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Der Wecker hatte sicher noch nicht geklingelt. Oder doch?

Lena wollte sich mit dieser Frage eigentlich gar nicht beschäftigen, sondern rasch in die Traumlandschaft zurückschlüpfen, durch die sie fuhr. Der Himmel offen, so weit, so blau! Sanft abfallende Hügeln verschmolzen mit dem durch schwarze Wolkenfäden verwobenen Horizont und in diese Verschmelzung fuhr sie, ganz unangestrengt zurückgelehnt, mit dem Zug. Sie wusste nicht, wohin er sie bringen sollte, doch wusste sie, dass es wichtig war, sie hatte eine Aufgabe, sie musste …

Irgendetwas rüttelte, riss an ihr. Egon. Nicht der schon wieder!

»Nein, geh weg! Lass mich schlafen!« Sie drehte sich zur Seite, wollte ihre Augen fest zupressen, doch davor hatten diese mürrisch die digitale Anzeige angeblinzelt.

07:10. Schonungslos, in Leuchtschrift.

Sieben Uhr ZEHN? Das konnte doch nicht sein! Lena sprang aus dem Bett, hastete zum Kinderzimmer, riss die Tür auf, machte das Licht an.

»Kinder! Kinder! Aufstehen! Wir haben verschlafen! AUFSTEHEN!! Schnell, schnell, schnell, raus aus den Betten!«, dazu schaltete sie das Licht ein und aus und ein und aus und wieder ein, stolperte über das Playmobilschiff, unterdrückte einen Fluch, zupfte an den Bettdecken und an den kleinen Füßen, die sich sofort darunter zurückzogen wie Schneckenfühler, wenn Gefahr droht.

Was für eine grausame Welt, in der man Kinder aufwecken musste! Alles in ihr sträubte sich dagegen, trotzdem zupfte sie weiter, plapperte auf sie ein, flehte sie an. Wie kleine Katzen streckten sie sich kurz, um sich dann sofort wieder mit einem Schwung zur Seite zu drehen und einzurollen. Am liebsten hätte sie die Kleinen wieder zugedeckt, sich dazugelegt, anstatt vor ihren Betten:

»Go! Go! Go!« zu rufen und dazu hysterisch herumzuhüpfen.

»In zwanzig Minuten müsst ihr zum Bus und ich zur Arbeit! Kommt schon: Auf, auf, auf!!«

Widerwillig krabbelten sie aus ihren Nestern und brachen ihren letzten Rekord um drei Minuten. In siebzehn Minuten hatten sie zwar wenig, aber doch etwas gefrühstückt, ihre Zähne geputzt, eine nicht hundertprozentig gesunde, aber nahrhafte Jause in den Schultaschen und waren startbereit für den Bus. Lena schob sie durch die Türe, warf ihnen Küsschen nach und winkte hinterher. Als sie um die Ecke gestolpert waren, lehnte sie sich an den Türrahmen und atmete tief durch. Wie sie diese Hetzereien satt hatte.

»Das hast du dir selbst eingebrockt!«, raunte ihr Egon mit seinem süffisantesten Lächeln zu. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum in der Hoffnung, er würde verschwinden, doch er ließ sich nicht abwimmeln. Wie eine Fliege, dachte sie. Da half nur noch ignorieren. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie die alte Holztreppe hoch und beschloss, sich einen kleinen Espresso zu gönnen, schließlich würde der Tag noch lang werden.

»Ja, er wird tatsächlich lang werden dein Tag, vor allem, wenn du dir hier einen Espresso aufstellst, anstatt den Frühstückstisch abzuräumen!« Irgendwann war einfach Schluss. Sie drehte sich mit einem Ruck um, Egon schreckte wie ein vom Misthaufen verstoßener Gockel hoch.

»So Cowboy, deine Moralpredigt kannst du dir sparen! Außerdem habe ich jetzt keine, aber schon gar keine Zeit, um mit dir zu diskutieren!« Sie wandte sich ihrer geliebten, pure Zuversicht verströmenden, kleinen italienischen Espressokanne zu, schraubte sie auseinander, klopfte den alten Kaffeesatz heraus, spülte das Sieb durch, füllte es mit frischem Kaffee, strich ihn glatt. Hatte sie soeben ihr Flashback angefahren? Stritt sie mit einer Illusion, einem Hirngespinst? Nachdem sie den Behälter mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie das Sieb ein und schraubte den oberen Teil drauf, ganz fest.

