Читать книгу Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion - Urs Brunner - Страница 6

EINLEITUNG

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Der legendäre „Salon Kitty“ in Berlin wird von vielen Autoren und Filmschaffenden als „das prominenteste Etablissement käuflicher Liebe im Dritten Reich“1, als „Edel-Puff“2 oder als „Spionage-Treff“3 bezeichnet. Kein anderes Bordell soll während und nach dem Zweiten Weltkrieg für so viel Aufsehen gesorgt haben wie der „Salon Kitty“. Zahlreiche Legenden ranken sich bis heute sowohl um dieses geheimnisumwitterte Nazibordell in der Giesebrechtstraße 11 in Berlin-Charlottenburg als auch um dessen Besitzerin Kitty Schmidt.

Glaubt man etwa dem Schriftsteller Peter Norden4, der in den 1970er-Jahren seinen Tatsachenroman5 „Salon Kitty“6 veröffentlichte, so soll die weltgewandte Dame dieses hochklassigen Freudenhauses zu Kriegsbeginn von Hitlers Schergen erpresst worden sein, mit Staat und Partei in geheimer Sache zu kooperieren. Sollte sie dazu nicht gewillt sein, würde man sie in ein Konzentrationslager stecken, so lautete angeblich die Drohung. Im Auftrag von Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, sei das Edelbordell damals in ein Spionagezentrum umfunktioniert worden. Es sei die Absicht der Nazis gewesen, dort ausländische Diplomaten, aber auch Funktionäre aus den eigenen Reihen durch eigens dafür ausgebildete Prostituierte à la Mata Hari auszuhorchen, wozu im Keller extra eine Abhörzentrale eingerichtet worden sein soll. Die Intimgespräche in den Liebesgrotten seien über Wanzen von SS-Offizieren im aufwendig verkabelten Keller auf Wachsplatten aufgezeichnet worden, so Nordens Behauptungen.

Über unsere Filmfirma „Angel & Bear Productions Ltd.“ in Thailand sind wir zum ersten Mal um das Jahr 2011 bzw. 2012 herum auf dieses spannende Thema gestoßen. Mark Boot, ein in Bangkok beheimateter, befreundeter Produzent und Agent für Einkauf und Verkauf von Spielfilmen, trug sich damals mit dem Gedanken, diese Geschichte filmisch neu aufzuarbeiten. Dazu musste zuerst abgeklärt werden, welche Rechte zu erwerben waren, und Boot suchte einen Geschäftspartner für die Entwicklung und Produktion. Marks zentrales Argument war stark: Er hatte den Verkauf der Lizenzrechte von Tinto Brass‘ Spielfilmen, darunter auch für den Soft-porno „Salon Kitty“ aus dem Jahre 1976, in seinem Portfolio, und wann immer die jeweilige Frist für die Rechte für „Salon Kitty“ in vielen Ländern Europas und in Japan ablief, wurden diese fast ausnahmslos erneuert, das heißt die Lizenzen zum Vertrieb konnten auf weitere drei bis fünf Jahre erworben werden. Tinto Brass‘ „Salon Kitty“, der von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem zweifelhaften Etikett „Kultiviertester aller Schundfilme über den Nationalsozialismus“7 versehen wurde, genoss also de facto den Status eines „Klassikers“, denn nur bei Klassikern lässt sich nach so vielen Jahren mit dem Verkauf von Vertriebsrechten noch gutes Geld verdienen und einzig solche „Evergreens“ können es sich leisten, so kurze Lizenzdauern wie drei oder fünf Jahre einzuräumen.

