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PROLOG

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Es war weit nach Mitternacht, als der Stättmeister an die Tür des Hauses in der Keckengasse klopfte und kurz darauf eintrat. Eine Magd taumelte verschlafen in die Diele, nur mit einem Hemd bekleidet, das sie sich offensichtlich hastig übergeworfen hatte. Sie blinzelte den nächtlichen Besucher an, der in Reithosen und einem ledernen Wams vor ihr stand, einen Kienspan in der rechten Hand.

»Ach, Ihr seid das, Herr Stättmeister«, sagte sie. »Ich dachte vielleicht …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.

Agnes ließ es sich nicht anmerken, was sie davon hielt, zu dieser Stunde ohne Vorankündigung einen Besuch im Haus eines Ratsherrn zu machen. Das gehörte sich nicht! Doch wer fragte in diesen Zeiten, in denen alles aus den Fugen geraten war, noch danach, was sich gehörte?

»Soll ich den Herrn wecken?«, bot die Magd an.

Stättmeister Schletz nickte.

»Ihr könnt in der Stube auf ihn warten. Ich bringe Euch Wein.«

Sie nahm sich einen Umhang vom Haken, wickelte ihn um die Schultern und tappte dann barfüßig vor dem hohen Herrn der Stadt die Treppe hinauf. Der Stättmeister steckte seine Fackel in einen der eisernen Halter an der Wand, ehe er der Magd folgte. In der Stube brannte Licht.

»Herr!«, rief die Magd entsetzt und eilte zu dem Mann, der vor einem leeren Weinkrug saß und trüb vor sich hin starrte.

»Eine gesegnete Nacht, Michel«, sagte der Stättmeister, zog seinen Hut und warf ihn achtlos auf eine Truhe. »Darf ich mich setzen?«

Michel Seyboth nickte. Er streckte der Magd den leeren Krug entgegen. »Agnes, hol uns Wein. Den guten Moselwein vom hinteren Fass.«

Die Magd nickte, nahm den Krug entgegen und ging hinaus.

»Ich frage nicht, wie es Euch geht, denn ich sehe es deutlich. Habt Ihr noch immer nichts von ihr gehört?«

Michel schüttelte den Kopf und sah den Stättmeister aus trüben Augen an. »Am Sonntag, bevor sie mit der Büschlerin auf und davon fuhr, habe ich mein Weib das letzte Mal gesehen. Agnes sagt, sie wäre mit den Bauern mitgegangen.«

»Sicher nicht freiwillig!«, protestierte der Stättmeister. »Sie streifen allerorts durch die Dörfer, und wer nicht willig ist, den zwingen sie mitzuziehen.«

Michel seufzte. »Ich weiß nicht, welcher Gedanke mir weniger gefällt. Wer kann schon sagen, was diese verblendeten Hitzköpfe einer Bürgerin antun?«

Der Stättmeister legte die Hand auf seinen Arm. »Gebt Euch nicht solch trüben Gedanken hin. Der Spuk ist bald vorbei – so oder so«, fügte er düster hinzu.

Michel richtete sich auf und sah den Stättmeister aufmerksam an.

»Wie meint Ihr das?«

»Wenn meine Boten Recht haben, dann lagern die Bauern irgendwo bei Gailenkirchen oder dem Gottwollshäuser Riegel. Sie sammeln Kraft, um morgen in aller Frühe die Stadt anzugreifen.«

Michel sog scharf die Luft ein. »Was können wir tun?«

»Wir werden versuchen, den Riegel zu schützen, damit sie gar nicht erst die Heg durchbrechen. Wenn alles schief geht, müssen wir uns wieder in die Stadt zurückziehen und versuchen, die Mauern mit unseren Geschützen zu halten.«

Michel nickte. »Warum seid Ihr gekommen?«

»Um Euch zu sagen, dass wir Euch brauchen. Ich selbst werde das Fähnlein führen. Wir haben fünfhundert Männer, die bereit stehen, zwei Stunden vor Sonnenaufgang aufzubrechen. Es sind vor allem Handwerker, nur wenige Kriegsknechte sind dabei. Wir werden die leichten Falkonetten auf einspännigen Wagen mitnehmen.«

»Fünfhundert?«, murmelte Michel und kaute auf seiner Unterlippe. »Wie viele Aufständische zählt der Haufen?«

Der Stättmeister wandte den Blick ab. Agnes brachte einen vollen Krug herein und zog sich dann gleich wieder zurück. Der Stättmeister prüfte den Wein und lobte ihn überschwänglich. Offensichtlich war ihm die Unterbrechung nicht unangenehm.