Ihr fiel ein, wie beleidigt Tom am Vorabend gewesen war, wie unflexibel er reagiert hatte. Er hatte sogar die Nudeln weggeschmissen, wie kindisch war das denn? Schließlich schnitten sich die Kinder ja nicht jeden Tag gegenseitig die Haare und dabei ins Ohr! Sie schüttelte den Kopf und drehte die Kanne noch etwas fester zu. Jedes Mal, wenn Tom daneben stand, wenn sie das tat, kam die selbe Leier.

»So, genau SO machst du die Espressokanne kaputt, weil du SO den Dichtungsring abnutzt und SO der Dichtungsring irgendwann zerreißt!« Nun, sie mochte es eben nicht, wenn das kochende Wasser dazwischen heraussprudelte, wenn sie nicht gut genug zugeschraubt war. Musste sie sich eigentlich deswegen rechtfertigen? Wie sie ihre Kanne zuschraubte? Wirklich?

Heute Morgen war er extra früh zur Arbeit gegangen und würde extra spät heimkommen. Ab übermorgen wird er für den Rest der Woche auf Fortbildungskurs sein und somit ergab sich keine gemeinsame Mahlzeit mehr, als Strafe sozusagen. Hätte sie nur seine Nudelkreation gegessen, dann wäre das nicht nötig gewesen. Toms vorwurfsvolles Kopfschütteln vor Augen, schraubte sie die Kanne so fest zu, bis ihre Knöchel weiß wurden. Egon steppte vor ihr mit Zylinder und Stock zwischen Abwaschbecken und den Küchenfliesen entlang. Ignorieren, ignorieren!

»Lalalalala«, sie summte ein Lied. Der Gasherd ließ sich nach längerem Klick-Klick-Klick gnädigerweise anwerfen. Die Espressokanne auf den bläulichen Feuerring gestellt, drehte sich Lena um und massierte sich die Schläfen. Der Druck der kreisenden Bewegungen ihrer Fingerspitzen ließ sie ein wenig zur Ruhe kommen.

Sie befahl sich selbst: »Mir geht es gut! Ich bin gesund! Ich bin zufrieden!« Der letzte Satz ging, zugegebenermaßen, ziemlich holprig über die Lippen. Diese drei Sätze würden ihre Zellen programmieren, bis jede Faser ihres Körpers daran glaubte. Meinte Frida. Sie hatte in ihrem letzten Mail ausführlich über die Forschungsergebnisse der Zellprogrammierung berichtet und weiterführende Links mitgeschickt, die Lena noch gar nicht geöffnet hatte. Irgendwann würde irgendetwas in ihr so tun, als würde es diesen Schwachsinn glauben, hoffte Lena, während sie mantraartig weitermurmelnd ihre Schläfen massierte.

Der erlösende Duft des frisch aufgestiegenen Espressos kroch ihr in die Nase, sie öffnete die Augen und Egon war weg! Ha! Triumphierend rührte sie einen Löffel Zucker in die dunkle Flüssigkeit und beobachtete den Strudel, den sie in ihrer kleinen Tasse ausgelöst hatte. Für kurze Zeit versank sie darin, für ein paar heilige Momente ließ sie sich in diesen Sog ziehen und war weg. Als sie wieder auftauchte, war es höchste Zeit die Turbinen anzuwerfen! Sie eilte ins Bad, um kurz darauf die Treppe hinunterzupoltern und sich auf ihr Rad zu schwingen. Der voll beladene Küchentisch würde ja nicht wegrennen.

Gerade heute hatte sie bei der Frau Dienst, die bei jedem Versuch, ihr ihre Stützstrümpfe anzuziehen, ausschlug wie ein krankes Pferd. Sie trat in die Pedale. Und eben gerade heute würde sie es nicht persönlich nehmen, wie in der Supervision besprochen, würde sie einen Schritt zurückgehen, klar ihre Grenzen setzen und Frau Kickfuß anbieten, eine andere Helferin zu schicken. Mit ruhiger und klarer Stimme würde sie sprechen, jawohl! Überhaupt würde sie ab sofort deutliche Grenzen setzen. Ihren Patienten, ihren Kindern, ihrem Mann. Dazu müsste dieser zwar zuerst etwas öfter Zuhause sein aber auch das würde sie klar und offen ansprechen. Klar und offen! Platsch, fuhr sie durch eine Pfütze. Mit einer Hand wischte sie sich die Schlammspritzer von der Wange, strich sinnloserweise über die nasse Jeans, sodass sich der Schlamm noch besser in die Fasern legte, schüttelte kurz ihre Turnschuhe aus und radelte weiter. Jetzt half nur noch ein erstes Selbstgespräch.

