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Post aus Prag
ОглавлениеDamit hatte Felice überhaupt nicht mehr gerechnet: Sechs Wochen nach dem Besuch im Hause Brod hielt sie erstaunt einen Brief mit dem Kopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in den Händen. Der Doktor aus Prag schrieb wie ein scheuer Knabe, der einen höflichen Bückling vor ihr machte: »Sehr geehrtes Fräulein! Für den leicht möglichen Fall, dass sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heiße Franz Kafka und bin der Mensch, der sie zum erstenmal am Abend bei Herrn Doktor Brod in Prag begrüßte.« Ob sie sich noch ans Versprechen der gemeinsamen Palästinareise erinnere, über die man an jenem Abend gesprochen habe.
Wie sich nicht an den seltsamen Herrn und seinen Auftritt mit dem Manuskript erinnern? Freilich hatte sie auch das Versprechen nicht vergessen, das sie ihm in die Hand gegeben hatte. Und natürlich war der Gedanke an eine solche Expedition an Bord eines Schiffes reizvoll, ja, verwegen. Doch je länger der Augustabend bei Brods zurücklag, desto unwirklicher wurde er, und desto mehr deutete Felice das bei einer Zufallsbegegnung ernsthaft Ausgesprochene als flüchtige Laune des Herrn Kafka. Was für ein Wagnis auch, eine so abenteuerliche Orient-Exkursion mit einem fremden Mann, den sie zwar nicht unsympathisch fand, jedoch schwer einschätzen konnte. Womöglich entpuppte er sich auf der Reise als Tyrann oder als Klotz am Bein. Immerhin war der fremde Herr ein enger Freund der Brods, das musste man als Vertrauensbonus gelten lassen.
Wie Herr Kafka denn an ihre Adresse in der Immanuelkirchstraße komme, wollte Felice wissen, als sie ihm eine Woche nach Erhalt des Briefes aus Prag zurückschrieb. Die Antwort kam stante pede, natürlich, von Max’ Schwester Sophie. Der nächste Brief, den Felice nur einen Tag später in den Händen hielt, war eine Art närrische Abhandlung übers Schreiben, deren Lektüre Felice leicht benommen werden ließ. Er handelte von ungeordneten Gedanken, die aufs Papier drängten, sich aber bereits im Kopf wieder verflüchtigten und erst wieder in kruden Wortbrocken auftauchten, die sich nur mit Mühe in einen vernünftigen Zusammenhang fügen wollten, schon wegen des schlechten Gedächtnisses, unter dem Kafka litt, wie er sagte. Dass Felice eine geschlagene Woche nicht auf seinen ersten Brief geantwortet hatte, stürzte ihn in größte Verunsicherung, doch nun, da sie endlich von sich hören ließ, fasste er Mut: Er forderte Felice auf, ihm wie in einem Tagebuch genau aufzuschreiben, wie sie zu frühstücken pflege oder wie ihre Freundinnen hießen, und Felice fragte sich, ob sie es mit einem pedantischen und leicht verschrobenen Beamten oder mit einem Dichter zu tun hatte, den der Wahnsinn zart geküsst hatte. Wie sollte sie auf seine Fragen reagieren, solange sie nicht einschätzen konnte, welcher Person sie die Antworten anvertraute?
Von Sophie erfuhr Felice, dass Kafka sehnlichst auf einen neuerlichen Gegenbrief warte, und Felice ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, dass eine lebhafte Korrespondenz doch längst im Gange sei. Reichlich übertrieben, in Wahrheit hatte sie einen Antwortbrief höchstens im Kopf. Ja, schon, Felice wünschte sich brennend einen Verehrer, der ihr werbende Briefe schrieb, vielleicht hatte sie deshalb Sophie gegenüber vorgegriffen. Doch die krausen Gedanken in Franz Kafkas zweitem Brief, in dem es auf über vier Seiten um die volatilen Wortbrocken ging, schreckten Felice gleichzeitig ab. War sie vielleicht zu dumm, um seinen Überlegungen folgen zu können, oder war er nur ein selbstverliebter Schwafler? Felice war verunsichert.