Hinzu kam das Faktum, dass das Berlin der Zwischenkriegszeit sowie der Zweite Weltkrieg in der Film- und TV-Welt wieder vermehrt thematisiert wurden und so etwas wie eine neue „Blütezeit“ erlebten, und zwar diesmal mit einem etwas nuancierterem Bild von den Nazis als zuvor. Nationalsozialisten hielten nicht mehr nur als permanente Parade-„Bad Guys“ für Actionstreifen oder als Perverslinge in Sexploitationfilmen her, sondern wurden neuerdings auch zu Protagonisten im Oscar-aspirierenden Weltkino und im deutschen Fernsehen. Letzteres begann eifrig Qualitätsserien zur NS-Zeit und deren Inkubationsperiode, die 20er-Jahre, zu produzieren, die sich ebenfalls global gut verkaufen ließen − denken wir hier nur an TV-Serien wie „Unsere Mütter, unsere Väter“8 (2013) oder „Babylon Berlin“9 (2017). Auch viel beachtete amerikanische Produktionen wie „Valkyrie“10 (2008) oder etwa Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“11 (2009) zählen zu den prominenten Vertretern dieses Genres.

Bei der Abklärung der Rechte zu „Salon Kitty“ stellte sich für uns sofort und vordringlichst die Frage, was an dem Stoff historisch belegt und damit öffentlich und uneingeschränkt zugänglich ist und was daran auf Sekundärquellen und Literatur beruht, wofür Rechte erworben werden müssten. Also gingen wir auf die Suche nach dem geschichtlich verbrieften „Salon Kitty“ und jenen Personen, die damals gelebt haben und in die Geschehnisse involviert waren. Doch schnell machte sich Erstaunen und Ernüchterung bei uns breit: Wirklich hieb- und stichfest belegt war zum „Salon Kitty“ nämlich so gut wie gar nichts, zumindest lautete so unser Fazit erster − eingestandenermaßen noch oberflächlicher − Recherchen. Stattdessen hörten wir – manchmal bis zum Überdruss – eine Fülle von Legenden und wilden Gerüchten, meist gepaart mit einem gehörigen Maß an abenteuerlich-lustvoller Fantasie und kommerziellem Flair. Wir konnten daher zunächst einmal der nüchternen Bilanz der Tageszeitung Die Welt nur beipflichten. In einem Feuilleton zu dem umstrittenen Roman „Endstufe“ von Thor Kunkel (2004) hatte sie auf einen ganz einfachen Nenner gebracht, was wir heute über dieses sagenumwobene Etablissement de facto wissen:

Das Bordell in der Giesebrechtstraße hat es tatsächlich gegeben: die dort beschäftigten Frauen lieferten vielleicht Berichte an die Polizei – alles andere über den „Salon Kitty“ dürfte Erfindung sein, gespeist aus einer Kombination von historischem Halbwissen, schmieriger Fantasie und Analogien zu den Methoden jüngerer Geheimdienste.12

Diesem Befund steht jedoch das oben erwähnte Buch von Peter Norden entgegen. Es ist gewissermaßen die „Bibel“ zum „Salon Kitty“, um die alle späteren Autoren und Filmemacher nicht herumkamen und auf die sie immer wieder zurückgriffen. Norden reicherte seinen „Rapport“ über eine „Geheime Reichssache“ mit vielen Details an und fasste seine Abhandlung in betont sachliche Form und Sprache. Es war einfach schwer zu glauben, dass Autor Norden, bei allem Respekt gegenüber schriftstellerischer Kreativität und Freiheit, all diese „Fakten“ durchweg erfunden hatte. Unsere Neugier und unser Interesse waren auf alle Fälle geweckt; wir erwarben eine Option auf die Verfilmungsrechte zum Buch von Peter Norden und begannen ernsthaft damit, die Vergangenheit von Kitty Schmidt und die ihres Etablissements in der Giesebrechtstraße 11 minutiös zu durchforsten, indem wir Literatur, Archive, überlieferte Zeitzeugenaussagen, Presseberichte und filmische Aufzeichnungen systematisch unter die Lupe nahmen.

