Читать книгу Kafka und Felice - Unda Hörner - Страница 9

Verschwörung der Frauen

Оглавление

Felices Schwester Erna war schwanger, im fünften Monat. Der Kindsvater, ein unsicherer Gesell, hatte sich aus der Affäre gezogen. Felice war die Einzige, der Erna sich in ihrer Zwangslage anvertraut hatte. Auf Felice war stets Verlass, früher schon, wenn man was angestellt hatte, holte sie die Kastanien aus dem Feuer. Felice half, wo immer sie konnte, flickte zerrissene Strümpfe, rettete bei Hausaufgaben, legte gute Worte bei Vater und Mutter ein. Aber ein uneheliches Kind, das war weiß Gott eine andere Größenordnung als eine schlechte Schulnote. Die beiden Schwestern kamen überein: kein Sterbenswort zu den Eltern. Auch vor dem Gerede der Leute musste Felice Erna schützen, nicht auszudenken, wie schief man sie ansähe als gefallenes Mädchen. Erna musste weg aus dem kleinen Ort Sebnitz bei Dresden, wo jeder jeden kannte. Das Kind woanders zur Welt bringen, eine Pflegefamilie finden, darum kreisten Felices schwere Gedanken. Das hieß, Erna musste ihre solide Sekretärinnenstelle bei einer Elektroinstallationsfirma kündigen und Felice für die Schwester finanziell in die Bresche springen.

Das Stakkato der Schreibmaschinenmusik verklang, die Kolleginnen wünschten einander wie immer einen schönen Feierabend, die Räume der Lindström AG leerten sich, doch Felices Arbeitstag war noch nicht zu Ende. Sie hatte sich vor Kurzem auf eine Kleinanzeige im Tageblatt gemeldet, da suchte jemand eine tüchtige Schreibkraft in Nebentätigkeit für die Abendstunden, das passte. Felice wurde bei einem Professor vorstellig, der schnell erkannte, welch hoch qualifizierte junge Frau er engagiert hatte. Dreimal die Woche wurde vereinbart, Felice konnte sofort anfangen. Während ihr der Professor mit sonorer Stimme naturwissenschaftliche Abhandlungen diktierte, von denen sie nur Bruchstücke kapierte, flogen ihre flinken Finger mechanisch über die Tastatur einer Remington. Kein Wunder, dass Felice der Sinn wenig nach Briefeschreiben stand, wenn sie am fortgeschrittenen Abend nach Hause kam, die Hand ins Kreuz gestützt wie eine alte Frau. Sie lehnte sich mit dem schmerzenden Rücken an den warmen Kamin, um sich etwas Linderung zu verschaffen, im Bett fielen ihr sofort die Augen zu. Als die Fakturistin bei Lindström krank wurde und Felice auch noch deren Arbeit übernehmen musste, bekam sie zu allem Überfluss Ärger mit der Mutter, die zeterte, als sei Felice auf krummen Pfaden unterwegs gewesen: Jetzt kommst du erst nach Hause? Weißt du eigentlich, wie spät es ist, Felice? Alle Handarbeiten bleiben liegen, soll ich etwa den Pullover für Ferri fertigstricken? Der gereizte Ton der Mutter war nicht zu überhören. Die selbstständige Tochter entzog sich ihrer Kontrolle, und dann auch noch diese Gestalt aus Prag, von der man nichts Genaues wusste. »Ihr letzter Brief ist so nervös«, schrieb Franz, »dass man das Verlangen bekommt, Ihre Hand einen Augenblick lang festzuhalten.«

