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Fröhliche Weihnachten

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Novembernebel, schlingernde Fahrradfahrer im nassen Laub auf den Berliner Straßen – der Briefwechsel mit Franz Kafka hatte Fahrt aufgenommen und trug einen hellen Glanz in die trüben Tage des Spätherbstes. Felice hatte sich auf den so wortgewandten und dennoch stets rätselhaft schwankenden Kandidaten eingelassen. Ihr war klar, was das bedeutete. Franz klang zwar wie die sensible Brieffreundin, doch war er, jeder Zoll, ein Mann. Die Dinge nähmen ihren Lauf, so wie im bürgerlich-jüdischen Milieu üblich: höfliche Vorstellung des Kandidaten bei den Eltern in Berlin, vielleicht schon zu Weihnachten, der Doktor würde bald um ihre Hand anhalten, Verlobung, Hochzeit womöglich im kommenden Jahr.

Fräulein Bauer, für Sie, ich glaube, es ist privat! In der Telefonzentrale der Lindström AG streckte ihr eine Mitarbeiterin den Hörer entgegen. Am Apparat war Max Brod, der sich gerade in Berlin aufhielt. So nervös, wie er sich räusperte, hatte er etwas auf dem Herzen.

Ist was mit Sophie oder mit deinen Eltern?, fragte Felice.

Nein, aber mit Franz, sagte Max. Der wünsche, wieder knarrte ein Räuspern durch die Leitung, den Briefverkehr zu beenden.

Felice entfuhr ein lautes Lachen. Erst vor ein paar Tagen hatte Franz sich mit theatralischen Zeilen von ihr verabschiedet: »Sie dürfen mir nicht mehr schreiben, auch ich werde Ihnen nicht mehr schreiben. Ich müsste Sie durch mein Schreiben unglücklich machen und mir ist doch nicht zu helfen […] ich habe es ja vor meinem ersten Briefe klar gewusst und wenn ich mich trotzdem an Sie zu hängen versucht habe, so verdiente ich allerdings dafür verflucht zu werden, wenn ich es nicht eben schon wäre. […] Vergessen Sie rasch das Gespenst, das ich bin, und leben Sie fröhlich und ruhig wie früher.« Felice hatte diesen Brief zu den anderen gelegt und dem finalen Paukenschlag keine weitere Bedeutung beigemessen. Franz Kafka beherrschte die gesamte Partitur der Selbstanklage und des Dramatisierens. Der Mann, der seinen Mandanten von Berufs wegen tagtäglich weismachen musste, dass es für jedes Risiko eine Absicherung und für jedes Problem eine Lösung gab, stand vor allem sich selbst im Wege.

»Unmöglichkeiten auf allen Seiten!« Kafka litt unter dem Joch seiner Arbeit, krankhafter Geräuschempfindlichkeit, chronischen Magenproblemen, dem Gefühl des Verlorenseins und diagnostizierte sich eine »in sich selbst verliebte Hypochondrie.« Wahrlich kein Profil für ein gestandenes Mannsbild, doch Felice blieb gelassen; den Hörer in der Hand, versicherte sie Max, dass sie keineswegs vorhabe, den Kontakt abzubrechen, auch wenn sich Franz’ Briefe oft um sich selbst drehten, sodass Felice beim Lesen ein wenig schwindlig wurde. Das Denken der Gedanken war offenbar sein liebster Sport.

Ich weiß nicht, wieso das kommt, sprach sie ins Telefon, Franz schreibt mir ziemlich viel, aber es ergibt sich aus den Briefen kein rechter Sinn, ich weiß nicht, um was es sich handelt, wir sind einander nicht näher gekommen, und es ist keine Aussicht, vorläufig. Vorläufig, das betonte Felice, aber wir kennen uns ja noch gar nicht richtig.