Unsere Spurensuche gestaltete sich spannend, wenn auch mühsam. Die Faszination, die von dem Thema ausging, war also längst nicht abgeflaut, als wir uns entscheiden mussten, ob wir die Option zur Verfilmung des Stoffes an eine deutsche Filmproduktionsfirma abtreten oder selber produzieren sollten. Die gleichzeitige Verfassung von Buch und Film hätte unsere Kapazitäten gesprengt, wir mussten uns also auf das eine oder das andere festlegen. Für den Verkauf der Filmrechte sprach, dass wir auf eine Produktionsfirma gestoßen waren, die zum einen ebenfalls großes Interesse an dem Buch von Peter Norden und der filmischen Umsetzung dieses Stoffes zeigte und zum anderen dafür wohl auch besser geeignet war als wir, weil sie über mehr und vor allem auch die entscheidenden Ressourcen verfügte. Als dann Wieland Giebel, Autor, Verleger und Inhaber des Berlin Story Verlags umgehend auf das Angebot reagierte, ein Sachbuch zum „Salon Kitty“ zu verfassen, waren die Würfel gefallen.

Dieses Buch ist das Resultat all unserer Recherchen und begibt sich auf die Fährten der damals Mitte 50-jährigen Salonbesitzerin und ihres berüchtigten Spionagebordells. Es versucht in sechs Kapiteln, so klar wie nur immer möglich, Legenden, Fakten und Fiktion voneinander zu trennen und mithilfe von Erinnerungen der sehr spärlichen Zeitzeuginnen und -zeugen sowie anhand von Fotos, Dokumenten, Memoiren und vielen Sekundärquellen Licht in die nebulöse Vergangenheit des Salons, seiner einstigen Madame sowie ihrer „Mädchen“ und „Gäste“ zu bringen.

Um die Brisanz und die Bedeutung einer angeblich von den Nationalsozialisten geschaffenen Institution wie jener des „Salon Kitty“ aus der heutigen Perspektive verstehen zu können, ist es wichtig, sich zunächst daran zu erinnern, welche Rolle Prostitution und Sex − genauer gesagt, außerehelicher Sex − im Dritten Reich gespielt haben und welchen Stellenwert Hitler und sein innerster Kreis der Macht der Sexualität zugestanden haben. Kapitel 1 befasst sich mit käuflicher Liebe vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) 1933. Wir definieren die Rolle, welche die von den Nazis ganz offiziell eingerichteten Bordelle für KZ-Häftlinge bzw. für die Wehrmacht zu erfüllen hatten, und unterscheiden sie von jener der „inoffiziellen“ Etablissements à la „Salon Kitty“. In diesem Zusammenhang beleuchten wir auch die Sexualmoral − respektive die Amoral − der Nazibonzen, für die ein so edles Freudenhaus mitten in Berlin, im Herzen der Macht, wohl zweierlei bedeutete: Natürlich war es ein luxuriöser Sündentempel für ausschweifendes Vergnügen, gleichzeitig konnte es aber angesichts von „Indiskretionen“ auch zur tödlichen Falle werden.

Kapitel 2 ist dem Nährboden und den Triebkräften gewidmet, die hinter der Idee, ein Bordell in eine Abhör- und Spitzelinstitution umzufunktionieren, stecken könnten. Die Machthaber der NSDAP schufen ein staatlich gefördertes Klima des Denunziantentums, das ihnen im Laufe der Zeit selbst über den Kopf wuchs. Denn die zahlreichen ehrgeizigen Abwehr- und Spionage-Apparate, die von Partei und Staat aus dem Boden gestampft wurden, kamen sich sehr schnell gegenseitig in die Quere; sie stritten um Macht und Kompetenzen, das gegenseitige Misstrauen wuchs zunehmend. Anhand einiger „prominenter“ Exponentinnen beleuchten wir an dieser Stelle auch, welche Rolle der Einsatz weiblicher Reize und sexueller Verführung in der Spionage tatsächlich gespielt hat.