Ja, gerade jetzt hätte Felice dringend einen Vertrauten in ihrer Nähe gebraucht, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Aber Händchenhalten war ein Kunststück zwischen Spree und Moldau, und was nutzte es schon, Franz mitzuteilen, dass sie gern Strindberg las, oder ihm Anekdoten der Bürokolleginnen zum Besten zu geben, wenn sie über das Wichtigste, was sie beschäftigte, über Ernas missliche Lage, schweigen musste wie ein Grab? Franz reinen Wein einschenken, viel zu riskant. Nicht auszudenken, wenn er mit seinem Antwortbrief in deutlichen Worten auf die derzeitige Situation einginge. Felice hatte ihre Mutter ja bereits dabei ertappt, wie sie unter dem Vorwand, nur eine Briefmarke zu suchen, neugierig in ihren privaten Papieren herumkramte, als sei ihr Schreibtisch ein offener Zeitungskiosk. Auch Toni war schon mal mit hochrotem Kopf aus Felices Zimmer hinausgeschlüpft, als die früher als erwartet nach Hause kam, weil der Professor ausfiel. Noch schlimmer wäre, wenn Franz’ Mutter Wind von der Sache bekäme und das Geheimnis der beiden Schwestern auf dem Umweg über Prag nach Berlin vordringen würde.

Unwahrscheinlich war das nicht. Erst vor ein paar Wochen, Mitte November, hatte wieder ein Brief aus Prag auf Felices Schreibtisch gelegen, doch die Schrift auf dem Kuvert war nicht die gewohnte. Felice riss den Brief auf, unterschrieben hatte Julie Kafka. Wie kam die Frau dazu, ihr zu schreiben?

»Ich habe durch Zufall einen an meinen Sohn adressierten Brief vom 12/11 datiert und mit Ihrer w. Unterschrift verseh’n zu Gesicht bekommen. Ihre Schreibweise gefiel mir so sehr dass ich den Brief zu Ende las, ohne zu bedenken, dass ich dazu nicht berechtigt war.« Felice versuchte sich zu erinnern, was sie an jenem 12. November an Franz geschrieben hatte, vielleicht vom bevorstehenden Firmenjubiläum, von einem Besuch beim Zahnarzt? Felice war erbost, man steckte seine Nase nicht in Briefe, die jemand anderem galten. Wie weitsichtig, kein Wort über Erna verloren zu haben! Trotzdem saß Felice beim Weiterlesen die Angst im Nacken, was wollte Julie Kafka, die sich so schmeichlerisch wand, bloß von ihr? Es ging, das stand nach wenigen Zeilen fest, um Franz: »Dass er sich in seinen Mußestunden mit Schreiben beschäftigt, weiß ich schon viele Jahre. Ich hielt dieß aber nur für einen Zeitvertreib. Auch dieß würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter. Er schläft und isst so wenig, dass er seine Gesundheit untergräbt, und ich fürchte dass er erst zur Einsicht kommt, wenn es Gott behüte zu spät ist. Darum bitte ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen und ihn befragen wie er lebt, was er isst, wie viel Mahlzeiten er nimmt, überhaupt seine Tageseintheilung. Jedoch darf er keine Ahnung haben, dass ich Ihnen geschrieben habe überhaupt nichts davon erfahren, dass ich um seine Correspondenz mit Ihnen weiß. Sollte es in Ihrer Macht stehen, seine Lebensweise zu ändern, würden Sie mich zum großen Dank verpflichten und zur glücklichsten machen.« Da schlug ein besorgtes Mutterherz. Julie Kafka sah nachts die Lampe im Zimmer ihres Sohnes brennen, aber tagsüber kam er kaum aus dem Bett. Er war ein schlechter Esser, magerte ab und wurde immer blasser. Schließlich wäre ein regelmäßiger Lebenswandel auch ganz in Felices Sinn, hinsichtlich einer gemeinsamen Zukunft mit Franz. Konnte Felice der Frau lange böse sein?

Als brave Schwiegertochter in spe erfüllte sie Julie Kafkas Bitte. Acht Stunden Schlaf, riet sie Franz, weniger sei der Gesundheit abträglich. »Halte Maß! Behalte das Ziel im Auge! Ist es Dir nicht möglich, Dein literarisches Schaffen auf zwei, drei Stunden täglich zu beschränken?« Welch absurder Vorschlag für einen wie Franz! Wahrscheinlich brauchte er an manchen Tagen schon ein bis zwei Stunden, um die Wortbrocken in seinem Kopf zu ordnen und überhaupt einen einzigen Satz zu formulieren, der ihn zufriedenstellte. Er hatte es ihr doch beschrieben, und von Max wusste sie, dass diese Literaten sich einen Dreck um den Feierabend scherten, die kriegten schlechte Laune, wenn man sie nicht schreiben ließ, sobald ihnen Sätze kamen. Trotzdem warf sie den Brief an Julie Kafka noch am selben Tag ein.

