Читать книгу Das Menschenbild für die Heilpädagogik - Urs Haeberlin - Страница 10
Оглавление2. Heilpädagogik und Menschenbild
2.1 Die Fragestellungen einer heilpädagogischen Anthropologie
Heilpädagogik ist in erster Linie Pädagogik. Somit werden wir uns mit den gleichen Fragestellungen beschäftigen wie die pädagogische Anthropologie. Diese hat in ihren Fragestellungen die Besonderheit des Erziehungsprozesses zu berücksichtigen. Erziehung umfasst die Hilfestellungen, durch welche sich ein Mensch von einem aktuellen unfertigen Zustand zu einem von Erziehungsverantwortlichen als aufgegeben empfundenen Zustand fortentwickeln soll. Kurz: Erziehung ist Hilfe bei der Entwicklung von einem Ist-Zustand zu einem Soll-Zustand. Oder noch kürzer: Erziehung ist Hilfe zur Vermenschlichung. Bei dieser erzieherischen Hilfestellung wird seitens der Erzieher angenommen, dass der als aufgegeben empfundene Soll-Zustand mehr Lebenssinn hat als der aktuell gegebene Zustand. Damit ergeben sich die folgenden drei Grundfragen einer pädagogischen Anthropologie:
1. Was ist der Mensch besonderes, wenn man ihn mit den übrigen Lebewesen vergleicht? – Es kann um die Frage gehen, ob im Menschen alles Besondere so angelegt ist, dass er sich am besten ohne Eingriff von aussen entwickelt. Diese Frage beantwortete Rousseau mit der Annahme, dass das Kind von Natur aus schon mit allem Besonderen ausgestattet sei. Es kann um die Frage gehen, ob der Mensch von Natur aus ein Lebewesen mit Mängeln sei, das im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nur durch Erziehung überleben und zum Menschen werden kann.
2. Was soll der Mensch Besonderes werden? Welches ist das Ziel, zu dem sichjeder einzelne Mensch entwickeln soll? Beispielsweise geht es um die Frage, ob das Ziel der Erziehung eines Kindes der autonome Vernunftmensch zu sein habe, oder ob das Ziel der Erziehung ein Mensch sein soll, der sich fraglos einem Kollektiv unterordnet?
3. Welchen Sinn hat es, das menschliche Leben als etwas sich zwischen Sein und Sollen Entwickelndes zu verstehen? Welchen Sinn hat es, einen Menschen auf einen Soll-Zustand hin zu erziehen und ihn nicht im Ist-Zustand zu belassen? Beispielsweise geht es um die Frage, ob der Sinn der Erziehung darin liegt, dass sich mit ihrer Hilfe kulturelle Werte von Generation zu Generation erhalten können? Oder liegt der Sinn eher im Erreichen einer möglichst ungehemmten Bedürfnisbefriedigung?
Wenn wir diese Grundfragen nicht klären, dann werden wir als Heilpädagogen häufig Therapien anwenden, von welchen wir gar nicht wissen, im Dienste welcher übergeordneten Ziele sie stehen. Wir stellen uns damit in den Dienst irgendeiner Weltanschauung, ohne dies zu merken.
Der Heilpädagoge wird mit einer vierten Frage besonders intensiv konfrontiert:
4. Welche Bedeutung hat Behindertsein für uns Menschen? Wenn ein Mensch behindert ist, dann kann dies für ihn unter Umständen bedeuten, dass seine Vermenschlichung gehemmt oder erschwert ist. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob Behindertsein für Nicht-Behinderte die Bedeutung haben soll, sich über die eigene «Normalität» zu freuen? Oder soll Behindertsein bedeuten, dass sich alle Menschen ihrer Unvollkommenheit bewusst werden?