In Kapitel 3 geht es dann um den „Salon Kitty“ selbst, um die Legenden sowie die Fakten, um seine von Widersprüchen gekennzeichnete Entstehungsgeschichte, seine „Blütezeit“ als Nazi-Freudenhaus und Zentrum der „NS-Gesellschaftsspionage“. Aus einzelnen Puzzlestücken versuchen wir ein faktenbasiertes Bild zusammenzufügen, das eine realistische Vorstellung davon liefert, wie dieser Salon betrieben wurde und wer die Akteurinnen und Akteure waren, die alles am Laufen hielten: die „Hausherren“ aus der Partei sowie die gern gesehenen Gäste und Freier ebenso wie die dort beschäftigten Liebesdienerinnen und angeblichen Spioninnen – kurzum alle, jedoch vorerst noch unter Ausnahme der Dame des Hauses.

Kätchen „Kitty“ Zammit-Schmidt, die Madame des eleganten Salons, rückt in Kapitel 4 in den Mittelpunkt des Interesses: Wir widmen uns ihrem bewegten und mysteriösen Leben von ihrer Geburt 1882 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, als sich die Machtverhältnisse in Deutschland neuerlich änderten. Für die Rekonstruktion ihres Werdegangs sind die Erinnerungen jener Menschen, die mit ihr persönlich in regem Kontakt standen, von unschätzbarem Wert. Im Verlauf unserer Recherchen haben sich auch Widersprüche aufgetan, die sich an folgenden Fragen entzündeten: Wie viel kann die Bordellbesitzerin tatsächlich von der Unterwanderung ihres Etablissements durch Hitlers Schergen gewusst haben? War sie Nazi-Opfer oder NS-Kollaborateurin, oder eventuell beides zugleich? Wie stand die „Arierin“ Kitty Schmidt zum Antisemitismus ihrer Zeit?

In Kapitel 5 werden die Geschehnisse rund um den „Salon Kitty“ in der Nachkriegszeit sowie Kitty Schmidts Leben in ihren „reifen Jahren“ bis zu ihrem Tod 1954 skizziert. Wir befassen uns mit ihrer Familie und ihren Nachkommen, mit der Übernahme des Etablissements und dessen Umwandlung in eine Künstlerpension durch ihre Tochter Kathleen und schließlich mit den Umständen, die unter Kathleens Sohn Jochem Matei zum Ende der Pension geführt haben.

Kapitel 6 konzentriert sich auf die bisherige literarische und filmische Umsetzung des Stoffes rund um den „Salon Kitty“, sei es in einer fiktiven oder dokumentarischen Darstellungsweise: Von Walter Schellenbergs13 Memoiren aus den 1950ern, über Enkel Jochem Mateis eigenen, nicht zu Ende geführten Versuch, in den 1990er-Jahren die diversen Geschichten um seine Oma nachträglich zu korrigieren, bis hin zum Auftauchen dieses Themas in der allerjüngsten Belletristik, in Film und Fernsehen. Wir skizzieren die wesentlichen Narrative der einzelnen Werke und stellen sie unseren Rechercheergebnissen gegenüber.

In unseren Ergebnissen der Recherche werden die einzelnen Puzzlestücke, die wir aus dem Studium von amtlichen Dokumenten, aus der Sichtung von Literatur, filmischem und Fotomaterial, aus persönlichen Gesprächen sowie Recherchen vor Ort zusammengetragen haben, noch einmal verdichtet und einander gegenübergestellt. Dies dient der Beantwortung der Fragen, die unsere akribische Suche in all den Jahren begleitet haben. Was kann man nach heutigem Wissen gesichert über die Existenz des „Salon Kitty“ und dessen Funktion als NS-Spionagebordell sagen? Was lässt sich zur Biografie Kitty Schmidts und zu ihrer Rolle, die sie als Salonbesitzerin für die Nationalsozialisten gespielt hat, belegen?