Nun lass ihn nicht so zappeln, so ähnlich hatte Sophie gesprochen, doch erst geschlagene drei Wochen nach Erhalt des ausführlichen Tintenergusses aus Prag setzte Felice sich an ihren Schreibtisch und leistete der Aufforderung des Briefschreibers Folge. Sie überlegte eine Weile, bevor sie ihre Anrede formulierte und die Feder aufs Papier setzte: »Werter Herr Dr. Kafka!« In wohlgewogenen Worten kam sie wieder auf ihre Arbeit als Sekretärin mit Prokura bei der Lindström AG, erwähnte abermals die netten Kolleginnen, die sie mit Büchern, Bonbons und Blumen beschenkten, die Brühl, die Lindner und die Grossmann, und erzählte, dass die Firma eine eigene Produktionsstätte in der Kreuzberger Schlesischen Straße unterhielt, ein großer Backsteinbau direkt an der Spree, wo nicht nur Grammofone hergestellt wurden, sondern auch ein neuartiges Diktiergerät, der Parlograf, der der Lindström AG gerade einen Aufschwung bescherte und bei der Erledigung von Post 50 Prozent Zeitersparnis garantierte. Stenografie war gestern; man diktierte seinen Text einfach in einen Schalltrichter hinein, der durch einen Metallschlauch mit dem Gerät verbunden war. Mittels feiner Nadeln wurde die Stimme auf eine elektrisch betriebene Wachswalze übertragen. Drückte man die Wiedergabetaste, ertönte mit geheimnisvollem Knistern der gesprochene Text, den man dann zu einem gewünschten Zeitpunkt abtippen konnte. Das Gerät steckte in einem schwarzen Metallkasten und wog stolze 18 Kilo, man brauchte also schon einen festen Standort dafür. Felice kam richtig in Fahrt, nun bereute sie es gar, diesem Herrn Kafka nicht doch schon eher geschrieben zu haben. Ich bin ihm eine Erklärung für das lange Schweigen schuldig, dachte sie und rettete sich mit den letzten Zeilen ihres Briefes in eine kleine Notlüge: Ihr erster Antwortbrief müsse auf dem Weg von Berlin nach Prag wohl verloren gegangen sein. Bevor sie das Kuvert zuklebte und zur Post brachte, legte sie als Geste künftiger Zugewandtheit eine kleine Blume zwischen die Seiten, ein Symbol für den geheimen Garten, der seit dem Spätsommer 1912 seltene Blüten trieb.
Dass schon am darauffolgenden Tag wieder Post aus Prag ankam, Felice hätte es sich denken können. Diesmal wollte sie Herrn Kafka nicht so lange auf die Folter spannen, sondern schrieb sogleich zurück, wunderte sich aber, dass er während der Bürostunden Zeit für seine wahrlich epischen Ausführungen fand. Sie selbst war bei Lindström in jeder Sekunde eingespannt, in einer Tour kam der Bote mit Telegrammen und Einschreibebriefen, deren Eingang sie bestätigen musste. Als Entscheidungsträgerin wohnte sie allen wichtigen Konferenzen bei und war auf Einkaufsmessen präsent.
»Aber man zerreißt Sie ja vor meinen Augen!«, empörte sich Kafka. »Geben Sie sich nicht mit zuviel Menschen ab, mit unnötig vielen?«
Nichts zu machen, auf der Arbeit hatte sie eben viel Publikumsverkehr. Und genau den mochte sie: das Abschätzen eines Kaufinteresses, die Demonstration des Parlografen, das selbstständige Verhandeln mit ausländischen Kunden. Inmitten der Geschäftigkeit des Büros, die ihr kaum Zeit für Pausen ließ, war sie in ihrem Element. Freilich, beeilte Felice sich in ihrem Brief an Franz Kafka hinterherzuschicken, dürfe er ihr nach Belieben schreiben, wann immer er wolle.
Die von Felice leichthin erteilte Lizenz zum Schreiben öffnete in Prag die Schleusentore für eine nicht mehr versiegende Briefflut. Kaum vermochte Felice noch all die Fragen zu beantworten, die jetzt auf sie einstürmten. »Was sehen Sie«, wollte Franz Kafka wissen, »wenn Sie aus dem Fenster Ihres Büros hinausschauen?«
Felice blickte, wenn sie denn einen Moment zum Nachsinnen fand, auf die Große Frankfurter Straße hinunter, die breite, schnurgerade Ausfallstraße, die vom Alexanderplatz nach Lichtenberg führte und weiter bis nach Frankfurt an der Oder, auf der jederzeit viel Verkehr herrschte. Morgens zur Arbeit nahm Felice die Elektrische, und war sie in Eile, sprang sie auf der Großen Frankfurter aus der langsam fahrenden Bahn, kurz bevor die an der Haltestelle stoppte. Warum springen Sie aus der Elektrischen, viel zu gefährlich, schallte ihr die erschrockene Frage entgegen. Nun, weil die Straßenbahnhaltestelle ein ganzes Stück hinter der Firma lag und Felice die Strecke nicht wieder zurücklaufen wollte. Sie musste Kafka versprechen, dies nicht wieder zu tun.