2.2 Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern
Ich habe bereits im vorherigen Kapitel darauf hingewiesen, dass die Klärung von anthropologischen Grundfragen für die heilpädagogische Praxis unbedingt erforderlich ist. Ich möchte im Folgenden nochmals etwas ausführlicher auf die wichtigste Begründung dieses Postulats eingehen: Wir wären in der heilpädagogischen Praxis handlungsunfähig, wenn unser Tun nicht spontan durch den Filter eines bestimmten Menschenbildes vorsortiert würde. Aufgrund dieser Notwendigkeit stehen wir als reine Praktiker andauernd in der Gefahr, dass wir uns wegen Arbeitsüberlastung und Zeitmangels keine Rechenschaft über das Menschenbild ablegen, welches unser Tun leitet. So können wir jederzeit Opfer von Vorurteilen, von Ideologien, von Modeströmungen werden. Diese Gefahr droht uns, wenn wir aufhören, über die Grundlagen unseres Handelns nachzudenken, weil uns der Kleinkram der Praxis völlig in Beschlag nimmt. Was unser Tun lenkt, ohne dass wir uns dessen bewusst zu sein brauchen, nennen wir Alltagstheorien. Wenn sich der Praktiker darüber bewusst wird und beginnt, über die versteckten Alltagstheorien nachzudenken, wird er Wissenschaftler und Philosoph. Um dies zu werden, braucht man weder eine Universität zu besuchen noch wissenschaftliche Bücher gelesen zu haben. Ich möchte zwei Beispiele von Alltagstheorien skizzieren, welche die Praxis unterschiedlich beeinflussen können.:
Erstes Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt im Alltag eine Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch eine «abnormale» oder «geschädigte» physische oder psychische Konstitution des betreffenden Menschen erklärt. Der entwicklungsgehemmte Mensch wird bei dieser Sichtweise als «abnormal», «geschädigt», «krank», «defekt» gesehen. Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst die schwerwiegende Entscheidung getroffen werden, dass menschliches Leben nur als gesundes Leben sinnvoll ist. Gesundheit im körperlichen Bereich zu definieren mag relativ einfach sein; aber Gesundheit im psychischen Bereich zu definieren, ist ein Vorgang, der mit vielen wertenden Vorstellungen über den «normalen» Menschen verbunden ist. Bei einer solchen nicht-bewussten Bewertung des menschlichen Lebens kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird als Mensch mit einem «Defekt» gegenüber dem «Gesunden» gesehen. Es wird vom Heilpädagogen erwartet, dass er den Defekt behebt, damit der betreffende Mensch nicht mehr dadurch auffällt oder wenigstens die «gesunden» Menschen nicht belästigt.
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch kommt zu einer Auffassung über sich selbst, die besagt: Ich bin ein defekter Mensch und muss mir also Mühe geben zu werden wie die «Normalen» bzw. die «Gesunden».
– Die Resignation beim Heilpädagogen und beim Entwicklungsgehemmten muss sich automatisch einstellen; denn ein Grossteil von Entwicklungshemmungen lässt sich nicht so heilen, dass der «Defekt» verschwindet. Ein Geistigbehinderter bleibt geistigbehindert; aus einem lernbehinderten Kind wird kein erfolgreicher Normalschüler; ein autistisches Kind wird nicht in jedem Fall zu einem «normalen» Kind.
Diese Alltagstheorie kann sich unter bestimmten äusseren Bedingungen so durchsetzen, dass radikale Massnahmen gegenüber Behinderten ergriffen werden. Sie konnte im Rahmen einer totalitären Ideologie zu extremen Auswüchsen wie dem von Adolf Hitler unterzeichneten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und zur Vernichtung von «unwertem Leben» in unvorstellbarem Ausmass führen.
Zweites Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt eine im heutigen Alltag ebenfalls verbreitete Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch das Verhalten der näheren sozialen Umwelt erklärt. Die Eltern, die Lehrer, die Sozialarbeiter, usw. sind es bei dieser Sichtweise, die einen Menschen zum entwicklungsgehemmten Menschen «machen». Bei einer unüberlegt einseitigen Sicht durch die Brille dieser Alltagstheorie kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird nur als ein Opfer der sozialen Umwelt gesehen. Man ist der Meinung: Wenn diese soziale Umwelt nicht andauernd abweichendes Verhalten herausgefordert und erwartet hätte, wäre er nicht entwicklungsgehemmt geworden.