Zum Schluss nehmen wir im Nachwort und Ausblick noch einmal das Haus an der Giesebrechtstraße 11 in Augenschein, nämlich so, wie es sich heute präsentiert. Wir öffnen die Türen zur Liegenschaft, steigen in den 3. Stock hinauf und in die Kellerräume hinunter, begleitet von dem Aufruf an unsere Leserinnen und Leser, der für jedes Sachbuch gilt: Unser Werk ist nicht abgeschlossen, die Suche geht weiter, jede kritische Anmerkung oder jeder sachdienliche Hinweis hilft uns dabei.

Im Anhang finden sich eine chronologische Auflistung der zentralen Daten zu den geschilderten Ereignissen − von Kitty Schmidts Geburt (1882) bis zum Tode von Irena Matei (2015), dem letzten nahen Familienmitglied − sowie kurze Porträts der erwähnten NS-Größen im Umfeld des „Salon Kitty“. In einem Stadtplan von Berlin während des Zweiten Weltkrieges sind etliche historische Orte eingezeichnet, die für die Geschichte des „Salon Kitty“ relevant sind. Ebenfalls angeheftet sind die Abbildungen der wichtigsten Urkunden und Dokumente, welche wir bei unseren Nachforschungen über die Jahre zusammengetragen haben.

Im Zuge unserer Recherchen und beim Schreiben des Buches wurde uns wiederholt eines sehr bewusst und quält uns bis heute: Dieses Buch hätte schon vor zwanzig, idealerweise sogar vor dreißig Jahren geschrieben werden sollen, nicht erst jetzt. Damals hätten wir noch aus einem reichen Reservoir an Erinnerungen aus erster Hand schöpfen können. Mittlerweile sind sämtliche direkten Angehörigen von Kätchen „Kitty“ Zammit-Schmidt verstorben; dasselbe gilt für fast alle Zeitzeuginnen und -zeugen, seien dies Freunde, Bekannte, ehemalige Kunden oder Kurtisanen. Einer der letzten lebenden Weggefährten von Kitty Schmidt und ihrem Salon, der französische Filmemacher Claude Lanzmann, starb am 5. Juli 2018 im Alter von 92 Jahren, während wir bereits mit ihm im Kontakt für ein Interview standen.14 Einige wenige, nicht minder bedeutende andere Zeitzeuginnen und -zeugen konnten zwar nicht von uns selbst, aber glücklicherweise noch von den Dokumentarfilmern Rosa von Praunheim15 (zu Beginn der 1990er-Jahre) und Claus Räfle16 (Anfang der 2000er-Jahre) interviewt und gefilmt werden, sodass wir aus diesen Quellen schöpfen konnten. Als einzige zusätzliche, heute noch immer in Berlin wohnhafte Person, die Kitty Schmidt als „Tante Käthe“ während und nach dem Krieg noch persönlich gekannt hatte, konnten wir Karin Zickerick ausfindig machen. Sie verbrachte als Kind viel Zeit in der Giesebrechtstraße 11, wo ihre Großeltern bis 1958 wohnten. Karin Zickerick hat uns dankenswerterweise im September 2017 in einem ausführlichen Gespräch in ihrer Wohnung an ihren Erinnerungen teilhaben lassen und uns auch ein paar wenige Fotos, die in ihrem Besitz waren, geschenkt. Weitere noch lebende Weggefährtinnen oder -gefährten von Kitty Schmidt sind uns nicht bekannt.