Kafka wollte mehr wissen: »Welchen Weg haben Sie zur Arbeit, verehrtes Fräulein Bauer?«
Mit der Elektrischen machte man einen Umweg über den Alexanderplatz, zu Fuß war es direkter und näher. Von der Wohnung in der Immanuelkirchstraße in die Große Frankfurter lief man nur eine Dreiviertelstunde, vorausgesetzt, man verzettelte sich nicht vor den Schaufenstern. Felice liebte es, nach Büroschluss durch den frühen Abend zu laufen, vor allem im Frühjahr, wenn die Tage länger wurden, die Linden in den Straßen zu duften begannen und der Volkspark Friedrichshain, durch den ihr Weg führte, sich mit Leben füllte. Diesen ersten warmen Tagen voller Verheißung wohnte eine vage Sehnsucht inne, die sich erst genauer bestimmen ließ, wenn Felice die Verliebten im Park sah. Wie die Immanuelkirchstraße aussah, hatte Felice noch gar nicht beantwortet, da kam Franz Kafka ihr mit einer Beschreibung zuvor. Er hatte einen Bekannten in die Immanuelkirchstraße ausgeschickt, Jizchak Löwy, einen Schauspieler aus Polen, der mit dem jiddischen Theater in Berlin gastierte. Er war also im Auftrag von Dr. Kafka konspirativ durch ihre Straße geschlichen und hatte einen ausführlichen Bericht verfasst, der Felice schmunzeln ließ, als Franz ihn wiedergab: »Von Alexander Platz ziht sich eine lange, nicht belebt Straße, Prenzloer Straße, Prenzloer Allee. Welche hat viele Seitengässchen. Eins von diese Gässchen ist das Immanuel. Kirchstrass. Still, abgelegen, weit von den immer roschenden Berlin. Das Gässchen beginnt mit eine gewenliche Kirche. Wi sa wi steht das Haus Nr. 37 ganz schmall und hoch. Das Gässchen ist auch ganz schmall. Wenn ich dort bin, ist immer ruhig, still und ich frage, ist das noch Berlin?« Leider hatte der heimliche Kundschafter sich in der Hausnummer geirrt, die Bauers wohnten nämlich nicht in der 37, sondern in der 29, ein ähnliches Gründerzeithaus zwar, aber eine Straßenkreuzung weiter. Es amüsierte Felice auch, dass Kafka sich fragte, wer um Himmels willen Immanuel Kirch gewesen sei. Erst, als er erfuhr, dass das evangelische Gotteshaus als Namenspate am Ende der Straße die Immanuelkirche war, löste sich ihm ein Rätsel.
Wie ein Maulwurf grub sich der Frager immer weiter in die Gänge von Felices Berliner Lebensraum vor: »Und wie genau sieht es in Ihrem Zimmer in der Immanuelkirchstraße aus?«
Felice schaute sich in ihrem eigenen Zimmer um wie mit fremden Augen. Sie sah ein Bücherregal, einen zierlichen Damenschreibtisch, darauf eine Kassette für Briefe, vor den Fenstern waren hölzerne Jalousien angebracht, die bei Wind klapperten. Es handelte sich um das typische Zimmer einer jungen Frau ihrer Zeit, die Spiegelkommode, auf der Cremedöschen und Flacons standen, gerahmte Fotos an der Wand mit dezent geblümten Tapeten, von eigener Hand mit bukolischen Motiven bestickte Kissen auf einer kleinen Chaiselongue.
Mit seinen Fragen drang Kafka bis dicht an ihr Bett vor: »Welche Lampe brennt auf Ihrem Nachttisch, Liebste?«
Zur altmodischen Gaslampe auf dem Nachttisch wollte Felice nichts einfallen, was der Beschreibung wert gewesen wäre. Sie fand überhaupt nichts Außergewöhnliches innerhalb ihrer vier Wände, das es wert gewesen wäre, dem wissensdurstigen Mann aus Prag mitzuteilen. Erst am Abend, Felice saß vor ihrer Spiegelkommode und löste ihr Haar, betrachtete sie ihr Ebenbild und fand sich verändert. Waren ihre Gesichtszüge nicht weicher geworden, die Augen verträumter? Sah so nicht eine Frau aus, die von einem Mann umworben wurde? Sie würde Herrn Kafka gern schreiben, dass ihr der Gedanke durchaus nicht unangenehm sei, im fernen Prag jemanden zu wissen, der in Liebe an sie dachte. Der Verehrer schien in Prag vor Felices Briefen zu sitzen wie die Besucher des Kaiserpanoramas in der Passage an der Friedrichstraße, begierig, jedes Detail dreidimensional und wie durch ein Vergrößerungsglas zu erhaschen. Alles, was Felice besaß, geriet durch Kafkas Aufmerksamkeit unversehens zu einer Kostbarkeit von ungeahntem Wert. Sie schaute sich die altmodische Gaslampe noch mal an, den Fuß aus Messing, den Schirm aus mattgelbem Milchglas, und begann zu schreiben, über das milde Licht.