– Die Resignation wird sich ebenfalls einstellen. Denn es wird dabei übersehen, dass viele Entwicklungshemmungen ohne die Annahme von konstitutionellen Ursachen nicht angemessen verstanden werden können. Beispielsweise ist ein Geistigbehinderter in der Regel medizinisch nachweisbar geschädigt; und diese Schädigung wirkt sich auf die Entwicklungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen aus.
Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst eine von zwei gegensätzlichen Entscheidungen über menschliches Leben getroffen werden:
– Entweder trifft man die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben das sinnvolle Leben ist.
– Oder man trifft die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben als Erzeuger von entwicklungsgehemmten Menschen auf seinen Sinn hin zu überprüfen und zu behandeln ist. Diese Entscheidung kann unter Umständen zu weiteren Entscheidungen bis hin zum gewaltsamen revolutionären Umsturz unserer gesellschaftlichen Verhältnisse führen.
Man könnte weitere Beispiele suchen, welche zeigen, dass es im Alltag sehr folgenreiche Auffassungen über das Wesen des Menschen im Allgemeinen und über das Wesen des entwicklungsgehemmten Menschen im speziellen gibt. Wenn man einerseits nicht ohne bewusste oder nicht-bewusste Anwendung von anthropologischen Alltagstheorien erziehen kann, und wenn man andererseits mit jeder Alltagstheorie wertende Auffassungen über das Wesen des Menschen vertritt, dann muss das Fundament der Heilpädagogik durch die Suche nach einem Menschenbild gelegt werden.
Wenn man eine Alltagsmeinung über das Wesen des Menschen und über die Bedeutung von Behinderungen unbesehen und unüberlegt vertritt, läuft man Gefahr, ein Menschenbild anzuwenden, welches man möglicherweise gar nicht vertreten möchte. Erst wenn wir bewusst eine Entscheidung treffen, welches Menschenbild gelten soll, können wir bewusst pädagogische Verantwortung übernehmen und auch einzelne heilpädagogische Behandlungsmethoden mit gutem Gewissen anwenden. Ich halte es für unangemessen und verantwortungslos, Behandlungsmethoden zu vertreten und anzuwenden, ohne das Menschenbild zu kennen, welchem die Behandlungsmethode dient. Die Verpflichtung des Heilpädagogen auf ein Menschenbild soll sich nicht durch die unreflektierte Übernahme einer Behandlungsmethode ergeben. Der Vorgang soll umgekehrt sein: Das Menschenbild soll durch bewusstes Nachdenken erarbeitet werden. Die gewählten heilpädagogischen Einzeltheorien und Behandlungsmethoden sollen damit übereinstimmen.
2.3 Identität als Ziel der menschlichen Entwicklung
Wenn wir als Heilpädagogen die Suche nach den anthropologischen Grundlagen unseres Tuns ernst nehmen, dann lässt uns die Frage während unseres ganzen Lebens nicht mehr los, welches das Ziel der Entwicklung jedes menschlichen Individuums sei. Man kann die Frage so stellen: In welcher Richtung soll sich jeder Mensch entwickeln, damit man sagen kann, er habe sich vermenschlicht und ein erfülltes Menschsein realisiert? Unter heilpädagogischer Perspektive spitzt sich das Problem zudem auf die Frage zu, wie sich die allgemeine Vorstellung von Vermenschlichung auf die Haltung gegenüber dem Schwerbehinderten auswirkt. Die Frage nach den anthropologischen Fundamenten enthält als Kernfrage immer die Ziel- und Sinnfrage bezogen auch auf Extremvarianten menschlichen Seins. Notwendigerweise sind anthropologische Fragestellungen für den Pädagogen normative Fragen. Denn wir wollen nicht nur beschreiben, was heute alles durch Erziehung erreicht wird; sondern wir wollen festlegen, welches verbindliche Ziele der Erziehung sind. Als Abkürzung für den Prozess der Entwicklung auf die festzulegenden Ziele hin habe ich das Wort «Vermenschlichung» eingeführt.
Solange die Ziele nicht festgelegt sind, ist der Begriff «Vermenschlichung» formal und unbrauchbar. Wenn aber die Ziele festgelegt sind, handelt es sich um einen wertenden Begriff. Dadurch unterscheidet er sich vom Begriff «Entwicklung», beziehungsweise er ist eine Abkürzung der Wendung «Entwicklung zu den und den Zielen».