»Weiter atmen, immer schön weiterfahren, ich bin ja schon spät dran. Frau Kickfuß sitzt jetzt gegenüber ihrer Standuhr und wartet, Tick, Tack, Tick, Tack bis sie das Drehen des Schlüssels im Schloss hört und würde sich nur zu sehr freuen, wenn ich zu spät komme. Diese Freude werde ich ihr bestimmt nicht machen! Ha!«

Als sie ankam, schmiss sie ihr Rad in die Hecke der Einfahrt und hechtete die Treppe des kleinen Einfamilienhäuschens hoch. Während sie klingelte, suchte sie nach dem Schlüssel. Ding-Dong, gerade noch geschafft!

Drei Stunden später spuckte das Haus sie wieder aus und Lena fühlte sich, wie man sich nach einem Drachenbesuch eben fühlt. Ausgezehrt und kraftlos zog sie ihr Rad aus der Hecke. Sie hatte Hunger, einen von der Sorte, der sich eine tiefe Grube in den Magen bohrt und weitere, immer tiefere Abgründe aufreißt. Mit wenig übriger Kraft trat sie in die Pedale und lenkte ihr Rad Richtung Supermarkt. Auf der Fahrt wollte sie überlegen, was sie den Kindern auftischen sollte. Was Einfaches, irgendwas Schnelles. Nudeln? Nun, stören würde es die Zwei sicher nicht. Pizza? Leberkäse?

Mit großen Schritten hastete sie schließlich an der Gemüse- und Obstabteilung vorbei und kam an der Fleisch-Käse-Brottheke an. Endlich! Was für eine Augenweide! Leberkäse, Wurst, Fleisch, Bergkäse, Oliven und eingelegte Pfefferoni, frisches Brot! Ihre Augen flitzten die Theke auf und ab, voller Inbrunst sog sie die Mischung der sich ihr darbietenden Gerüche auf. Hinter der Brottheke winkte ihr auch schon Rosi mit ihrem Backhandschuh zu. Vor ihr in der Schlange standen noch zwei Handwerker, die ihre Fleischsemmeln bestellten, dahinter eine junge Frau mit Kinderwagen, dessen Fahrgast lautstark ein Rad Wurst reklamierte und eine ältere Dame, vertieft in die Lektüre ihres Einkaufszettels. Rosi deutete mit der Schulter auf ihren Chef, der weiter vorne Regale einräumte und verdrehte leicht die Augen. Letzte Woche hatte sie eine Rüge bekommen, weil sie sich anscheinend zu lange unterhalten hatten. Dabei hatte Lena auch wirklich Brot bestellt und sogar Kuchen. Ein gut gelauntes Beratungsgespräch war ja wohl noch erlaubt! Edeltraud von der Gemüseabteilung hatte sie, während sie Salatköpfe einschlichten musste, dabei beobachtet wie sie kicherten, fand das total unfair und beschwerte sich beim Chef. Sie selber musste schließlich von früh bis spät kaltes Gemüse einräumen! An sie wendeten sich die Leute nur, wenn sie eine schimmlige Gurke fanden oder nach Radicchiosalat verlangten, wenn sie offensichtlich keinen im Sortiment hatten. Warum sollte da die Rosi in der Brotabteilung bitte Spaß haben? Während sie schuftete?