Spätabends stand Felice oft in der Küche neben der Kochmaschine und wartete darauf, dass das Wasser im Topf zu sieden begann. Sie goss einen Schwall in die Porzellankanne, dem silbernen Tee-Ei entströmten bernsteinfarbene Schwaden, zwei Minuten ziehen lassen, stand auf der Packung Meßmer-Tee. Eine Zitrone lag noch in der Obstschüssel, Felice liebte das heiße Getränk mit Zitrone und Zucker. Franz hatte Nerven, er fragte, ob der schwarze Tee ihr nicht den Schlaf raube, oh nein, nicht der Tee, es war Franz höchstselbst, für den sie sich mit Tee wach hielt, kannenweise. Wann sollte sie schreiben, wenn nicht nachts? Wenn Felice mit der Genauigkeit antwortete, die Kafka von ihr erwartete, entrollte sich wie ein großes Wollknäuel der Faden, an den sich ihre Familiengeschichte knüpfte. Sie schrieb nach Prag, dass sie im trüben Monat November geboren sei, am 18.11.1887 im oberschlesischen Neustadt, und der Umzug aus dem ruhigen Städtchen nach Berlin um die Jahrhundertwende ein wahrer Kulturschock gewesen sei. Dass ihre Mutter Anna, eine geborene Danziger, die Tochter eines Färbers aus Neustadt war und acht Geschwister hatte, darunter Tante Natalie und die etwas wankelmütige Tante Clara. Der Vater Carl war zwar in Ungarn geboren, sprach jedoch mit Wiener Akzent, da die Familie früh in die Mozartstadt gezogen war. Vaters Schwester Emilie stand immer auf der Matte, wenn sie einen Skandal witterte. Gleich nach der Hochzeit der Eltern 1882 wurde Else geboren, dann in rascher Folge Ferri, Erna und Felice, fünf Jahre später kam noch Toni, als Anna Bauer mit dreiundvierzig für eine Mutter schon recht alt war. Toni war unternehmungslustig, sie riss sich darum, mit den großen Schwestern auszugehen, aber in manchen Momenten war sie vollkommen in sich versunken und schien mit der Welt zu hadern. Tagelang war sie unansprechbar, um eines schönen Morgens wieder trällernd durch die Räume der Wohnung zu laufen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, so nannte der Vater das. Womöglich hatte Toni den Wankelmut von der Tante Clara geerbt. Toni war jetzt Anfang zwanzig, vielleicht trug ja die Verbindung mit einem Mann, die gewiss nicht mehr lange auf sich warten ließ, zur größeren Ausgeglichenheit der Schwester bei. Felice blickte vom Papier auf. Interessierte das den Mann in Prag wirklich? Dass Toni ein Spielball ihrer Stimmungen war und die Tante Emilie sich gern ungefragt in die Familienangelegenheiten einmischte? Felice zerriss die Seite mit den Ausführungen über Toni und die Tante kurzerhand wieder. Ohnehin musste sie sich in Acht nehmen, Kafka gegenüber ihre Prinzipien von Diskretion nicht aufzugeben, gar nicht so leicht, weil sie an den Mann aus Prag dachte wie an eine lang vertraute Brieffreundin. Erst vor Kurzem hatte Felice ihrer Schwester Erna versprechen müssen, zu schweigen wie ein Grab. Erna hatte ihr ein Geheimnis anvertraut, das, wenn es herauskäme, die gesamte Familie Bauer in Verruf bringen würde. Am besten, sie erzählte wieder von ihrer Arbeit und den Zufallsentdeckungen auf der Straße. Felice schrieb, dass sie die Sommerferien in Binz auf Rügen sehr genossen habe, aber auch sehr gern durch die Straßen von Berlin gehe in ihrer freien Zeit. Dass sie einer Bekannten zum Einzug in die neue Wohnung Orchideen geschenkt hatte, dass sie zweimal die Woche turnte, am Sonntag handarbeitete und zur Mutter ein gutes Verhältnis hätte. Dass das nur so war, weil Felice die brave Tochter spielte, die keine Widerworte gab, wenn die Mutter mal wieder was an Felice auszusetzen hatte, schrieb sie nicht. Nicht leicht, der tägliche Spagat zwischen Zuhause und Büro. Hier galt das Gesetz der über alles wachenden Mamme, dort hatte Felice weitgehend freie Hand. Hier war sie Tochter, dort die Seele des Büros. »Manchmal«, holte Felice aus, »ärgert sich meine Mutter, wenn ich so lange im Büro bleibe.« Anna Bauer verstand einfach nicht, dass Felice berufliche Verantwortung trug und nicht pünktlich wie die Maurer gehen konnte, wenn noch kurz vor Feierabend ein Kunde etwas wollte. »Fehlt jetzt etwa noch etwas zur Vervollständigung der Kenntnis meiner Vergangenheit?«, schloss Felice ihren Brief.