Da es in diesem Buch um die Beantwortung von normativen Fragen geht, komme ich nicht darum herum, Wertentscheidungen zu treffen. Für eine heilpädagogische Anthropologie halte ich die Entscheidung für den Wert des gleichen Anspruchs aller Menschen auf Vermenschlichung für absolut notwendig. Diese Wertentscheidung bedeutet: Jeder Mensch soll das gleiche Recht auf Hilfe zur gleichen Vermenschlichung haben. Die Wertentscheidung bedeutet, dass jedes Menschenbild unbrauchbar und verwerflich ist, welches zweigeteilt ist: Einerseits ein Menschenbild für die Nicht-Behinderten, die «Normalen», und andererseits ein Menschenbild für die Behinderten, die «Anormalen». Allgemeiner formuliert bedeutet unsere Wertentscheidung: Es darf keine gruppen- oder klassenspezifische Vermenschlichung geben. Ziele der Vermenschlichung, welche einer Elite reserviert bleiben, sind als fragwürdige Ziele aus unserem Menschenbild auszuscheiden.
Es geht im Folgenden in erster Linie um meine persönliche Suche nach einer Bestimmung des menschlichen Seins und Sollens, die im gleichen Masse für mich selbst und für andere Gültigkeit haben kann. Gleichzeitig hege ich die Hoffnung, dass die Niederschrift dieser zunächst persönlichen Angelegenheit auch als Anregung für andere Heilpädagogen dienen wird. Wir können mit unseren Nöten nicht einfach Philosophen und Theologen als Spezialisten befragen, sondern die Befragung geht zuallererst an uns selbst.
Ich gehe ganz unwissenschaftlich von der Frage an mich selbst aus: Wann habe ich selbst das Gefühl, auf dem Wege der Vermenschlichung zu sein und erfülltes Menschsein zu erleben? Und wann habe ich den Eindruck, dass andere Menschen ein ähnliches Gefühl haben? Einen ersten Antwortversuch habe ich bereits im vorherigen Kapitel angedeutet: Ich habe den Eindruck, jeweils dann einem erfüllten Menschsein näher zu kommen, wenn ich der Überzeugung sein kann, dass ich mir selbst treu bleibe. Oder anders ausgedrückt: Ich glaube, dass man dem Ziel der Vermenschlichung dann näher kommt, wenn es einem gelingt, das eigene Leben als etwas in sich Zusammenhängendes zu empfinden, gedanklich zu erfassen und zu gestalten. Dieses Erlebnis der Einheitlichkeit der eigenen Person nenne ich das Erlebnis eigener Identität. Als Ziel der Vermenschlichung können wir somit das überdauernde Erleben von Identität bezeichnen.
Damit habe ich allerdings nur neue Wörter eingeführt. Und wir werden uns mit Fragen von der folgenden Art zu beschäftigen haben: Was ist die Identität des Menschen? Wie kann ein Mensch seine Identität finden? Bevor ich auf einzelne Identitätstheorien eingehen werde, möchte ich in einem ersten Vorgriff zeigen, auf welche grundlegende Problematik wir bei unserer Auseinandersetzung mit der Frage nach menschlicher Identität stossen werden.
2.4 Sozialbestimmte gegen personbestimmte Identität
Das Gefühl, sich selbst treu zu sein, kann man sich als das Ergebnis von zwei gegensätzlichen Prozessen vorstellen: Einerseits kann man sich die Identität des Menschen vorstellen als das Ergebnis eines harmonischen Hineinwachsens in die Gewohnheiten und Rituale einer Gesellschaft. Der sich so entwickelnde Mensch fühlt sich als Einheit, weil er die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Rituale verinnerlicht und sein Denken, Fühlen und Handeln dadurch leiten lässt. Andererseits kann man sich die Identität des Menschen auch vorstellen als das Ergebnis einer Entwicklung zur selbständigen Bestimmung des eigenen Denkens, Fühlens und Tuns. Dabei nimmt man ein Selbst an, welches unabhängig von gesellschaftlichen Gewohnheiten ist. So gesehen würde Identität dadurch entstehen, dass ein Mensch im Denken, Fühlen und Handeln einer selbstbestimmenden Linie folgt und keinen gesellschaftlichen Zwängen unterliegt. Es ist das wichtigste Ziel dieses Buches, das Verhältnis zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansichten zu klären. Vorausblickend sei verraten, dass ich mich bemühen werde, das «Entweder-Oder» in ein «Sowohl-Als-Auch» überzuführen.