Ein späterer Freund der Familie, Berno von Cramm17, konnte uns viel Interessantes über Kathleen und Jochem Matei und die Weiterführung des ehemaligen „Salon Kitty“ als Künstlerpension18 erzählen; er selbst hatte sich dort häufig eingemietet, als er zwischen 1965 und 1984 beruflich in Berlin zu tun hatte. Weiter konnten wir die ehemalige prominente Berliner Prostituierte Felicitas Schirow19 ausfindig machen, die in den 1970er-Jahren manchmal als Callgirl für „besondere Kunden“ ins sogenannte „Pärchenzimmer“ der Künstlerpension gerufen wurde; somit kommt auch eine Dame des Gewerbes zu Wort. Und auch das Ehepaar Christian, das heute in der Wohnung im dritten Stock der Giesebrechtstraße 11 wohnt, also in den Gemächern des ursprünglichen „Salon Kitty“, hat uns freundlich empfangen und wir konnten das Gespräch auf Video aufzeichnen.

Das Fehlen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Kitty Schmidt noch persönlich kannten und eventuell auch etwas zum Betrieb des „Salon Kitty“ hätten sagen können, hatte aber für uns auch eine unvermutet positive Konsequenz: Es zwang uns, tiefer und tiefer zu graben, jeder auch noch so kleinen, zunächst vagen Spur nachzugehen, und dabei kam viel an Material zutage, das noch nie zuvor herangezogen worden war. So fanden wir in Slowenien bei der Schwester von Kittys Schwiegerenkelin eine Schachtel mit mehr als 500 Fotos, inklusive einem Bild von Kitty Schmidt als Baby und weitere Aufnahmen aus ihrer Kindheit. Die Existenz dieser Bilder war bislang nicht bekannt und einige dieser für uns so kostbaren Fotos werden hier das erste Mal publiziert. Dieser Fundus beinhaltet auch eine Postkarte von Kitty Schmidt und damit das einzige handschriftliche Dokument von ihr, das uns je zu Gesicht gekommen ist. Mithilfe dieser wenigen handgeschriebenen Zeilen konnten wir ein grafologisches Gutachten erstellen lassen, das wir in voller Länge in diesem Buch veröffentlichen. Glücklicherweise war es uns möglich, diese Postkarte sowie die ganze Fülle an vorgefundenen Fotos zu erwerben, sodass wir diese archivieren und ihren Fortbestand sichern konnten. Eine weitere überraschende und sehr interessante Entdeckung glückte uns im Umfeld eines Freundes von Kitty Schmidts Enkel: Es handelt sich um ein noch nie ausgestrahltes Videointerview, worin Jochem Matei seinen Freunden aus dem Manuskript zu einem von ihm geplanten Buchprojekt zum „Salon Kitty“ vorliest und außerdem Interessantes und auch Abenteuerliches zu seiner Großmutter erzählt.20 In akribischer Kleinarbeit ist es uns auch noch gelungen, in diversen Archiven praktisch sämtliche relevanten Geburts- und Sterbeurkunden zu Kitty Schmidt und ihrer Familie aufzustöbern.

Es gibt eine ganze Menge Sekundärquellen zum „Salon Kitty“, die wir gesichtet und im Literaturverzeichnis angeführt haben. Auf eine davon möchten wir jedoch hier besonders hinweisen: Es handelt sich um einen Spiegel-Artikel vom 15. Dezember 194921, auf den sich – soweit uns bekannt ist − bisher niemand bezogen hat. Dieser Artikel informiert – wenn auch in verdeckter Weise − erstmals eine breite Öffentlichkeit über die Existenz und Funktion des „Salon Kitty“, und das schon zehn Jahre vor der Enthüllung des NS-Bordells durch Ex-Spionagechef Walter Schellenberg in seinen 1959 in deutscher Sprache erschienenen Memoiren.22 Darum ist dieser frühe Bericht des Spiegel als Quelle für uns so bemerkenswert. Andere Sekundärquellen, die ab den 1970er-Jahren publiziert wurden, sind wenig ergiebig, da ihre An- und Zusätze zum Thema leider überwiegend auf Peter Nordens Version der Geschichte beruhen und vermutlich nicht faktenorientiert nachrecherchiert wurden. Denn viele Autoren und Drehbuchschreiber übersahen − und übersehen immer noch −, was Norden im Bucheinband seines Werkes eigentlich recht ehrlich preisgab: Fiktion und Historie werden bei ihm frisch-fröhlich vermischt. Auch aus den Memoiren von so manchen Prominenten, denen nachgesagt wird, dass sie sich während des Krieges im „Salon Kitty“ sprichwörtlich die Türklinke in die Hand gaben, ist nichts zu erfahren. Freilich sind Freudenhausbesuche auch nicht unbedingt der Stoff, mit dem „Mann“ sich im Nachhinein noch gerne brüstet. Beispielsweise legte Graf Ciano, Benito Mussolinis Schwiegersohn und von 1936 bis 1943 Außenminister Italiens, Memoiren von mehreren hundert Seiten vor, doch er schrieb darin nicht ein einziges Wort über seine Besuche in der Giesebrechtstraße 11, wo er etlichen Quellen nach ein oft und gern gesehener Gast war.23