Leider hatte Lena momentan keine Energie, sich über Edeltraud zu ärgern, hier ging es ums blanke Überleben, denn sie musste auf schnellstem Weg zu Nahrung kommen, schließlich hatte sie nicht einmal gefrühstückt! Sah man das denn nicht? Musste sie umkippen, damit man sie hier bediente? Eine der Wurst-Käse-Verkäuferinnen schien meditativ in die Reinigung der Schneidemaschine vertieft zu sein, die andere stocherte in Wurstbergen herum und häufte diese nach einer nur ihr ersichtlichen Logik um. Lena begann mit dem Fuß gegen den Boden zu klopfen. Hier wurde sie doch eindeutig ignoriert! Sollte sie hüsteln? Sie entschied sich für ein verkrampftes Dauerlächeln, welches sie der Schneidemaschinenputzerin in den Nacken bohrte. Schau zu mir! Schau zu mir! Schau zu mir!

Hallelujah, es funktionierte! Kurz darauf balancierte sie mit einem Berg Lebensmittel auf den Armen an die Kassa, ließ all die Dinge, die sie gar nicht kaufen wollte auf das Laufband plumpsen und fragte sich, wie sie das eigentlich auf ihr Rad bekommen sollte. Denn ihr Radkorb lag einsam und verlassen im Schuppen. Sie schielte zu einem Karton hinter der Kassa, als er ihr genau in diesem Moment von einer älteren Dame weggeschnappt wurde. Heute ist so ein schöner Tag! Ich bin gesund! Ich bin zufrieden! Mir geht es gut! Ich bin gesund, zufrieden! Mir geht es so gut! Sie musste unbedingt Frida anmailen und sie fragen, ab wann diese zellprogrammierenden Sätze wirkten. Da gab es doch sicher eine Studie darüber! Nun, würde sie eben eine dieser Tüten nehmen, von denen sie sich geschworen hatte keine mehr zu kaufen. Nein, noch besser! Sie würde alles in ihre Tasche stecken und die größeren Sachen unter den Arm nehmen und das Rad nachhause schieben. Alles kein Problem. Ihr Magen hing inzwischen zwischen ihren Turnschuhen herum, sie schleifte ihn bis zur Kassiererin weiter. Höflich grüßend begann sie ihre Tasche vollzupacken.

»25,40, bitte!« Mist! Plötzlich fiel Lena ein, ihre Geldtasche lag ja ganz unten! Ganz, ganz unten! Ihr wurde heiß. Sie begann zu wühlen, packte ein paar Lebensmittel wieder aus und hob kurz den Blick, um zu bemerken, dass sich bis hinten im Laden eine Schlange gebildet hatte. Fast bis zu den Keksen. Lauter Menschen, die verkrampft verständnisvoll dreinblickten, die meisten kannte sie, zumindest vom Sehen. Die Kassiererin freute sich über eine kleine unverhoffte Pause, streckte sich ein wenig und lehnte sich zurück, um Lena beim Kramen zu beobachten. Aus den Tiefen ihrer Tasche sang plötzlich Johnny Cash. Ach, das Telefon! Sie ließ Johnny weiter singen, fischte dafür die Geldbörse heraus und fühlte sich dabei wie eine Perlentaucherin, atemlos, aber glücklich. Mit einem triumphierenden Lächeln Richtung Warteschlange öffnete sie es und musste feststellen, dass das Fach mit dem Bargeld leer war. Eigenartig. Nun, was für ein Glück, dass sie eine Bankomatkarte hatte. Die lag. Sonst. Immer. In. Diesem. Schlitz! Doch da war nichts! Tom! Schon wieder! Gestern Abend hatte er das Auto aufgetankt, natürlich mit ihrer Bankomatkarte! Und sie ihr nicht zurückgegeben!

In ihr brodelte es, doch sie hatte keine Zeit ihren Mann durch eine Wurstmaschine zu schrauben. Sie sah zur Kassiererin.

»Melanie« stand auf dem Namensschildchen, es war genau dieselbe wie letztes Mal als sie … was wird die jetzt von ihr denken?

»Sie werden es nicht glauben, aber ich finde meine Bankomatkarte nicht.« Und etwas leiser: »Schon wieder nicht.« Melanie gähnte herzhaft.

»Soll ich ihnen einen Bon ausstellen?«

Lena bückte sich und zeigte mit gestrecktem Arm hinaus.