Die gegensätzlichen Vorstellungen von Identität sind im Verlaufe der Geschichte immer wieder zu konkurrenzierenden Erziehungszielen erhoben worden. Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These vom Hineinwachsen in und Anpassen an die gesellschaftlichen Erfordernisse und Gewohnheiten führen kann, zeigt beispielsweise die Erziehungsgeschichte des klassischen Altertums: Sparta verstand sich als ein Staatswesen, an welches die Jugend mit allen Mitteln angepasst werden musste. Dem Ziel der Anpassung an die Anforderungen des Staates entsprach die organisierte Erziehung der Kinder und Jugendlichen: Die männliche Jugend musste mit 7 Jahren in erzieherische Formationen nach militärischem Muster eintreten. Sie wurden bis zum 20. Lebensjahr von Jugendführern mit harter Zucht gedrillt. Die Jugendlichen wurden mit unmenschlich anmutenden Mitteln abgehärtet, z.B. durch Geisselungen, Nahrungsentzug, harte Bestrafung bei kleinsten Delikten. Solche Abhärtungserlebnisse sollten die Solidarität in den Jugendgemeinschaften fördern (vgl. Reble, 1964, 18).
Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These von der Selbstbestimmung des Menschen führen kann, finden wir vorwiegend in Erziehungsutopien, welche zwar die pädagogische Diskussion befruchtet haben, aber in ihrer Einseitigkeit Literatur geblieben sind. In erster Linie ist hierzu als Beispiel Rousseau zu nennen, der seinen Emile als einen «homme abstrait», also einen abstrakten, theoretisch konstruierten Menschen bezeichnet hatte; dadurch ist der utopische Charakter des Erziehungsbuches dokumentiert. In Rousseaus Erziehungsutopie wird das Kind den gesellschaftlichen Einflüssen entzogen, und es soll sich ausserhalb dieser Einflüsse nach seinen inneren Gesetzen zum selbständigen Menschen entwickeln. Erziehung hat hier in erster Linie Schutzfunktion: Sie soll das Kind vor den gesellschaftlichen Einflüssen schützen, welche den inneren Entwicklungsgesetzen zuwiderlaufen.
Die Vorstellung von Identität als Ergebnis des Hineinwachsens in die Gesellschaft nenne ich «sozialbestimmte Identität». Die Vorstellung von Identität als Ergebnis einer Entwicklung des individuellen Selbst nenne ich «personbestimmte Identität». Stehen wir damit vor einer Entscheidung für das eine oder das andere? Beide Möglichkeiten der Entscheidung könnten sich als unbefriedigend herausstellen: Die Entscheidung für die sozialbestimmte Identität könnte im Widerspruch zu unserer Grundentscheidung für die allgemeine Menschenwürde und die Allgemeinheit des Menschenbildes stehen; Gesellschaften sind in der Regel durch Ungleichheiten gekennzeichnet, so dass Anpassung in der Regel Anpassung an die Ungleichheiten heisst. Die Entscheidung für die personbestimmte Identität könnte uns zu realitätsblinden Utopisten machen; denn wir würden übersehen, dass Gesellschaften eigengesetzliche Organismen sind, deren Zellen aber die einzelnen Menschen bilden. Eine einzelne aus dem Organismus herausgetrennte Zelle ist kein selbständiges Lebewesen. Es ist meine Absicht, den Leser in meine Bemühungen um eine Verbindung zwischen sozialbestimmter und personbestimmter Identität einzuführen. Darauf zielen alle weiteren Überlegungen ab; Umwege im Argumentieren werden dabei unvermeidlich sein.