Franz wusste es schließlich selbst: Briefe erzeugen keine Gegenwart, vielmehr einen Zwitter zwischen Gegenwart und Entfernung. Vier Monate war die Zufallsbegegnung bei Brods jetzt her, höchste Zeit, die Gegenwart aufzufrischen, ihr neues Leben einzuhauchen, bevor die Erinnerung an den Augustabend wieder verblasste.

Max Brod stimmte zu, ihr solltet euch wieder sehen, du tätest ihm gut. Er legte sich mächtig für seinen Freund ins Zeug, sprach entschuldigend über Franz’ übergroße Sensibilität, ja, ganz recht, sie stehe seinem Handeln manchmal im Wege. Und dabei schreibt er einen Roman, der alles Literarische, das ich kenne, in den Schatten stellt. Was könnte er leisten, wenn er frei und in guten Händen aufgehoben wäre! Ein so einzigartiger und wundervoller Mensch wie Franz verdiene es eben, anders behandelt zu werden als Millionen banaler Dutzendleute.

Aufs Urteil des klugen Max gab Felice viel. Vielleicht, dachte sie, kann ich dazu beitragen, dass eine Literatur in die Welt kommt, die größer ist als alles Voraufgegangene, auch wenn ich sie nicht verstehe. Ich muss sie auch gar nicht verstehen.

Seit wir uns Briefe schreiben, Franz und ich, sagte Felice zu Max und strich eine Haarsträhne glatt, die aus ihrer Steckfrisur ausgebrochen war, fühle ich mich so sichtbar.

Mit Ungeduld sehnte Felice den Feierabend herbei. Noch nie seit Beginn der Korrespondenz mit Franz hatte es sie so wie jetzt gedrängt, ihm zu schreiben. Das übliche Stimmengewirr aus der Telefonzentrale, ich verbinde, Fräulein Brühl kämpfte im Nebenzimmer leise fluchend mit einem verklemmten Schreibmaschinenhebel, Felices verdiente Mittagspause fiel aus, weil ein englischer Großkunde, den man nicht einfach hinauskomplimentieren konnte, sich ausführlich über den Parlografen informieren ließ und Fragen über Fragen zur Handhabung des neuen Geräts stellte. Automatische Aufzeichnung, erklärte Felice dem Engländer, dachte, dass Franz gerade jetzt in seiner Zerrissenheit einen Menschen brauchte, der für ihn da sein konnte. Ob man Spezialpapier für die Walze bräuchte, fragte der Kunde mit dem charmanten Akzent. Felice hatte sich anfangs so schwer getan, einen Briefwechsel mit dem Mann aus Prag zu beginnen; sie hatte den Weg zögerlich beschritten, nun aber war sie umso entschlossener, ihn bis zum Ende zu gehen. Ja, Spezialpapier, gab sie zur Auskunft, selbstverständlich auch bei uns erhältlich wie sämtliches Zubehör. Ob bei der Abnahme von fünf Parlografen ein Sonderpreis gewährt würde. Felice nickte. Ja, doch, Franz, jetzt erst recht! Gleich, wenn sie zu Hause wäre, würde sie ihm mit kühlem Kopf schreiben und seine überreizten Nerven beruhigen. Gegen alles ist ein Kraut gewachsen. Anscheinend wollte Franz den Briefwechsel bloß aus lauter Rücksicht beenden, weil er glaubte, Felice mit seinen gedanklichen Ausschweifungen zu überfordern, aber war sie bis jetzt nicht mit allem Möglichen fertig geworden? Jetzt hatte sie erst recht eine Aufgabe, sie musste den Zauderer an die Hand nehmen und ihn von seinen nagenden Zweifeln erlösen! Am Ende des Weges stand der Tempel, in den sie eintreten würden, um, masel tov, die Ehe einzugehen, die ihnen ein schönes, gerades Leben aufzeigen würde. 50 Prozent Zeitersparnis beim Diktat, dafür garantiert die Lindström AG. Okay, bestens. Der britische Kunde verabschiedete sich mit Handschlag.

Good bye Miss Bauer! Thank you very much!

