sich Wolf ein. »Du solltest uns führen, Veit, zu dir haben wir Vertrauen.«

Die anderen murmelten zustimmend.

»Nein, keiner sollte allein über die anderen bestimmen. Ich schlage vor, ihr wählt auch den Hödlin zum Hauptmann.«

Sie tranken und redeten noch eine Weile und einigten sich schließlich, dass der Lang und der Hödlin sie anführen sollten. Zum Zeichen ihres Bundes schlug jeder von ihnen mit einer Axt in den Mühlbalken.

»Nun ist der Pakt geschlossen«, verkündete Hödlin feierlich.

»Bringt eure Weiber nach Hause. Dann werden wir von Hof zu Hof ziehen und sehen, ob wir die Bauern und ihre Knechte für die Sache gewinnen können.«

Die Männer und ihre Frauen jubelten und zogen in ihrem Rausch von Wein und freudiger Erwartung ins Dorf zurück.


Die Sonne schien warm, als die Gläubigen zwei Stunden später aus dem Tor von St. Michael hinaustraten und die Treppe hinabstiegen. Die Bäcker beeilten sich, den Rest ihrer Waren zu verkaufen. Es gesellten sich Wirte und Metzger dazu, die Fleischspieße und kleine Fische über Kohlebecken brieten und Wein und Met ausschenkten. Ein Flecksieder rührte in seinem Kessel, aus dem scharfer Dampf aufstieg. Heute würden die Geschäfte gut gehen. Das Wetter war prächtig und lud zum Verweilen ein. Die verwirrenden Nachrichten, die vom Umland in die Stadt schwirrten, verlangten danach, ausgetauscht und besprochen zu werden, und die Messe mit der langen Predigt hatte die Kirchenbesucher hungrig und durstig gemacht. Wenn auch manche es ablehnten, sich vor dem Kirchgang mit Leckereien zu verwöhnen, so sprach zu dieser Stunde nichts dagegen, es sich wohl sein zu lassen.

Anne Katharina kaufte den Kindern Schmalzgebäck mit Nüssen, obwohl Mathilde etwas von »Verschwendung« und »Kinder verziehen« vor sich hin schimpfte. Michel nahm sich einen Becher Wein. Man grüßte Bekannte und plauderte ein paar Worte mit ihnen. Anne Katharina ließ den Blick schweifen und versuchte, die Gesprächsfetzen zu sortieren, die an ihr Ohr drangen. Drei Männer schoben sich an ihr vorbei und stellten sich neben eine Kohlenpfanne, auf der fettige Fleischbrocken brutzelten.

»Die von Kirchberg und Ilshofen sind nun auch aufgestanden, habe ich gehört«, sagte Bartel Kling, der seine Silberschmiede beim Gelbinger Tor hatte.

»Das wundert mich nicht«, brummte der Metzger Bernhard Esslinger. Mit einer Zange drehte er die Fleischstücke um, ehe er weitersprach. »Dort gibt es einfach zu viele Herren. Die Leute zahlen an den Markgrafen Kasimir, die Herren von Vellberg und von Crailsheim, das Kloster Anhausen, die Komburger, die Klosterfrauen von Rothenburg und nicht zuletzt an die Reichsstädte Rothenburg, Dinkelsbühl und natürlich Hall. Wer kennt sich denn da noch aus?«

»Ja«, stimmte ihm der Silberschmied zu, »man hat das Gefühl, dass die Herrschaften sich mit ihren Lasten und Fronen gegenseitig zu übertrumpfen suchen.«

»Ich glaube, das größte Ärgernis ist, dass in Kirchberg die Luft allein schon eigen macht«, mischte sich nun Bartels Begleiter, der Gerber Steffen Feyerabend, ein. »Seit Hall, Rothenburg und Dinkelsbühl dem Hohenloher seine Ämter Kirchberg und Ilshofen abgekauft haben, fällt jeder in Leibeigenschaft, der dort länger als drei Monate lebt.«

»Und wenn schon«, sagte ein dritter Mann, den Anne Katharina nicht kannte. »Das bedeutet halt einen Heller mehr pro eigenen Gulden an den Obervogt. Es ist eine Abgabe unter vielen.«

»Nein, so einfach ist das nicht zu sehen.« Der Metzger schwang seine Zange, so dass die Männer vorsichtshalber einen Schritt zurückwichen. »Die Prediger, landauf, landab, erzählen den Leuten, dass Christus sie mit seinem Blut befreit hat. Für sie ist leibeigen zu werden mehr, als nur eine weitere Steuer zu bezahlen.«