»Ich wohne gleich da drüben, oben, sehen sie? Nur drei Häuser weiter! Ich bring ihnen das Geld gleich zurück!«

»Füllen sie einfach den Bon aus, ist schon in Ordnung!« Melanie lächelte. Nicht süffisant oder hochmütig, sondern einfach nur freundlich. Es gab sie noch, die guten Menschen. Lena atmete auf und die gesamte Menschenschlange hinter ihr tat es ihr gleich. Sich mehrmals bedankend zog sie sich, ihre Einkäufe und ihren leeren Magen aus dem Laden, hievte alles irgendwie auf ihr Rad und schob sich heim. Sofort wollte sie sich unter ihre Bettdecke verkriechen und den Rest des Tages dort verbringen, warten, bis es dunkel wird und dann eine Flasche Rotwein öffnen. Nein, am Besten betrank sie sich jetzt gleich. Aber das ging nicht, da waren ja noch die Kinder! Ach! Dieser Tag roch wirklich nicht gut und es war erst Mittag!

In dem Moment erschien Egon vor ihr, breitete seine gigantischen Flügel aus, seine dunkle Haut schimmerte zart, in seinem Krausehaar lag Glitzer. Sein Lächeln strömte pure Zuversicht aus. Er warf ein goldenes Seil aus, welches sich mit einem Achterknoten um das Lenkrad schwang und zog sie nach Hause.

Später, am frühen Abend stand Lena mit einer gelben Paprika in der Hand vor ihrem Schneidebrett und war zutiefst bemüht, diesem Tag noch eine Chance zu geben, ein Guter zu werden. Wie immer, wenn es ihr nicht so gut ging, half nur eines: kochen. Dabei versank sie dermaßen ins Tun und konnte gleichzeitig ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Eine Flasche Rotwein stand offen am Küchentisch und atmete sich zur passenden Temperatur hin. Nudelwasser machte sich mit Meersalz angereichert bereit zum Kochen, kleine Wassertropfen rannen zuversichtlich über die schimmernde Oberfläche des Paprikas, den sie, um das Gehäuse herauszuputzen, nun mit Schwung entzweite.

Da war sie auch schon, die immer wiederkehrende Frage, die aufploppte gerade, als sie den Kompostkübel herauszog:

War es eine gute Idee gewesen, zurück ins Dorf zu kommen? Was wäre wirklich passiert, wenn sie vor zehn Jahren so getan hätte, als ginge sie das alles nichts an? Als wäre es einfach nicht möglich? Als könnte sie nicht einfach so ihre mit Mühe und Fleiß aufgebauten Zelte abbrechen?

Die Paprika in kleine Würfel hackend erinnerte sie sich an den Tag, an dem die beste Freundin ihrer Großmutter angerufen hatte, es war halb drei Uhr nachts gewesen, sie hatte wohl nicht daran gedacht, dass es zwischen Europa und Amerika so etwas wie eine Zeitverschiebung gab. Kurzatmig hatte sie ins Telefon gekeucht.

»Lena, deine Großmutter verhält sich seit einiger Zeit so eigenartig und es wird immer schlimmer! Erst waren es kleine wirre Momente, doch jetzt spricht sie ständig von dem Überfall auf die Tabaktrafik vor über zwanzig Jahren. Gestern ist sie mitten in der Nacht aufgestanden und hat bei den Nachbarn geklingelt, um zu fragen, ob sie etwas Verdächtiges gesehen hätten. Manche Leute im Ort nennen sie Miss Marple. Sie spricht von nichts anderem mehr. Dabei hat das doch jeder hier schon vergessen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll! Ich hab es ja mit der Hüfte, du weißt schon und das Asthma dazu. Ich glaube, es ist besser, du kommst her! Sie hat ja sonst niemanden!«

An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken gewesen. Noch in derselben Nacht hatte sie einen Flug nachhause gebucht und ihre Sachen gepackt. Kurz darauf musste sie Freunde, Job und ihre geliebte Stadt verlassen. Schlimmer noch, Fred und ihre gemeinsamen Träume verabschieden.

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als könnte sie so ihre Wehmut wegwischen. Ob sie wohl jemals vergehen würde? Die Paprikastücke flogen in den Topf mit heißem Olivenöl, kleine Bläschen bildeten sich um sie. Als Nächstes kamen die Pilze dran. Frisch abgetropft lagen sie vor dem Brett.

