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Der Tänzer vom Silvesterball
ОглавлениеZu Silvester tanzte Felice, ohne Franz. Der saß zu Hause in Prag allein in seinem Zimmer, trank, in ein warmes Tuch gehüllt, heiße Limonade und träumte von ihr. In allen Ballhäusern Berlins war ordentlich was los, Berlin war voller Festsäle, die buntes Programm boten, Bühlers Ballhaus in der Auguststraße, der Saalbau in der Pappelallee, das populäre Riviera in Grünau. Felice musste sich entscheiden, ob sie mit Arbeitskolleginnen in den vornehmen Admiralspalast oder mit Schwester Toni in eins der näher gelegenen Etablissements im Prenzlauer Berg gehen wollte.
Kein Geheimnis, dass Bälle der Eheanbahnung dienten, schon jetzt war Franz eifersüchtig auf die vielen Leute, mit denen Felice sich zuprosten, lachen und tanzen würde, das ließ er sie wissen.
Als Felice am Silvesternachmittag im rosaroten Samtkleid vor einem hohen Spiegel stand und sich auf dem Absatz ihrer Tanzschuhe drehte, wünschte sie sich Franz herbei. Sie nahm das Foto zur Hand, das sie neben dem von Nichte Muzzi in einem Medaillon um den Hals trug. Schwarzes, offenbar extra für den Atelierbesuch pomadisiertes Haar, Mittelscheitel, hochgeschlossener Kragen, ziemlich elegant. »Ein verdrehtes Gesicht habe ich in Wirklichkeit nicht, den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht, hohe Kragen trage ich längst nicht mehr«, so Franz’ Kommentar zu seinem Porträt.
Ein schöner Mann, der sich doch nicht spreizte wie ein eitler Pfau, und dem man nicht ansah, welch absonderliche Ideen in seinem Kopf herumturnten. Und dennoch, dachte Felice mit geschlossenen Augen, ist es wirklich Franz, nach dem ich mich sehne? In ihrem Traum vom Sichumarmen und Sichdabeidrehn kam er, so sehr sie ihre Fantasie bemühte, nicht vor, und zu Franz’ Stimme, die sie aus seinen Briefen vernahm, gehörte gar kein Körper. Felice öffnete die Augen wieder und sah sich im Spiegel neben einem unsichtbaren Tänzer stehen. Heute, dachte sie, bin ich frei.
Willkommen auf dem Silvesterball! Die feierfrohe Berliner Gesellschaft strömte aus der Winterkälte hinein ins warme Foyer des Ballhauses, unter ihnen Felice und Toni. Der große Saal füllte sich, man nahm Platz an runden, mit Kristallgläsern auf gestärktem Damast festlich eingedeckten Tischen. Kellner flitzten umher und nahmen Bestellungen auf, Blicke wanderten von Tisch zu Tisch, auf einer Bühne stimmte ein Orchester die Instrumente und hob zu einem flotten Schieber an. Nicht lange, und Toni war im Gewimmel auf dem Parkett verschwunden, Felice saß verloren am Tisch, sah man ihr etwa an, dass sie bereits jemandem versprochen war? Ragtime, Walzer, noch ein Schieber, nach einer alleine verbrachten Stunde, vor sich ein leeres Glas und umgeben von ausgelassen tanzenden Menschen, fühlte sich Felice in ihrem schönen rosaroten Samtkleid welken wie ein Mauerblümchen. Sie hatte nicht übel Lust, ihren Mantel von der Garderobe zu holen, durch die Berliner Feiernacht nach Hause zu fahren und in der Stille ihres Zimmers einen Brief an Franz zu schreiben. Das Orchester hob zu einer neuen Melodie an, Toni winkte von der Tanzfläche aus und tauchte wieder im Getümmel unter; natürlich konnte Felice jetzt nicht gehen, sie hatte der Mutter versprochen, die Schwester im Auge zu behalten. Andere allein Herumsitzende taten verlegen mit Zigaretten und Gläsern beschäftigt, Felice nippte missmutig am Weißwein, da trat jemand vor sie hin. Ein schlanker, gut aussehender Mann mit tiefer Stimme, rotblondem Haar und im Smoking machte einen höflichen Bückling.