Die Verschwörung der Frauen blieb Franz nicht lange verborgen. Denn in einem Brief an Max Brod entschlüpfte Felice die Frage, ob Franz seine Post denn nicht an sicherem Orte aufbewahre. Der konnte eins und eins zusammenzählen: »Ich nahm Deine heutigen Briefe als ein Ganzes und Deine Ratschläge betreffend das Essen und den Schlaf verblüfften mich nicht besonders, was sie doch eigentlich hätten tun müssen, da ich Dir doch schon geschrieben hatte, wie froh ich bin, die gegenwärtige Lebensweise gefunden zu haben, welche die einzige halbwegs befriedigende Lösung der Widersprüche ist, in denen ich leben muss. Als mir aber Max heute eine auch nur ganz zarte Andeutung machte, wegen der Aufbewahrung von Briefen und wie seine Sachen vor den Eltern niemals sicher sind – seines Vaters Suchen und Forschen in allen Zimmerecken ist mir geradezu schon aus der Anschauung bekannt – da liefen mir mit diesen Bemerkungen alle zugehörigen Bemerkungen aus Deinen heutigen Briefen zusammen, denn Deine Briefe waren mir wie immer so auch diesmal so gegenwärtig wie der Gesichtsausdruck des Menschen, mit dem ich spreche – und ich wusste bald nicht alles zwar, aber genug, um Max zu zwingen, alles zu sagen.« Franz machte Felice keine Vorwürfe, er fing an, sich für seine kleine Schlamperei zu rechtfertigen: »Natürlich trage ich jetzt nicht alle Briefe bei mir herum wie in jenen ersten armseligen Zeiten, aber den letzten oder die zwei letzten noch immerhin. Ich trage zuhause einen anderen Rock und hänge den Rock des Straßenanzuges an den Kleiderrechen in meinem Zimmer. Die Mutter gieng durch mein Zimmer, als ich gerade nicht darin war – mein Zimmer ist ein Durchgangszimmer oder besser eine Verbindungsstraße zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer der Eltern – sah den Brief aus der Brusttasche schimmern, zog ihn mit der Zudringlichkeit der Liebe heraus, las ihn und schrieb Dir.« Franz hatte seine Mutter daraufhin zur Rede gestellt. Sie war nicht nur in sein Zimmer, sondern in einen verbotenen Raum eingebrochen, wo sie nichts zu suchen hatte. Franz versprach Felice hoch und heilig, in Zukunft besser achtzugeben. Konnte Felice sich darauf verlassen?

Über Erna also weiterhin kein Wort. Die konspirative Geschichte mussten die Schwestern allein zu Ende bringen. Womöglich servierte Felice Franz mit Ernas Dilemma ein gefundenes Fressen, Stoff, den er in neue Prosa verwandeln konnte. Wenn er nun Weihnachten nach Berlin käme, im engen Familienkreis in der guten Stube säße, hätte Felice zwei Möglichkeiten: ihn vorher einweihen oder nicht. Im ersten Fall wäre er gezwungen, sich angestrengt auf die Zunge zu beißen und das Versteckspiel mitzumachen – entschieden zu viel verlangt für einen Antrittsbesuch bei künftigen Schwiegereltern, der Franz sicher schon so genug belastete. Im anderen Fall müsste sie ihm direkt ins Gesicht lügen, denn Verschweigen war auch eine Lüge. Das widerstrebte Felice, die am liebsten geradeheraus und eine ehrliche Haut war, zutiefst. Wie eine geballte Faust drückte sich das zermarterte, übermüdete Hirn gegen ihre Schläfen: Die ständigen Kopfschmerzen, unter denen sie seit einiger Zeit litt, bekämpfte sie mit Aspirin und Pyramidon. Als sie einmal mehr beim Arzt im Wartezimmer saß, weil sie ein neues Rezept brauchte, als sie schließlich aufgerufen wurde und ins Behandlungszimmer trat, schaute der Doktor sie aufmunternd an: Na, junge Frau, Sie sehen ja aus wie eine Leiche auf Urlaub! Diese Formulierung entlockte der geplagten Felice spontan ein Lächeln. Sie schrieb Franz noch am Abend, dass der Arzt ihr dazu geraten hatte, sich alle Sorgen frei von der Leber zu reden, und dass sie deshalb in Zukunft keine Geheimnisse mehr vor ihm haben wolle. Doch um welche Geheimnisse es sich handle, das verschwieg sie Franz weiterhin. Schön dumm. Jetzt wollte er erst recht wissen, was sich hinter ihren kryptischen Bemerkungen verbarg. »Bald wird die Bombe platzen«, vertröstete sie ihn. Und gab Franz damit noch mehr Rätsel auf.