Der Engländer war aus der Tür, Felice kam endlich dazu, ihr Mittagessen nachzuholen. Zu mehr als drei Riegeln Schokolade, die sie sich in den Mund steckte, fehlte ihr jedoch schon wieder die Zeit, denn Rosenbaum, der nette Mitarbeiter, kam mit einem Einschreiben gelaufen, das sie abzeichnen musste, und dann wurde sie erneut in die Telefonzentrale gerufen. Diesmal war es zum Glück nicht privat.

Noch einmal an diesem Tag, spätabends und schon halb im Bett, setzte Felice ihren Namen auf ein Blatt Papier. Das reibungslose Funktionieren des Parlografen versprach sie ihren Kunden zehnmal am Tag. Jetzt steckte sie einen Brief ins Kuvert, mit dem sie Franz Kafka ihrer bedingungslosen Zuneigung versicherte. »Wenn wir uns erst besser kennen«, schrieb sie, »werden unsere Worte füreinander nicht mehr so fremd klingen.« Es gibt nur Heilung von Mensch zu Mensch, so Franz’ eigene Worte, es war das Gebot der Stunde. Etliche Generationen vor ihnen hatten den Fehler begangen, wie zwei Fremde in die Ehe zu tappen. Bis heute war es gerade in jüdischen Kreisen üblich, dass die Eltern eine Ehe anbahnten und die Verkuppelten sich zum ersten Mal überhaupt im Tempel erblickten, wenn der Bräutigam den Schleier der Braut lüpfte. Kein Wunder, dass es da zu Verwerfungen kam wie bei Felices eigenen Eltern, diese ewigen Missverständnisse, die im Hause Bauer herrschten und vor denen Felice am liebsten die Augen verschloss.

Felice musste nicht lange auf eine Antwort warten. Prag schrieb postwendend: »Gott sei Dank! sage auch ich. Ich habe Sie also nicht verloren.« Felice beschlich der leise Verdacht, Kafka habe sie mit seinem Adieu nur auf die Probe stellen wollen. Ermutigt durch ihr Treuebekenntnis, sprang er von einem Satz zum nächsten vom Sie ins Du: »Ich antworte z. B. auf Ihren Brief und liege dann scheinbar still im Bett, aber ein Herzklopfen geht mir durch den Leib und weiß von nichts als von Ihnen. Wie ich Dir angehöre, es gibt wirklich keine andere Möglichkeit es auszudrücken und die ist zu schwach.« Felice verspürte eine Wallung, ein warmes Gefühl durchströmte ihren gesamten Körper bis in die Fingerspitzen, in denen Franz’ Brief leicht zitterte. »Ich bin noch knapp gesund für mich«, las sie weiter, »aber nicht mehr zur Ehe und schon gar nicht zur Vaterschaft.« Felice musste sich setzen. Der eiskalte Guss auf ihre erwärmten Gefühle trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Mal hü, mal hott, Franz warf Nebelkerzen. Doch die entscheidenden Begriffe waren im Spiel, das ließ sich nicht mehr leugnen, und das allein zählte. Was Franz mit Herzklopfen zu Papier brachte, waren eindeutig Liebesbriefe, auch wenn sie eine merkwürdige Verneinung ihrer selbst in sich bargen. Er schien sich über diesen Widerspruch allerdings genau im Klaren zu sein, denn er fragte Felice erneut, ob sie ihm bei all dem Irrsinn tatsächlich weiter schreiben wolle?

»Schmonzes«, beruhigte mütterlich Felice, »quäl Dich nicht immer so.«

Vermutlich war Franz’ Schwanken eine Art Masche, sie erst recht anzulocken, seine geradezu feminine Koketterie mit der eigenen Unzulänglichkeit konnte durchaus amüsant sein. Felice hatte sein Du erwidert, und schon hatte sie ihn wieder ganz für sich gewonnen.