Darf ich bitten, gnädiges Fräulein?
Von der Tanzfläche aus, im Arm des Unbekannten, sah die Welt wieder anders aus. Der Fremde erwies sich als guter Tänzer, Felice spürte ihre eigenen Muskeln, wie sie sich unter seiner kräftigen Hand bewegten. Nach drei Tänzen, Felice war richtig ins Schwitzen gekommen, fragte der Mann, ob er sich an ihren Tisch setzen dürfe.
Gewiss, sagte sie, und ja, gern ein Glas Wein.
Galant wurde Felice ein Stuhl zurechtgerückt, sie tupfte sich dezent mit einem Batisttüchlein über die Stirn. Der Kellner trat mit einer schlanken, grünen Flasche in einem Silberkübel an den Tisch und ließ den Herrn probieren. Der hob das Glas, trank, nickte zufrieden, Felice sah, dass er keinen Ring am Finger trug. Was er von Beruf sei, fragte sie und erfuhr, dass sie es mit einem Kinderarzt zu tun hatte. Eine Unterhaltung kam in Gang, über die Abnahme der Säuglingssterblichkeit hierzulande und die dringend nötigen Wohnungsneubauten für Arbeiterfamilien, deren Geißel nach wie vor die Tuberkulose war. Auch der Mutterschutz müsse verbessert werden, fand der Arzt. Einen Augenblick überlegte Felice, ob sie hier einhaken und von Ernas bevorstehender Niederkunft berichten sollte, doch galt die ärztliche Schweigepflicht denn auch für Konversation auf Silvesterbällen? So fragte sie nur, ob er zufällig im neuen Kinderkrankenhaus in Weißensee tätig sei, Felice hatte es auf ihrem Weg zur Arbeit als Stenotypistin bei Odeon noch im Bau gesehen. Der Arzt nickte, er kenne die Geburtshilfeabteilung, da herrschten modernste Standards. Nun wolle er aber endlich wissen, was Felice so mache, beruflich, sie wirke auf ihn nicht gerade wie ein sittsames Fräulein, das sich mit Handarbeiten am Kamin zufriedengebe.
Der Parlograf, hob Felice schwungvoll an, und erklärte einmal mehr, was es mit dem neuartigen Gerät auf sich hatte, der Schalltrichter, die tickenden Nadeln auf der rotierenden Wachswalze, die aufgezeichnete Stimme wie von fern. Felice vergaß darüber fast, ihre weiblichen Reize spielen zu lassen, hin und wieder ein unschuldiger Augenaufschlag, ein aufreizendes Lächeln, ein absichtslos zu Boden gleitender Handschuh, zugegeben, genau dieses Repertoire fiel ihr schwer. Denn wenn sie bei Lindström, wo sie gern den Verkehr mit Geschäftskunden pflegte, eines gelernt hatte, dann den sachlich-freundlichen Umgang mit dem männlichen Geschlecht. Noch nie war ihr etwas Unangenehmes widerfahren, eine anzügliche Bemerkung, eine Äußerung des Zweifels an ihrer Kompetenz. Felice hatte ihr sachliches Verhalten Männern gegenüber auf der Arbeit derart gut eingeübt, dass ihr ein Rollenwechsel partout nicht gelingen wollte, sie konnte nicht aus ihrer Haut, nein, sie wollte es gar nicht. Ihrem Tischherrn schien auch gar nichts zu fehlen, er hörte Felice mit aufmerksamer Miene zu, als sie erläuterte, dass Odeon-Grammofongeräte inzwischen ein großer Exportschlager seien, ebenfalls Schellack-Schallplatten.