Nie würde sie seinen Blick vergessen, als sie ihm verkünden musste, dass sie heimfliegen würde. Alles ging dann plötzlich sehr schnell und sie hatte sich einerseits in die Ecke gedrängt gefühlt, auf der anderen Seite gab es für sie keine andere Wahl, als sich um ihre Großmutter zu kümmern, wenn es soweit sein würde. Das war für sie selbstverständlich. Wichtiger vor allem war dafür zu sorgen, dass sie schwieg. Die Pilze zerflogen unter ihrem Messer und wanderten zum Paprika. Sie rührte kurz um und drehte das Gas herunter. Den Knoblauch noch ungeschält in die Presse steckend seufzte sie tief durch, lehnte sich ans Fenster und starrte hinaus.

Fred hat ja mittlerweile auch geheiratet, wie Facebook ihr erzählt hatte. Idiotisches Facebook, wo sie wieder etwas erfahren hatte, was sie gar nicht wissen wollte. Sie würde sich abmelden. Demnächst. Bestimmt.

Sie presste den Knoblauch zum Gemüse, sein scharfer Duft erfüllte die Küche, sie sog ihn voller Inbrunst ein. Blauschimmelkäsewürfel rollten in den Topf dazu und verklebten sich sogleich mit dem Rest. Was für ein herrlicher Geruch! Im Nudeltopf wanden sich mittlerweile die Tagliatelle und brachten das Wasser dazu, über den Rand zu spritzen. Ein Schwups Olivenöl und das Gebrodel beruhigte sich. Mit einem Schöpfer Nudelwasser löschte sie das Käsegemüsegemisch. So, etwas frischen Rosmarin und Pfeffer dazu, Deckel drauf und köcheln lassen.

Sie sog einen weiteren tiefen Atemzug des Duftes ein, starrte aus dem Küchenfenster und sinnierte ein wenig den Windungen ihres Lebens nach. Es war nicht leicht, hier im Ort. Immerhin waren die Kinder endlich groß genug, dass sie nicht mehr mit der Spielgruppe Hasenpfote zu diesen bescheuerten Mutter-Kind-Treffen am Fluss unten musste.

Das war die Zeit gewesen, in der sie wieder zu rauchen begonnen hatte. Warum mussten sie sich auch gerade unter der alten Eisenbahnbrücke treffen?

»Dort ist es immer so schön schattig und die Kinder können sooo schön am Fluss spielen!«, hatten die anderen Mütter einstimmig gefiept. Als gäbe es nicht ähnlich schön schattige Plätze entlang des Flusses! Ein wenig Muskat könnte sie noch hinein rebeln, fiel ihr ein. Sie öffnete den Schrank über dem Herd und kramte danach.

Nun gut, ihre Mitmütter konnten es nicht und sollten es vorallem nicht wissen! Es war schließlich Elizas, Matts und ihre Brücke, basta! Bevor sie sich darüber fertig ärgern konnte, saß sie auch schon dort im Schneidersitz ums Lagerfeuer, zog den immer wieder Richtung Feuer krabbelnden Kleinen an der Windel zurück, sang Lieder, schunkelte mit dem Großen dazu und lauschte Geschichten über Schnäppchenjagd, Putzpartys und schlaflose Nächte, die selbstlos ausgestanden wurden.

Das hatte sie anfangs ziemlich aus der Fassung gebracht, mehr als sie sich eingestehen wollte. Sie fühlte sich fehl am Platz und schob es erstmal auf den Ort, mit dem sie ganz andere Geschichten verband, als Beates Hämorrhoiden, die sie so sehr plagten, obwohl Augustin-Kostas immerhin schon drei Jahre alt war.

Lena bemühte sich und fühlte sich sehr tapfer dabei. Sie spielte mit ihren Kleinen, schüttelte Sand aus den Sandalen, schlichtete Förmchen um und erinnerte sich daran, dass sie dies hier für ihre Söhne tat. Auch wenn sie ihnen immer wieder die Schaufel aus der Hand reißen musste, damit sie Klein-Anne-Sophie nicht über den Kopf schlugen.

Doch anders als an gewöhnlichen Spielplätzen war sie hier unter ständiger Beobachtung, so als hätte sie eine Prüfung zu bestehen. Wenn sie in ihrer Tasche nach der Sonnencreme kramte, wurde ihr sogleich eine der Sorte »Spezial Kleinkind mit empfindlicher Haut Lichtschutzfaktor 50 ohne Zusatzstoffe dermatologisch getestet« inklusive »vergess-ICH-nie-Lächeln« entgegengestreckt.