»Du Liebste! Kann ich jetzt Deiner sicher sein? Das ›Sie‹, das gleitet wie auf Schlittschuhen, in der Lücke zwischen 2 Briefen kann es verschwunden sein, man muss dahinter her jagen mit Briefen und Gedanken am Morgen, am Abend, in der Nacht, das Du aber, das steht doch, das bleibt wie Dein Brief da, der sich nicht rührt und sich von mir küssen und wieder küssen lässt. Was ist das für ein Wort! So lückenlos schließt nichts zwei Menschen aneinander, gar wenn sie nichts als Worte haben wie wir zwei.« Franz drehte den Spieß einfach um: Er war ja der Wackelkandidat gewesen, der sie in Unsicherheit gelassen hatte, nicht sie. Doch Felice war glücklich, Franz mit der Erwiderung des Du beruhigen zu können. Ein ähnliches Glücksgefühl verspürte sie, wenn sie den Kindern auf der Straße von ihren Bonbons schenkte.

»Wie kamst Du zu dem Namen?«, wollte Franz nun wissen.

Damit traf er einen wunden Punkt, denn Felice hatte ein kleines Problem mit ihrem Vornamen; die Leute waren sich unsicher, wie sie ihn aussprechen sollten. Der eine intonierte französisch, der andere italienisch, die meisten sprachen den Namen aus wie Felize oder nannten sie Felicitas. Und als sie es auf einer Messe einmal mit einem waschechten Italiener zu tun bekam, wunderte der sich, dass der Verfasser der Geschäftsbriefe, die er von Lindström erhalten hatte, eine Frau war. Am liebsten hätte Felice Franz geantwortet: Ich heiße so, weil Franz und Felice klingt wie füreinander erfunden.

Ob er sie kurz ›Fe‹ nennen dürfe, fragte er. Das erinnere ihn an die Fee aus dem Märchen, ein Kosename zum ins Ohr flüstern. Gewiss dürfe er das, schrieb Felice. Franz schwenkte auch bei Kleinigkeiten gern um: »Wieder gefällt mir Fe nicht so gut wie Felice, es ist zu kurz, der Atem weht nicht lange genug hindurch. […] es ist für Mitschülerinnen gut, für flüchtige Berührungen; Felice ist mehr, ist schon eine ordentliche Umarmung.«

Auf ihrem niedlichen Schreibtisch mit den schlanken Beinen wuchs ein ansehnlicher Stapel in die Höhe. Sie nahm ihn einmal mehr zur Hand und blätterte durch das Konvolut wie durch ein Daumenkino. Allein, dass Franz so quengelte, wenn sie nicht postwendend antwortete, ließ sie bei der Ankunft jedes Briefes aus Prag nach Luft schnappen, denn das hieß, sie musste sofort nachlegen, wollte sie Vorwürfe vermeiden: »Liebste, das solltest Du nicht! Versprechen, dass ein zweiter Brief kommt und es nicht halten.« Sie kam kaum nach mit dem Schreiben, dabei nutzte sie jede freie Minute, verdarb sich die Augen im Schein ihrer Nachttischlampe. Felice bekam einen Totenschreck, als plötzlich die Mutter in ihrem Zimmer stand und fragte, wie, musst du nicht morgen früh raus? In flagranti erwischt, ließ sie den Federhalter sinken. Löschte das Licht, schlief ein paar Stunden und wieder viel zu kurz, am nächsten Morgen schrieb sie in schlechter Haltung mit dem Briefbogen auf den Knien in der Elektrischen weiter, verwackelte, aber leserliche Zeilen, hin und wieder opferte sie auch die Mittagspause und tippte ihre Privatpost auf der Oliver. Oft zerriss sie eine vollgetippte Seite wieder. Wie schwer es doch war, die Zwischentöne zu treffen, Briefe bekamen gleich sowas Bekenntnishaftes. Felice schwindelte; jedes Mal, wenn sie die Feder zur Hand nahm oder an der Schreibmaschine saß, blickte sie ein Ungeheuer an, das sie zu verschlingen drohte.