Weihnachten stand unmittelbar vor der Tür, und der Brief, den Felice von Franz bekam, enthielt die enttäuschenden, gleichwohl von ihr selbst heraufbeschworenen Worte: »Meine Weihnachtsreise ist noch zweifelhafter geworden.« Franz’ Schwester Valli heiratete am ersten Feiertag, schon deshalb war er unabkömmlich. Also Besuchstrubel nicht nur bei den Bauers, sondern auch bei den Kafkas. Vor den Festtagen machte Felice sich mit einem Päckchen auf den Weg zur Post, wo sie Schlange stand mit anderen Weihnachtskunden, die schwer an ihren Geschenken trugen. Das Päckchen enthielt ihre Gabe an Franz, ein Täschchen, darin ihr Foto, eines, auf dem sie sich einigermaßen gut getroffen fand, mit festem, offenem Blick. Als sie endlich an die Reihe kam, das Päckchen über die Theke schob und der Schalterbeamte es mit einer Briefmarke versah, als das Päckchen in einem großen schwarzen Kasten verschwand, den ein grau gewandeter Diener in einen fensterlosen Raum am Ende eines Ganges beförderte, schien Felice eine gemeinsame Zukunft mit Franz in unendliche Ferne gerückt. Auf dem Rückweg von der Post liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Tränen waren Felices einziges Ventil. Sie flossen auf offener Straße, im Büro, in der Elektrischen. Sie kamen Felice unvermittelt am Esstisch und abends beim Handarbeiten. Sie stahl sich in ihr Zimmer, bevor die Mutter aus der Küche hereinkam und ihr verweintes Gesicht sehen konnte. Die Tränen bahnten sich den Weg in dem Riss, der durch ihr Leben ging. Hier Verantwortungsgefühl, dort Sehnsucht des Herzens. Aber Blut war dicker als Wasser, und die pflichtbewusste Felice hatte dem eigenen Glück die Tür versperrt. Sie musste sich für die Eltern unbedingt noch eine Ausrede überlegen, warum Erna dieses Jahr zu Weihnachten nicht kommen konnte.

Im Büro war Felice viel unbeschwerter als zu Hause, denn in der Familie herrschte, wie so oft, auch heute eine gespannte Atmosphäre. Nur auf den ersten Blick sah alles friedlich aus, die Mutter und Toni, zwei links, zwei rechts, mit Strickzeug im Wohnzimmer, der Vater zurückgezogen mit Lesestoff im Schlafzimmer. Es war ihm nicht gelungen, seine Ehefrau wieder auszusöhnen, obwohl das, was sie ihm zur Last legte, Schnee von gestern war, die einstige Geliebte. Noch so eine Geschichte, dachte Felice, die ich Franz unmöglich erzählen kann: dass der Vater sich aus dem engen Korsett der jüdischen Mischpoche befreit hatte. Vor elf Jahren war das gewesen, Felice war ein vierzehnjähriges Mädchen und hatte zu vermitteln versucht zwischen dem gutmütigen, lebensfrohen Papa und der strengen, alles überwachenden Mutter, aber er war ausgezogen, zu seiner Geliebten. Seine Kinder hatte er fortan nur noch in Cafés und Restaurants getroffen, Felice fungierte als Geldbotin und überbrachte der Mutter den Unterhalt des Vaters in bar. Nach drei Jahren starb die Geliebte, und Carl Bauer, der die Einsamkeit nicht ertrug, kehrte reumütig zu seiner Familie zurück. Da saß er nun allein im Schlafzimmer, und Anna Bauer war noch immer ein wandelnder Vorwurf. Sie konnte es einfach nicht lassen, giftige Pfeile auf ihren Gatten abzuschießen, ihre Spitzen trafen auch Felice, die dem Vater längst verziehen hatte und kein Hehl aus ihrer Tochterliebe machte.