Viel schlimmer noch waren die Ausfragestunden, die Abklopf und Beschnuppermomente um das Lagerfeuer. Lena war grundsätzlich der Meinung, dass ihr nicht wirklich zustand, andere Leute auszufragen, woher sie kamen, was sie so machten, was ihr Partner arbeitete. Waren sie nicht alle ausreichend damit beschäftigt aufzupassen, dass kein Kind ins Wasser stolperte oder sich die Finger verbrannte? Falls wer was von seinem Leben erzählen wollte, könnte man doch von sich aus … doch hier galten andere Regeln.

Meistens ging das lustige Ausfragespiel von Beate mit den Hämorrhoiden aus, vielleicht benötigte sie diese Ablenkung ja? Warum Lena so oft im Visier der Frauen war, hatte sie nie richtig verstanden.

Schließlich ließ sie die anderen ja auch in Ruhe und erfuhr hier zu oft Dinge, die sie gar nicht wissen wollte.

Es begann damit, als die Schwägerin von Gunter, Martina, von eben diesem erfahren hatte, dass Lena eine Zeit lang in New York gelebt hatte und ein Jahr davon mit ihm in einer WG. Irgendwann sprach sie das quer über das Lagerfeuer in der Würstchengrillrunde an und löste ein Raunen unter den Müttern aus. Marie rückte näher zu Lena.

»Ist das aber spannend, erzähl doch mal! Ist das Leben dort wirklich so wie in »Sex and the City«?«

An dieser Stelle brach Lena in schallendes Gelächter aus, musste jedoch schnell feststellen, dass Keine wirklich mitlachte. Leicht irritierte, erwartungsvolle Augen starrten sie an. Ihre Kinder spielten friedlich, andere schlummerten in Armbeugen oder knabberten an ihren Würstchen, die Mütter waren total unabgelenkt. Was sollte sie ihnen nur erzählen? Wollten sie das überhaupt hören? Vor allem, wollte sie selber überhaupt etwas preisgeben? Würde sie in den Fluss geschmissen, geteert und gefedert, wenn sie nichts erzählte?

»Nun. Hm. Äh ….« Irrte sie sich oder scharrte Luise tatsächlich mit den Füßen im Sand?

»Also ich denke, das kann man wirklich nicht vergleichen. Wir haben dort etwas anders gelebt als die Figuren der Serie.« Pause.

»Aber ich kenne sie auch nicht so gut. Die Serie.«

Fassungslose Blicke wurden ausgetauscht.

»Wir lebten übrigens gar nicht in Manhattan, weil dort die Mieten viel zu teuer sind. Wir lebten außerhalb, in Queens.« Dass sie sich eine vierzig Quadratmeter Wohnung zu fünft geteilt hatten, ließ sie weg. Was hatte Gunter seiner Schwägerin nur erzählt? Sie wollte sich eine Zigarette drehen und zwar sofort und nicht erst zuhause auf ihrem Balkon, wie sonst, als hart verdiente Belohnung. Sie redete sich ein, dass ihr die Hasenpfotengruppe ziemlich gleichgültig gewesen wäre, säßen sie nicht unter ihrer Brücke.

Sahen die anderen denn nicht diese Stelle, rechts unter der Mauer, zwischen den drei großen Felsbrocken? Vor dieser Mulde lag ein Stein, den man leicht herausnehmen konnte. Sie bemühte sich nicht hinzusehen, das musste ja auffallen. Zu dritt hatten sie ihn hingeschleppt und hochgehievt. Unglaublich, dass der immer noch hielt.

An diesem Ort begann alles, hier wurde diese utopische, hirnverbrannte Idee geboren. Schlimmer noch, ausgeführt. Da saß sie nun alleine hier und musste es aushalten. Alles! Würstchen grillen und Kindertänze mithopsen.

Seufzend bemerkte sie, dass sie wohl eine Weile in den Schrank gestarrt haben musste. Was wollte sie nochmals? Ach ja, die Muskatnuss!

Als sie das Gewürzkästchen öffnete, fand sie Egon darin, wie er mit einer Vanilleschote Tango tanzte.

Sommerfrische

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