Ende November schon, das Jahr 1912 eilte mit Riesenschritten davon, ohne dass Felice den emsigen Schreiber wiedergesehen hatte. Die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage boten doch die beste Gelegenheit für ein Treffen; Felice bekam eine ganze Woche Urlaub, und auch bei der Prager Versicherung würde die Arbeit ruhen. Sie zog einen Briefbogen aus der Schreibtischschublade und setzte den Federhalter aufs Papier: »Lieber Franz, was wirst Du in den Weihnachtstagen machen?«

Sie stellte sich vor, wie sie über die im festlichen Lichterglanz erstrahlende Leipziger Straße flanierten und auf dem Schlachtensee Schlittschuh liefen, vielleicht gab es weiße Weihnachten. Andererseits, Berlin war groß und laut, und ein Treffen mit Franz im Kreise der Familie erschien noch zu früh. Außerdem, Felices Erholungsbedürfnis war enorm, warum also nicht erstmal zu zweit oder anstandshalber in Gesellschaft der Brods ins Gebirge, am besten an einen Ort, den Franz von Prag aus gut erreichen konnte, zur Schneekoppe oder ins Erzgebirge, das wäre für sie beide etwa der halbe Weg. Felice brütete an jenem Abend über einer Landkarte von Böhmen und Mähren, und als sie gegen Mitternacht das Licht löschte, schlief sie über dem vielversprechenden Reisegedanken ein, träumte, wie sie mit Franz eine glitzernde Winterlandschaft durchwanderte.

Franz’ Antwort, zügig wie immer, fiel diesmal kurz und knapp aus: Er müsse schreiben. An einem neuen Manuskript, das zu einem Roman werden sollte, Max Brod hatte es schon angedeutet, es hieß Der Verschollene, vorläufig. Schon bevor er Felice über den Weg gelaufen war, hatte er an dieser Prosa gesessen, und die war die Geliebte mit den älteren Rechten. Felice vermochte es nicht zu leugnen, sie war eifersüchtig auf die Geister, mit denen Franz sich umgab. Lieber verbrachte er Zeit mit diesen Luftgestalten als mit ihr, einer Frau aus Fleisch und Blut. Da half es auch nichts, dass Franz ihr wortreich erklärte, alle seine erdichteten Menschen liefen vereint Arm in Arm auf sie zu, um letzten Endes ihr, Felice, zu dienen. Was hatte sie denn davon? Abgesehen vom, zugegeben, erhabenen Gefühl, mit einem hoffnungsvollen Dichter zu korrespondieren, nichts, bis jetzt jedenfalls. Und was meinte er mit dem Nutzen, den sie von den Geistern hätte? Beim Blick in die Auslagen der nahen Buchhandlung in der Prenzlauer Allee sah sie die Bücher, die sich derzeit gut verkauften, Romane von Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann, und dann der Dauerbrenner Quo Vadis, den Erfolgsroman des Polen Henryk Sienkiewicz über Nero und den Niedergang des alten Rom. Der Autor war steinreich geworden damit, hatte den Nobelpreis erhalten und konnte nun schreiben, was er wollte, oder er musste überhaupt nicht mehr schreiben. Der konkrete Nutzen der Geister konnte doch nur sein, dass Franz eines Tages von der Literatur eine Familie würde ernähren können, so wie die Schriftsteller, die in allen Buchhandlungen lagen. Vorerst bewirkten die Geister aber nichts anderes, als ihn, Franz, von ihr fernzuhalten. Sein Urlaub vom Büro schien auch nicht gerade üppig auszufallen: »Übrigens erinnere ich mich nicht, jemals Weihnachten eine Reise gemacht zu haben; irgendwo hinzurollen und nach 1 Tag zurückzurollen, die Nutzlosigkeit einer solchen Unternehmung war mir immer erdrückend.«