Ganz bezaubernd, wie anschaulich, wie begeistert Sie von Ihrem Beruf erzählen können, gnädiges Fräulein! Der Kinderarzt war ein guter Zuhörer. Die Rede kam auch auf Jascha Heifetz, das zwölfjährige Wunderkind, das die Berliner vor Kurzem im Beethovensaal entzückt hatte, ob es von dem jugendlichen Geiger auch schon Schallplattenaufnahmen gebe, fragte der Arzt. Es ging auf Mitternacht zu, die Weinflasche war längst geleert. Wir brauchen noch was zum Anstoßen, rief Felices Tischherr dem vorbeieilenden Kellner zu, Champagner!
Die letzten zehn Sekunden des alten Jahres wurden heruntergezählt, das Orchester hob an, der Mitternachtswalzer. Der Kinderarzt verneigte sich vor Felice, Prost Neujahr!
Felice hatte schon einen leichten Schwips. Noch ein Tanz, man holte die Mäntel von der Garderobe und ging hinaus; Feuerwerk prasselte über der Stadt, mit Raketendonner wurde die Zahl 1913 in den Berliner Nachthimmel geschrieben.
Zum Abschied hauchte der Kinderarzt Felice einen Kuss auf den Handschuh: Darf ich hoffen, Fräulein Bauer, Sie bald wiederzusehen?
»… ein fröhliches neues Jahr meinem liebsten Mädchen; ein neues Jahr ist eben ein anderes Jahr und wenn das alte uns auseinandergehalten hat, vielleicht treibt uns das neue Jahr mit Wundern und mit Gewalt zusammen. Treibe, treibe, neues Jahr!« Mit diesen Wünschen aus Prag begann 1913. Dass Wunder und Gewalt es richten sollten, war für Felices Geschmack allerdings allzu schweres Geschütz. Sie wusste, was wirklich half: Offenheit und Vertrauen. Bekämen sie das nicht hin, sollte sie den Briefwechsel mit Franz von heute auf morgen lieber beenden. Dem Spuk ein Ende machen. Sich auf den sympathischen, rotblonden Kinderarzt einlassen, der mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen schien, statt auf einen sensiblen Künstler und unzufriedenen Büroangestellten zu warten.
Doch schon am ersten Arbeitstag im neuen Jahr wurde Felice von ihren Kolleginnen mit Fragen bombardiert. Kein Mensch interessierte sich für den Festtagsbraten, für den Silvesterball und den Kinderarzt. Stattdessen wollte die Stenotypistin Emmy Brühl wissen, was denn der Doktor aus Prag geschrieben hätte? Warum er über die Feiertage nicht in Berlin gewesen sei? Weil er einen Roman schreiben müsse, Der Verschollene, eine Geschichte, die in den Vereinigten Staaten von Amerika spiele, gab Felice bedeutungsschwanger zur Auskunft, als verlange die Welt bereits händeringend nach diesem Buch, das außer in Franz’ Kopf noch kaum existierte.
Den Kolleginnen bei Lindström waren die Veränderungen in Felices Leben nicht verborgen geblieben. Denn das Phantom Franz schrieb auch an die Büroadresse, Felice hat schon wieder Verehrerpost, so wurde getuschelt, wenn auf ihrem Schreibtisch ein Kuvert lag, abgestempelt in Prag und mit der gleichmäßigen Handschrift, die alle schon bestens kannten. Niemandem war entgangen, dass Felice häufig ein Gähnen unterdrückte, doch den Kolleginnen fiel auch ein neues Leuchten in ihren Augen auf.
Na, wen hast du da an der Angel?, fragte Emmy Brühl.
Für einen kurzen Moment gewährte Felice der Brühl, deren Neugier unbezähmbar war, einen Einblick in das Medaillon an ihrer Brust.
Hui, fuhr es aus der heraus, fescher Bursche!