Franz Kafkas Echo schallte ihr sogleich entgegen: Wie sehr sie seine Begierde unterschätze, alles zu erfahren!
Ihrerseits erfuhr Felice aus Prag, dass Franz sich als Erstgeborener gar nicht wohl in seiner Haut fühlte. »Ich bin der älteste von sechs Geschwistern, zwei Brüder, etwas jünger als ich, starben als kleine Kinder durch Schuld der Ärzte, dann war es eine Zeitlang still, ich war das einzige Kind […]. So habe ich lange allein gelebt und mich mit Ammen, alten Kindermädchen, bissigen Köchinnen, traurigen Gouvernanten herumgeschlagen, denn meine Eltern waren doch immerfort im Geschäft.« Er sei ein ängstliches Kind gewesen und beneidete seine Schwestern Elli, Valli und Ottla, die fester in der Welt zu stehen schienen als er und von den Erfahrungen profitieren konnten, die ältere Geschwister vor ihnen gemacht hatten. Vor allem Ottla liebte Franz sehr, er nannte sie seine ›Prager Freundin‹. »Nur der Vater und ich, wir hassen einander tapfer.«
Felice war berührt vom kleinen, unsicheren Franz, der da vor ihren Augen auflebte, nur eines verstand sie nicht, wieso sich Franz so unerbittlich in die Abneigung gegen den Vater hineinsteigerte, der zur Zielscheibe seines geballten Hasses wurde. Hermann Kafka hatte klein angefangen, als Hausierer, der mit einem Bauchladen voller Gemischtwaren von Tür zu Tür zog. 1882 lernte er Julie Löwy kennen, via Heiratsvermittler. Nach der Eheschließung kam die berufliche Karriere in Schwung, nicht zuletzt durch eine ordentliche Mitgift. Die Kafkas wollten mit den armen Ostjuden nichts mehr zu tun haben, und Hermann Kafka eröffnete seinen Laden jenseits des Prager Ghettos. Der Vater war von einer Lebenstüchtigkeit, die dem Sohn offenbar zutiefst suspekt war. »Mein Leben«, bekannte Franz, »besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu Schreiben und meist aus misslungenen. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden.« Mit dem Hang zum Aus-der-Reihe-tanzen kam Franz eher nach der mütterlichen Seite, nach den sehr eigenwilligen vier Brüdern der Mutter. Richard Löwy war ein einfacher Kleiderhändler in Prag, Rudolf Löwy Buchhalter in einem Brauhaus in der Umgebung und zum Katholizismus konvertiert; er galt als Narr der Familie, mit dem Hermann Kafka seinen Sohn oft verglich. Sehr gern mochte Franz den Onkel Siegfried Löwy, einen Landarzt in Mähren, der einen speziellen Humor besaß und dessen eigenbrötlerische Seiten ihm sympathischer waren. Als schillernde Figur machte vor allem der älteste Bruder der Mutter von sich reden: Alfred Löwy, ein eingefleischter Junggeselle, war nach Spanien ausgewandert und hatte es in Madrid bis zum hochdekorierten Eisenbahndirektor gebracht. Franz hatte Felice ein eindrucksvolles Foto des Mannes geschickt, das ihn in einem schwer an Orden und Abzeichen tragenden Anzug zeigte. Dass Felice den Onkel Alfred wiederholt irrtümlich in Mailand statt in Madrid lokalisierte, wurmte Franz, denn er interpretierte diese Verwechslung als einen Mangel an Aufmerksamkeit ihm und seinen Briefen gegenüber. »Du liest sie nur flüchtig«, warf er Felice häufig vor, »zwischen Tür und Angel.«