Die Ehe ist die einzig gültige Form des Zusammenlebens, sprach die strickende Anna Bauer, als sei das der kategorische Imperativ, und wies mit einer stummen Kopfbewegung auf den dicken Brief, der an Felices Platz auf dem Esszimmertisch lag.

Felice wagte sich sehr weit vor, als sie die Mutter zaghaft darauf hinwies, dass auch eine Ehe kein Garant für ewiges Glück sei, das müsse sie doch aus eigener Erfahrung wissen.

Anna Bauer ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und bohrte die lange Nadel in die Luft.

Ja, wann lässt sich dein Herr Doktor denn mal blicken?, fragte sie so, als hätte sie die Hoffnung auf eine Begegnung mit dem großen Unbekannten ohnehin schon abgeschrieben.

Dass Herr Kafka sehr beschäftigt sei, antwortete Felice, schließlich sei er neben seinem anspruchsvollen Posten bei der Versicherung Teilhaber einer Fabrik, und außerdem schreibe er ja auch noch an einem Buch.

Was muss er denn schriftstellern, entgegnete Anna Bauer, er hat doch einen richtigen Beruf.

Der Mutter war die Vorstellung von einem Dichter vollkommen fremd, und wenn Felice ehrlich war, fiel es auch ihr nicht leicht, sich in ein Gehirn wie das von Franz hineinzuversetzen, in einen Menschen, der in geistigen Höhenflügen Sätze formte, bis ihm die Geister aus den Sätzen leibhaftig entgegentraten.

Franz erscheint mir mit seinen feinen Gedanken wie ein Mysterium, in ihm steckt etwas ganz Großes, das fühle ich, entfuhr es ihr stattdessen laut und trotzig.

Anna Bauer ließ nicht locker: Das Dichten ist wohl ansteckend, kein Wunder, dass du dir die Nächte mit Briefeschreiben bei Kerzenlicht um die Ohren schlägst und gähnst, wenn der Wecker in der Frühe klingelt! Das ist dein Ruin!

Felice erschrak dieser Tage ja selbst über ihr wenig liebliches Spiegelbild: Augenringe, eine angestrengte steile Falte stieg auf der Stirn empor, und sprießte da nicht ein erstes graues Haar am Scheitel?

Das hat mit Franz gar nichts zu tun, sagte sie abwehrend. Sie schob ihre Erschöpfung auf die viele Arbeit, auf diesen Herrn Neble, ein Vertreter der übelsten Sorte, der sich wegen irgendwelcher unvollständigen Materiallisten beim Chef über sie beschwert hatte.

Die Stricknadeln klapperten wieder gleichmäßig in Anna Bauers Händen, als Felice sich mit dem Brief aus Prag in ihr Zimmer entfernte und die Tür hinter sich schloss. Unmöglich, ihn im Beisein der Mutter zu öffnen; das wäre wie eine große Umarmung vor fremden Leuten. »Liebste meine Liebste«, las sie, »aus Liebe wollte ich, nur aus Liebe, mit Dir tanzen, denn ich fühle jetzt dass das Tanzen, dieses Sichumarmen und Sichdabeidrehn, untrennbar zur Liebe gehört und ihr wahrer und verrückter Ausdruck ist. […] Dein Franz.« Felices Tränen flossen ungebremst und wollten nicht versiegen, als sie die Feder zur Hand nahm und schrieb: »Wir gehören unbedingt zusammen.«

Doch der Zug von Prag nach Berlin, der noch rechtzeitig zum Fest ankäme, war bereits abgefahren.