Wenn Felice im Heer der vielen Angestellten in geschäftsmäßigem Schneiderkostüm durch die Straßen der Stadt hastete, um die nächste Elektrische zu erwischen, fühlte sie sich herausgehoben aus der grauen Menschenmasse und von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Nie, noch nie zuvor im Leben, war Felice so viel Aufmerksamkeit zuteil geworden. Es klang paradox: Dieser Mann, der so weitschweifig über seine finsteren Abgründe schreiben konnte, trug ein hell strahlendes Licht in ihre von Sorgen umwölkten Tage. In diesem Meer aus Lügen und Verschweigen waren Franz’ Briefe eine von reinen Blumen bewachsene Insel, auf die sie sich jederzeit retten konnte. Als Felice dem netten Kinderarzt gleich in der ersten Januarwoche zufällig erneut begegnete und der sie unumwunden fragte, ob sie ihn auf den vor der Tür stehenden Faschingsball im Eispalast begleiten wolle, griff sie kurzerhand zu einer Notlüge, die all sein Werben im Keim erstickte. Nein, sagte Felice, es gibt da einen Mann. Ich bin verlobt.
Offenheit und Vertrauen: Beseelt von diesem Vorsatz schilderte Felice Franz den Silvesterabend mit großem Orchester und Feuerwerksspektakel und ließ, auch hier wollte sie Farbe bekennen, den netten Kinderarzt nicht aus. Normale Männer verabredeten sich mit dem Rivalen in einer nebligen Schlucht zum Duell, zumindest in Romanen las man das, aber einer wie Franz trat nur allein gegen sich selbst an: »Nein, ich klage, ich jammere eigentlich, ich hätte wollen, dass der Kinderarzt zu Euch hinaufgekommen wäre, dass er sich als der nette Mensch, der er an Sylvester war, auch weiterhin bewährt hätte, dass er lustig gewesen und lustig aufgenommen worden wäre. Wer bin denn ich, dass ich mich ihm in den Weg zu legen wage? Ein Schatten, der Dich unendlich liebt, den man aber nicht ans Licht ziehn kann. Pfui, über mich!« Franz’ Brief nahm mit dem nächsten Satz eine jähe Kehrtwendung: »Ich wäre zerfressen vor Eifersucht, wenn ich aus der Ferne hören müsste, dass dem Kinderarzt tatsächlich alles das gelungen ist, was ich ihm auf der vorigen Seite so dringend wünschte und die Unwahrheit, die Du ihm sagtest, war nicht aus Deinem reinen Innern, sondern aus mir heraus gesprochen und ich will fast glauben, dass Deine Stimme in jenem Augenblick einen kleinen Beiklang von der meinigen gehabt hat.«
Derlei Liebesbriefe klangen so anders als das übliche Säbelrasseln der strammen preußischen Kerle, anders auch als das Süßholzraspeln der Schmocks auf dem jüdischen Heiratsmarkt. Nur Franz’ Strenge befremdete Felice, und sie fragte ihn, ob er denn auch herzlich lachen könne. Ja, unbedingt, behauptete er: »… ich bin sogar als großer Lacher bekannt …« Natürlich, hatte er sich nicht mit der ahnungslosen Brühl schon einen Scherz erlaubt? Felice hatte zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag im November Geschenke der Kolleginnen auf ihrem Platz gefunden, nebst einem Gedicht, das die Brühl gereimt hatte. In etwas holperigen, aber lustigen Versen wünschte sie Felice einen Ehemann mit Adelstitel. Felice hatte Franz das verraten, und er konterte mit einem Wunsch für das Fräulein Brühl, es sollten »… von heute ab Abend für Abend nach Geschäftsschluss ein Jahr lang bis zu ihrem nächsten Geburtstag zwei rasende Prokuristen rechts und links neben sie treten und ihr ununterbrochen und gleichzeitig, bis Mitternacht Briefe diktieren.«
Kurze Zeit später schickte Franz aus reinem Spaß am Jux eine anonyme Glückwunschkarte an die Brühl. Die Kollegin drehte und wendete die Karte ratlos in den Händen, und Felice, die in Franz’ Schabernack eingeweiht war, verspürte eine diebische Freude über ihr Rätselraten. Ein heimlicher Verehrer? Ein Kunde? Ja, Franz hatte auch Humor, eine Seite an ihm, die Felice besser kennenlernen wollte. Es fiel so schwer, auf dem Papier zu lachen.