Dieses Buch ist aus der Intention heraus entstanden, Fakten von Legenden und Fiktion rund um den „Salon Kitty“ zu unterscheiden. Aber trotz jahrelanger intensiver Recherchen war und bleibt dies kein einfaches Unterfangen. An vielen Stellen scheiterten wir und waren daher oft gezwungen, Zeitsprünge, Widersprüche und Lücken mit spekulativen Gedankengängen einigermaßen zu füllen; diese werden jeweils auch als solche im Text kenntlich gemacht. Doch trotz aller Hürden und Hemmnisse, die der zeitlichen Distanz und der oft spärlichen Faktenlage geschuldet sind, ist am Ende, so glauben wir, ein faszinierendes Porträt von Kitty Schmidt und ihrem berüchtigten Nazi-Spionagebordell entstanden − eine durchaus erzählenswerte, ja geradezu spannende Geschichte.

1Bleuel 1981: 290

2Rumler, Fritz: Die Herren waren sehr solide – Spiegel-Reporter Fritz Rumler über das „Salon Kitty“-Callgirl Liesel. In: Der Spiegel vom 29. März 1976, S. 200

3Praunheim 1994

4Peter Norden (Pseudonym für Joseph Gustav Walter Fritz) war deutscher Schriftsteller und Public-Relations-Unternehmer. Er wurde am 2. Juli 1922 in Hannover geboren und ist am 19. April 1995 in München verstorben. (vgl. E-Mail der VG Wort München vom 27. November 2013)

5Auch wenn Peter Norden seine Publikation „Salon Kitty“ als „Report“ betitelt, so handle es sich laut Bucheinband der Ausgabe von 1986 (Engel Verlag, München) um „(…) keine Reportage, aber auch keinen Roman (…), sondern beides“.

6Das Buch „Salon Kitty“ wurde erstmals 1970 im Südwest Verlag (München) sowie der Deutschen Buch-Gemeinschaft (Berlin/Darmstadt/Wien) publiziert. Danach folgten im deutschsprachigen Raum weitere Neuauflagen wie etwa der Verlage Limes (1976, Wiesbaden/München), Naumann & Göbel (1976, Berlin), Xenos (1979, Hamburg), Bastei-Lübbe (1976 u. 1978, Bergisch Gladbach) und Engel (1986, München).

7Rebhandl, Bert: Von Barbaren und Barbieren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Februar 2008, S. 38

8Unsere Mütter, unsere Väter“ ist ein dreiteiliger (3 x 90 Minuten) deutscher Fernsehfilm, der im März 2013 in Deutschland im ZDF und in Österreich im ORF eins ausgestrahlt wurde. Produziert wurde die Serie von Benjamin Benedict, Nico Hofmann und Jürgen Schuster. Regie führte Philipp Kadelbach. In den USA kam sie unter dem Titel Generation War im Januar 2014 in die Kinos.