Die Weihnachtstage fielen wider Erwarten recht angenehm aus, auch Felices Kopfschmerzen hielten sich in Grenzen. Die Wertheim-Kaufhäuser blieben ausnahmsweise am Sonntag vor Heiligabend ab 13 Uhr geöffnet, das Stündlein der lebenden Karpfen und der Oderbruchgänse hatte geschlagen. In der zentralen Warenhaushalle voller echter Palmen und plätschernder Brunnen duftete es würzig nach Lebkuchen. Die Gedecke bei Wertheim waren köstlich, und jetzt, wo die Leute sich die Adventszeit veredeln wollten, bot die Küche besonders feine Speisen an, Sarah-Bernhardt-Suppe und Mandelpudding. Felice gönnte sich Spargel, die weißen Stangen aus Übersee schmeckten ebenso köstlich wie im Frühling die aus Beelitz, und weil Franz auch jedes Detail ihrer Ernährung wissen wollte, beschrieb Felice ihm ihre Gaumenfreuden. Spargel im Winter! Das löste beim enthaltsamen Fan der Reformküche einen kleinen Skandal aus.

Die Bauers wussten das christliche Fest durchaus zu genießen. Zwar hatte man keinen lamettageschmückten Weihnachtsbaum aufgestellt, zu Hause auf dem Vertiko im Wohnzimmer brannten die Kerzen eines Chanukkaleuchters. An den Feiertagen kamen wie angekündigt Bekannte der Eltern zu Besuch, man saß bei Punsch und selbst gebackenen Plätzchen am Tisch. Ein ausgedehnter Spaziergang führte die Familie bis in den Grunewald, wo sie in einer Ausflugsgaststätte einkehrten und schon nachmittags mit Wein anstießen. Man freute sich an der elektrischen Beleuchtung, die zunehmend die Berliner Straßen erhellte, Sterne und Schneekristalle passend zum Fest. Felice kam sogar dazu, das Berliner Tageblatt zu lesen, ein Luxus, den sie sich bei ihrer knapp bemessenen Zeit sonst nicht leisten konnte; gewöhnlich erhaschte sie nur die Schlagzeilen der Zeitungen in den Händen der Leute in S-Bahn und Elektrischer.

Am ersten Weihnachtstag lancierte das Tageblatt eine launige Umfrage unter dem Motto ›Muss er hübsch sein? Muss sie klug sein?‹ Rede und Antwort standen die russische Primaballerina Anna Pawlowa, der junge Prager Schriftsteller Franz Werfel oder eine Berliner Malerin: »Sobald er einen Schnurrbart trägt, ist’s aus«, antwortete diese, und das erinnerte Felice daran, dass sich, lange bevor sie Franz kennenlernte, ein Herr um sie bemüht hatte, den sie schon wegen seiner Glatze nicht leiden konnte. Was der verrückte Dichter Paul Scheerbart schrieb, entzückte Felice: »Das Schwierigste bei der Sache ist dieses: Sie muss wahrhaftig eine ganze Fülle von Klugheit besitzen, um Ihm geschickt was vormachen zu können … aber – wehe, wenn Ihr einfällt, eine ›wirklich‹ kluge Frau zu werden! Dann würde sie ja unter Umständen geneigt sein, ›kritisch‹ gegen Ihn vorzugehen. Na – und da kann ich nur aus langjähriger Erfahrung sagen: die Kritik löst die besten Ehen auf.«

Felice schnitt den Artikel aus und schickte ihn Franz, gespannt auf seine Antwort, die vielleicht etwas über seine Zukunftsvorstellungen verriet. Postwendend kam Antwort, darin stand nichts, was Felice auch nur annähernd zu mehr Aufschluss verhalf. Franz hatte wenig Sinn für die Blüten, die der Journalismus in den Feiertagsbeilagen trieb: »Was für urdumme Fragen da gestellt sind! Die Zeitung bekommt dadurch eine Art menschlichen, wenn auch idiotischen Gesichtes. […] Also ›er‹ muss allerdings hübsch sein. ›Sie‹ dagegen muss nichts mehr und nichts weniger sein, als ganz genau so, wie sie ist.«

Kafka und Felice

Подняться наверх