Felice ließ den Brief in den Schoß sinken. Schroffe Worte aus der Feder desselben Mannes, der sie bereits als seine Liebste anschmachtete und der seine Briefe, ja, so gestand er, mit Küssen versiegelte. Wohl eher die romantische Anwandlung eines Moments. Wenn er seine Liebesschwüre wirklich ernst meinte, müsste es ihn dann nicht mit allen Fasern zu Felice nach Berlin drängen? Und hatte Franz ihr nicht noch vor wenigen Tagen, zum fünfundzwanzigsten Geburtstag, Flauberts Éducation sentimentale übersandt und einen Blumenboten in der Immanuelkirchstraße vorbeigeschickt, mit einem Strauß duftender roter Rosen? Der Strauß stand in einer Vase in Felices Zimmer, doch die Blumen ließen längst die Köpfe hängen. Felice hatte Franz’ heutigen Brief noch nicht zu Ende gelesen. Die letzten Zeilen schürten erneut Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen: »… ist es nicht wichtiger, als der Schreibwut die Freiheit von 6 fortlaufenden Tagen und Nächten zu geben, meine armen Augen endlich mit Deinem Anblick zu sättigen? Antworte Du, ich sage für mich ein großes ›Ja‹.« Die Schneekoppe ragte wieder auf am Horizont.

Felice konnte sich sogleich an den Schreibtisch setzen, einen unternehmungslustigen Brief an Franz schreiben: »Habe sechs Tage Berghotel Wilder Mann gebucht.« Oder sie konnte schon jetzt zwei Karten vorbestellen für die hochgelobte Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Rose Bernd im Lessing-Theater oder für Orpheus in der Unterwelt, der über Weihnachten im Theater am Nollendorfplatz gegeben wurde. Die Ballets Russes gastierten in der Kroll-Oper, die Truppe unter Leitung ihres Impresarios Sergeij Djagilev wurde überall mit Brio empfangen, die Kritiker überschlugen sich mit Lob, aber Franz hatte die Compagnie bereits in Prag erlebt. Ohnehin gab er den Tanzaufführungen von Dalcroze den Vorzug, die in Dresden-Hellerau Schule machten, wo sich gerade neuartige Reformideen Bahn brachen und über jedes bestehende Gesetz der Kunst hinwegsetzten, sei es im Tanz, in der Architektur oder in der Gestaltung von Möbeln. Felice wollte Franz etwas Spektakuläres bieten, in einer Stadt wie Berlin herrschte ja kein Mangel an Auswahl. Das Berliner Tageblatt war voller Vorankündigungen für die Feiertage, und bei Wertheim waren die Bestellungen für Präsentkörbe mit Entenstopfleber, Marzipankugeln und Dresdner Stollen in vollem Gange. Felice konnte sich noch nicht entscheiden.

Das entschlossene Ja, das Franz Felice am Ende seines letzten Briefes entgegengerufen hatte, verhallte ohne Antwort. Felice war gerade vollauf mit den aufwendigen Vorbereitungen fürs bevorstehende zehnjährige Firmenjubiläum der Lindström AG beschäftigt. Für den 30. November war eine große Feier mit Tanz und Theateraufführung geplant, in einem Saal in der Potsdamer Straße. Tanzen, ja, das konnte Felice, nur für ihre Rolle als Verkörperung des ›Humor‹ in einem kleinen Sketch, von den Mitarbeitern selbst verfasst, musste sie noch ein wenig üben und ihren Text lernen. Am Abend der Betriebsfeier erschien Felice in Begleitung ihrer Schwester Toni. Der Empfang begann mit Reden der beiden Lindström-Chefs Straus und Heinemann. Bereits im Jahre 1906, zogen sie selbstbewusst Bilanz, habe man auf die stolze Zahl von 150.000 verkauften Grammofonen schauen können. Auch die Weiterentwicklung der Klanggeräte durch einen beweglichen und zurückklappbaren Tonarm sei ein Verdienst der Lindström AG. Seit der Fusion mit Odeon habe man die Verkaufszahlen noch weiter steigern können und die Schallplatte ins Angebot aufgenommen. Herausragend auf dem Markt seien die unterschiedlichen Sprechmaschinen der Lindström AG, vor allem der Parlograf, das Flaggschiff unter den Lindström-Produkten. Die Angestellten wurden für ihr Engagement gelobt, Felice dankte den Vorgesetzten für die angenehmen Arbeitsbedingungen und die Kollegialität, die in der Firma herrsche. Applaus, Musik hob an, eine Schallplatte drehte sich auf dem Odeon-Grammofon, der muntere Schlittschuhwalzer.