Franz konnte überdies Gedanken lesen. »… was würdest Du Frl. Lindner antworten, wenn sie statt allgemeiner Fragen geradeaus fragen würde: War eigentlich dieser Mensch im Laufe des letzten Vierteljahres schon einmal in Berlin? Nicht? Und warum nicht? Er fährt Samstag mittag von Prag weg oder wenn das nicht geht, am Abend, ist über den Sonntag in Berlin und fährt abend nach Prag. Es ist ein wenig anstrengend, aber im ganzen eine Kleinigkeit. Warum macht er das nicht? Was wirst Du arme Liebste antworten?«
Die Antwort erübrigte sich, als eines Tages ein schmales, aber veritables Buch im Büro ankam, auf dem braunen Umschlag der Name, den die Kolleginnen schon so oft gelesen hatten: Franz Kafka. Der unsichtbare Verehrer aus Prag, es gab ihn wirklich, da stand es schwarz auf weiß. Dafür lohnt es sich doch zu warten, sagte jemand, der Mann ist ein richtiger Dichter. Einer wie Goethe! Wie haben Sie den denn kennengelernt, Fräulein Bauer?
Betrachtung war Franz’ erstes Werk, das Manuskript hatte er eines vergangenen Augustabends noch zu Max Brod getragen, voll Sorge um die sichere Expedition zum Verleger, und nun war es tatsächlich im Buchhandel zu haben. Felice schlug das Buch auf und fand eine handschriftliche Widmung: »Für Fräulein Bauer, um mich bei ihr mit diesen Erinnerungen an alte unglückliche Zeiten einzuschmeicheln.« Felice rätselte noch, wie Franz das meinte, aber die Lindner, die Brühl und die Grossmann waren komplett aus dem Häuschen. Die Lindner kniete gar vor Felice nieder wie vor einer Ausersehenen, auf die der Heilige Geist gekommen war. Wann Felice ihnen diesen bedeutenden Mann endlich mal persönlich vorstellen könnte?
Da müssten sie sich wohl noch ein wenig gedulden, sagte sie, jeden Moment der Befragung durch die aufgeregten Frauen genießend.
Statt nach Berlin zu kommen, spazierte Franz hin und wieder absichtsvoll durch die Prager Ferdinandstraße, dicht vorbei an dem Haus, in dem die Lindström-Vertretung saß, um sich Felice nahe zu fühlen. »Wenn ich Dir nicht schreibe, bin ich Dir viel näher, wenn ich auf der Gasse gehe, und überall und unaufhörlich mich etwas an Dich erinnert«, teilte er mit. Aber eine Beziehung zwischen Postämtern und Bahnhöfen, in Briefen und Eisenbahnen, das reichte Felice nicht mehr aus. Die Briefe aus Prag lagen vor ihr wie eine Patience.
Ob sie sich aus der Hand lesen lassen wolle, nur so aus Scherz, fragte Emmy Brühl.
Sie lese lieber Fahrpläne, entgegnete Felice, die, wenn Franz schon nicht kam, längst eine Reise nach Prag in Erwägung gezogen hatte. Sie war weder abergläubisch, noch glaubte sie an faulen Zauber mit Glaskugeln oder Kaffeesatz, sie beschäftigte sich weder mit Astrologie noch mit der Kabbala, doch die Brühl griff ungefragt nach ihrer Hand und lachte: Wovor hast du Angst? Ist ja nur zum Spaß.
Nun gut, da der abwesende Franz Felice immer wieder Rätsel aufgab, musste sie eben das Orakel befragen. Felice öffnete ihre Hand und streckte sie der Kollegin bereitwillig entgegen. Eine gepflegte Stenotypistinnenhand hielt die andere, ein Zeigefinger wanderte über Lebenslinie, Marslinie, Kopflinie. Die Brühl analysierte: Selbstständigkeit und Karrierechancen, sehr gut. Aber entscheidend ist die Herzlinie, je breiter, desto größer die Chance auf eine lange, glückliche Liebe. Ist sie unterbrochen, könnte der Partner untreu sein. Was für ein Segen, Felices Herzlinie verlief als lange, ununterbrochene und ausgeprägte Furche quer über die Handfläche. Bedaure, sagte Emmy Brühl zögernd, während sie weiter über Felices Hände tastete, aber reich wirst du wohl niemals werden, deine Sonnenlinie ist kaum zu sehen.