Rufe von der anderen Seite des Marktplatzes her lenkten Anne Katharina ab. Sie reckte den Hals, um besser sehen zu können. Ein Dutzend Männer kamen die Schmalzstaffel herauf. Ihre lauten Stimmen hallten über den Platz, doch die Worte waren nicht zu verstehen. Anne Katharina schob sich zwischen schwatzenden Mägden und einigen ehrbaren Herren hindurch, um besser sehen zu können. Der Kleidung nach zu urteilen, waren die Neuankömmlinge Bauern oder Knechte aus den umliegenden Dörfern. Einige hatten Sauspieße dabei, andere lange, gebogene Messer an ihren Gürteln. Der Klang der Stimmen ließ vermuten, dass heute schon eine Menge Met oder Wein durch ihre Kehlen geflossen war. Einer von ihnen schwenkte seinen Hut, auf dessen Krempe er ein weißes Kreidekreuz gemalt hatte. Die alte Seybothin nahm die Mädchen an den Händen und zog sie mit sich fort. Bernhard drängte sich an seinen Vater und ignorierte ihre Blicke. Immer, wenn etwas Spannendes passierte, sollte er wie ein kleines Kind nach Hause gehen.

»Bernhard! Komm her, wir gehen heim!«, hörte er ihre scharfe Stimme.

Er reagierte nicht. Als sie das zweite Mal rief, sah sein Vater ihn an.

»Kannst du nicht hören?«, schimpfte er. Mit hängendem Kopf folgte Bernhard der Großmutter und seinen Schwestern.

Michel Schletz drängte sich durch die Menge. Hektisch winkte er nach dem Schultheiß, der ihm mit zwei seiner Büttel folgte. Die Bauern grölten, dann jedoch verstummten sie, um zu hören, was der Stättmeister ihnen zu sagen hatte.

»Heute Morgen wird ja richtig was geboten«, erklang die Stimme der Büschlertochter hinter Anne Katharina. Sie war bereits für die Reise gekleidet und hatte auf anstößige Extravaganzen verzichtet. Plötzlich kam Anne Katharina eine Idee.

»Welchen Weg wirst du nehmen? Kann Agnes nicht mit dir fahren? Ihre Schwester lebt in Reinsberg.«

Die Büschlerin nickte. »Es macht sicher keinen großen Unterschied, ob ich über die Höhe fahre oder dem Kocher folge, und der Karren ist groß genug für mindestens vier Leute.«

Anscheinend hatte Michel das Gespräch der Frauen mit angehört, denn er drehte sich zu ihnen um. »Was höre ich da? Agnes will nach Reinsberg?«

Seine Gattin erzählte ihm vom Unfall und dem schlechten Zustand der Schwester und dass Annas Fahrt eine gute Gelegenheit biete, dorthin zu gelangen.

Michel schüttelte den Kopf. »Sie wird nicht fahren!«

»Was? Aber warum denn nicht? Ich habe es ihr erlaubt und Medizin für ihre Schwester gekauft.«

»Aber ich sage nein! Ich bin der Herr im Haus, und ich finde es nicht gut, wenn Frauen in diesen Zeiten über Land reisen.«

Anne Katharina vergaß ganz, dass sie der Freundin mit dem gleichen Argument von ihrer Fahrt abgeraten hatte. Nun fühlte sie nur den Zorn, von ihrem Gatten in aller Öffentlichkeit gedemütigt zu werden.

»Agnes ist meine Magd. Sie hat mir schon vor unserer Ehe gedient. Daher kann ich entscheiden, ob sie ihre todkranke Schwester noch einmal sehen darf.«

Michels Gesicht lief rot an. »Ja, du hast sie mit in die Ehe gebracht, und daher steht sie, wie deine Mitgift, nun unter meiner Verantwortung. Es kann ja sein, dass bestimmte Herren dieser Stadt ihre Töchter oder Weiber ihres Hauses herumvagabundieren lassen, doch ich gehöre nicht dazu. Ich sage dir: Schluss jetzt mit diesem Unsinn. Du wirst nach Hause gehen und dort auf mich warten, und kein Weib dieser Familie wird die Stadt verlassen, wenn ich es nicht ausdrücklich erlaube!«

»Ach ja?«, zischte Anne Katharina, nun genauso rot. »Das werden wir ja sehen. Erwarte nicht, mich daheim vorzufinden, denn ich werde Agnes begleiten! Komm Anna.«

Nun wurde Michel blass vor Wut. Er griff nach ihrem Arm, doch der Stättmeister unterbrach den ehelichen Zwist.

»Michel, kommt schnell, wir müssen alle Ratsherren zusammenrufen. Da braut sich etwas zusammen. Wir sollten in kleinen Gruppen die Dörfer abreiten, um die Bauern zu beschwichtigen. Sie müssen ihren Treueschwur erneuern.«

»Wage es nicht!«, drohte Michel seinem Weib, dann eilte er hinter dem Stättmeister her zum Rathaus hinunter.

Das Kreidekreuz

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