»Wie viele?«

»Ihr wisst, dass man den Zahlen oft nicht trauen kann. Die Haufen wirken meist größer, als sie es wirklich sind«, wiegelte er ab.

»Wie viele?«, wiederholte Michel hartnäckig.

»Sie haben keine Erfahrung und sind nur schlecht bewaffnet.«

Michel sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Gut«, seufzte der Stättmeister. »Die Boten schätzen, dass es viertausend sind oder mehr.«

Michel pfiff durch die Zähne. »Viertausend«, wiederholte er langsam. Er schob den Becher weg und erhob sich. »Ihr werdet jeden Mann brauchen, den Ihr bekommen könnt.«

Stättmeister Schletz nickte. »Wir treffen uns zur vierten Stunde am Weilertor.« Er erhob sich und griff nach seinem Hut.


Die Männer scharrten nervös im Straßenschmutz. Es hatte sich offensichtlich herumgesprochen, dass es kein Spaziergang werden würde. Die meisten trugen Brustpanzer aus Leder, das mit Metallplättchen verstärkt war. Sie waren mit Hellebarden und verschiedenen Spießen bewaffnet, andere trugen schwere Steinschlossgewehre oder Armbrüste, nur wenigen hing ein Schwert an der Seite. Kaum vierzig Reiter waren unter ihnen. Auf Trommler und Pfeifer hatte der Stättmeister verzichtet. Schließlich wollten sie die Bauern überraschen.

»Michel, Ihr befehligt die Falkonettschützen, Ratsherr von Rinderbach wird die Reiterei übernehmen und Ratsherr Büschler die Gewehr- und Armbrustschützen. Folgt mir und bleibt an der Steige dicht zusammen.«

Schweigend schritten sie durch das Tor. Die Karren mit den Kanonen knarrten, eines der Pferde wieherte. Sie hatten keine Fackeln entzündet, so dass ihnen nur der Mond, der ab und zu zwischen den Wolken auftauchte, ihren Weg beleuchtete.

Noch keine Stunde war vergangen, als sie das Ende der steilen Steige erreichten. Normalerweise konnte man von hier in die sanfte Mulde auf das Dorf Gottwollshausen hinabsehen, hinter dem die innere Grenze des Haller Landes mit ihrer dichten Hecke und dem Graben verlief, doch heute lag Nebel wie ein weißer See über dem Weiler. Die Nacht begann zu verblassen.

Michel Schletz ließ die Männer anhalten. »Verfluchter Nebel. Es ist keine fünfzig Schritte weit zu sehen. Wir können jeden Augenblick auf sie stoßen«, sagte der Stättmeister. »Bringt die Kanonen in Stellung und feuert ein paar Schuss ab, dann werden wir bald wissen, ob sie hier in der Nähe herumlungern.«

Er schickte die Reiter nach links und stellte die Schützen in drei Reihen auf. Die Männer mit den Spießen teilte er in zwei Gruppen.

»Michel, seid Ihr bereit?«

Der Ratsherr nickte. Vielleicht war dort irgendwo im Nebel, inmitten des zügellosen Haufens, seine Gemahlin.

Was werden sie mit ihren Gefangenen tun, wenn sie merken, dass sie angegriffen werden?, überlegte Michel. Oder hatte sie sich ihnen doch freiwillig angeschlossen? Konnte ihr Trotz sie zu solch einer Verrücktheit getrieben haben?

»Entzündet die Lunten!« Michel Seyboths Stimme klang fest.

Anne Katharina, dachte er, nur Gott weiß, wie dieser Tag enden wird.

»Feuer!«

Das Kreidekreuz

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