Warum überrascht mich das nicht, sagte Felice.
Ein Leben in Saus und Braus war mit Franz schwer vorstellbar. Die Anteile an der Asbestfabrik wäre er lieber heute als morgen los, er träumte ja sogar davon, bei der Versicherung zu kündigen, damit er zum Schreiben käme, und zwar nicht über Sicherheitsfräsköpfe und dergleichen, aber, mal ehrlich, wer konnte schon von der Literatur leben, so wie Sienkiewicz, Sudermann oder Gerhart Hauptmann?
Weil das Handlinienorakel als geschickter Hinweis auf Felices konkrete existenzielle Bedenken dienen konnte, als willkommener Wink mit dem Zaunpfahl, schrieb sie Franz von dem kurzen Ausflug in die Chiromantie während der Arbeitszeit. »Wenn Frl. Brühl nicht nachgeholfen hat«, schrieb er zurück, »dann ist die Handdeutung eine schöne Kunst und besonders gegebenen Falls in der Prophezeiung des ›niemals-reich-werdens‹ leider unanfechtbar, allerdings steckt auch ein grober Fehler darin.« Felice überlegte lange, welcher Fehler sollte das denn sein, wieder erging er sich in recht nebulösen Formulierungen. Klar, es gehörte keine große Kunst dazu, bei einem wie Franz ein eher genügsames Leben vorauszusagen. Er machte kein Geheimnis aus seinem recht bescheidenen Jahreseinkommen: »… im günstigsten, vergleichsweise günstigsten Fall, werden meine Frau und ich arme Leute sein, welche diese 4588 K sorgfältigst werden einteilen müssen. Wir werden viel ärmer sein als z. B. meine Schwestern, die gewissermaßen wohlhabend sind. […] Und wenn irgendwelche große Ausgaben eintreten werden, durch Krankheit oder sonstwie, werden wir gleich verschuldet sein. Wird sie auch das ertragen?«
Franz’ Betrachtung lag neben Felices Bett, seit dem Tag, an dem das Buch im Büro angekommen war. Sie hatte noch keine einzige Zeile darin gelesen, auch die Junggesellengeschichte nicht, die sie bereits als Manuskript kannte. Immer wenn sie einen Blick hineinwerfen wollte, zuckte ihre Hand reflexartig zurück. Der bloße Anblick des Buches beunruhigte sie. Franz machte tatsächlich Ernst mit der Schreiberei. Ein Satz von Strindberg kam ihr in den Sinn: ›Solltest du einmal heiraten, so nimm den Verleger, nicht den Dichter.‹ Das brachte Felice endlich darauf, welchen groben Fehler der spitzfindige Franz in Emmy Brühls Handliniendeutung ausgemacht hatte: Die Geister, mit denen sie um ihn konkurrieren musste, waren Büttel, die am Bettelstab gingen. Mit Reichtum meinte Franz nicht klingende Münze. Reichtum, das war für ihn die Freiheit, schreiben zu dürfen. Ein Reichtum, zweifellos, den sie mit ihm würde teilen müssen. Sie würde mit ihm zusammen im Keller leben, wie er es prophezeite. Franz war vor allem gierig darauf, das fertige Buch in den Händen zu halten, er erwartete gar keine horrenden Vorschüsse vom Verleger, und man brauchte schon viel Optimismus, um daran zu glauben, dass die Leute seine kryptischen Texte kaufen würden wie geschnitten Brot. Doch die persönliche Widmung in dem Buch auf ihrem Nachttisch, die schmeichelte ihr ungemein, denn es lag ein großer Reiz darin, einen Verehrer zu haben, der schrieb, richtige Bücher. Felice wagte es und schlug vor dem Einschlafen eine beliebige Seite in der Betrachtung auf: »›Sie haben offenbar noch nie mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann man ja niemals eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein Hinundher. Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir, was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein Wunder ist.‹ – ›Ich habe aber gehört, dass man sie auffüttern kann.‹«