Die Aufführung des Sketchs ging mit viel Gelächter über die Bühne, flott berlinernd gab Felice den Humor in Person, mit dem sie schlagfertig einen schwierigen Kunden zufriedenstellte, den der Kollege Rosenbaum spielte und der die absurdesten Fragen zu den Lindström-Produkten stellte. Ob der Parlograf auch moderne Schlager spielen könne? Ob es die schöne Verkäuferin gratis dazu gebe? Felice verdrehte die Augen, fertigte den Kunden alias Rosenbaum mit einem unterschriebenen Kaufvertrag über zehn Parlografen ab und freute sich demonstrativ über das gute Geschäft. Applaus, Gelächter, jemand aus dem Publikum fragte Felice nach der Darbietung, ob sie schon mal in München gewesen sei, da trete neuerdings ein beliebtes Komikerpaar auf, Karl Valentin und Liesl Karlstadt, an die erinnere der Auftritt, Kompliment! Felice und Toni ließen sich den Spaß an jenem Abend nicht nehmen. Sie tanzten Walzer und Polka mit Rosenbaum und dem Prokuristen Salomon, bis der letzte Ton verklang und sie mit einer Droschke von der Potsdamer Straße nach Hause fuhren zum Prenzlauer Berg. Am nächsten Morgen schmerzten Felice immer noch die Füße.

Eine geschlagene Woche war über den Festivitäten verstrichen, und Felice war Franz immer noch eine Antwort auf sein Ja zum Wiedersehen schuldig. Öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch, da lag wie ein Vorwurf das Briefpapier, lauter unbeschriebene, weiße Seiten. Endlich nahm sie die Feder zur Hand: »Weihnachten bleibe ich nun doch in Berlin.« Aber Franz, der könne ja reisen und nach Berlin kommen. Verwandtenbesuch hatte sich angekündigt, ein Haufen Einladungen war inzwischen ins Haus geflattert, wahrscheinlich würde man über die Feiertage von einer Gesellschaft zur nächsten fahren, auch eine weitere Tanzveranstaltung in einem der zahlreichen Ballsäle Berlins stand auf dem Programm sowie ein Termin beim Fotografen für ein aktuelles Familienporträt. Wenig einladende Aussichten für einen wie Franz, kam es Felice in den Sinn, als ihre Post mit einem dumpfen Geräusch ins Dunkel des nächsten Briefkastens fiel. Nein, Weihnachten wäre ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für ein erstes Wiedersehen. So sehr Felice sich wünschte, Franz die Grunewaldseen zu zeigen, auf denen Schlittschuhläufer ihre Pirouetten drehten, ihn der Familie vorzustellen, die sie schon lange mit neugierigen Fragen nach dem Herrn aus Prag löcherte, neben ihm über einem Orchestergraben zu sitzen und den Berliner Philharmonikern zu lauschen – größer als all diese Wünsche zusammen war Felices Angst vor dem Theater, das sie Franz vorspielen müsste, käme er tatsächlich nach Berlin. Jetzt rächte sich, dass sie in den vielen Briefen, die sie seit dem Spätsommer nach Prag geschickt hatte, inmitten harmloser Plaudereien über Berliner Tanzvergnügen und den revolutionären Parlografen, eine Mauer des Schweigens errichtet hatte. Denn Felice verheimlichte Franz ein Familiendrama.

Kafka und Felice

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