9Babylon Berlin“ ist eine deutsche Kriminal-Fernsehserie. Die ersten 16 Folgen von jeweils 45 Minuten in zwei Staffeln wurden nach der Erstausstrahlung 2017 beim Bezahlsender Sky 1, im deutschen Sender ARD, in Österreich auf ORF eins und in der Schweiz auf SRF zwei gezeigt. Die Erstausstrahlung der dritten Staffel auf Sky erfolgte am 24. Januar 2020. Produziert wurde die Serie von Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten.

10Valkyrie“ ist ein Kinofilm (120 Minuten) mit Tom Cruise als Oberst Graf von Stauffenberg. Der Filmstart in den amerikanischen Kinos erfolgte im Dezember 2008. Die europäische Kinopremiere unter dem Titel „Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat“ fand im Januar 2009 in Berlin statt. Produziert wurde der Film von Bryan Singer, Christopher McQuarrie und Gilbert Adler. Regie führte Bryan Singer.

11Inglourious Basterds“ ist ein deutsch-amerikanischer Kinofilm (154 Minuten) des Regisseurs und Produzenten Quentin Tarantino mit Brad Pitt in der Hauptrolle des Leutnant Aldo Raine und Christoph Waltz als SS-Oberst Hans Landa.

12Die Welt vom 26. März 2004: Der Autor Thor Kunkel wühlt mit seinem umstrittenen Roman „Endstufe“ in einem äußerst attraktiven Sündenpfuhl. Der schmutzige Sex der Nazis, S. 28

13Walter Schellenberg (1910-1952) war ein deutscher SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei. Er war ab 1944 Leiter der vereinigten Geheimdienste von Sicherheitsdienst (SD) und Abwehr im Reichssicherheitshauptamt (RSHA); siehe Personenbeschreibung im Anhang

14vgl. Antwort-Mail von Serge Toubiana vom 23. Juni 2018

15vgl. Dokumentarfilm „Meine Oma hatte einen Nazipuff“ von Rosa von Praunheim, 1994

16vgl. Dokumentarfilm „Salon Kitty“ von Claus Räfle, 2004

17Berno von Cramm ist Schauspieler und Synchronsprecher. Er stand uns dankenswerterweise am 25. November 2018 in München für ein Interview zur Verfügung.

18Es ist uns gelungen, in Berlin einen Grundrissplan vom Erdgeschoss des Hauses in der Giesebrechtstraße 11 zu erhalten, der aus dem Jahre 1954 stammt. Er zeigt die Räumlichkeiten, in denen nach dem Bombeneinschlag 1943 der „Salon Kitty“ bzw. nach dem Tod ihrer Mutter die von Kathleen Matei geführte „Pension Florian“ untergebracht war.

19Felicitas Schirow stand uns am 22. Juli 2019 für ein Telefoninterview zur Verfügung.

20Manuel Stahl im Gespräch mit Jochem und Irena Matei in privaten Videoaufnahmen vom 9. Dezember 1995

21Der Spiegel vom 15. Dezember 1949: Das Spiel ist aus – Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei, S. 24f

22SD-Auslandschef Walter Schellenberg schreibt in seinen 1959 veröffentlichten Memoiren, dass die Idee, ein Bordell für Spionagezwecke zu eröffnen, von seinem damaligen Vorgesetzten, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, gekommen sei. Es ist das erste schriftliche Dokument, das den „Salon Kitty“ erwähnt und damit das Haus in der Giesebrechtstraße 11 in Berlin einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte.

23Von mehreren Autoren ist bekannt, dass Graf Ciano ein guter Kunde im „Salon Kitty“ gewesen sein soll. Auch die ehemalige Prostituierte Liesel Ackermann bestätigt dies in einem Interview aus dem Jahr 1976. In Cianos 1946 veröffentlichten Tagebüchern konnten wir allerdings keinen einzigen Eintrag zum „Salon Kitty“ finden.

Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion

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