Читать книгу Das Menschenbild für die Heilpädagogik - Urs Haeberlin - Страница 9

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1. Problemstellung

Dieses Buch befasst sich mit dem Menschenbild, welches den erzieherischen Umgang des Heilpädagogen mit dem behinderten Kind beeinflussen soll. Ziel ist die gedankliche Hinführung des Lesers zur Entscheidung für die Werte der Würde und der Gleichheit aller Menschen. Das Postulat von heilpädagogischen Grundwerten finden wir schon bei Heinrich Hanselmann. Wenn wir von seiner zeitbezogenen und oft eigenwilligen Begrifflichkeit absehen, dann kann ich behaupten, dass ich mit Hanselmann der Meinung bin, dass Heilpädagogik nicht einfach eine «Aufpäppelung des Schundes» und des «Abfalls der Menschheit» sei, sondern eine «Aufbauarbeit in der Richtung auf die individuelle und kollektive Menschenwürde» (1958, 550). Betrachteten wir den Behinderten als «Abfall der Menschheit», würden wir uns an einem Menschenbild orientieren, das zwischen eigentlichen Menschen und Untermenschen trennt; diese Auffassung würde unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber dem behinderten Kind entscheidend beeinflussen. Wenn wir hingegen dem Behinderten die gleiche Menschenwürde zusprechen wie uns selbst, dann wird sich diese Auffassung ebenfalls im Verhalten gegenüber dem behinderten Kind niederschlagen. In der vorliegenden Heilpädagogik ist die Entscheidung für die zweite Auffassung unwiderruflich gefallen. Diese Entscheidung bedeutet: Eine heilpädagogische Anthropologie darf sich nicht von einer umfassenden Anthropologie unterscheiden. Anders ausgedrückt: Wir haben uns dafür entschieden, dass für das behinderte Kind das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll wie für uns selbst. Die Suche nach einem Menschenbild wird also im vorliegenden Rahmen nicht in erster Linie Suche nach einem Menschenbild für das behinderte Kind sein, sondern Suche nach einem Menschenbild, das für uns selbst Gültigkeit hat. Aufgrund der gefällten Entscheidung müssen wir ein für uns gültiges Menschenbild finden, welches im gleichen Sinne Gültigkeit für behinderte, bzw. für alle Menschen haben kann. Die Entscheidung für die gleiche Würde aller Menschen ist nicht rationallogisch begründbar. Es handelt sich um eine Wertentscheidung und ist als solche einer rationalen Begründung nicht zugänglich. Es lässt sich aber zeigen, dass derartige anthropologische Entscheidungen das praktische Handeln der Erzieher, die Erkenntnisse der Wissenschaft und Vorstellungen der Wissenschaft von den der Heilpädagogik angemessenen Erkenntnismethoden beeinflussen. Es spielt keine Rolle, ob wir uns als Praktiker oder ob wir uns als Wissenschaftler mit Heilpädagogik befassen; in beiden Fällen bildet ein Menschenbild die Grundlage unseres Tuns und unseres Erkennens.

Wenn wir uns als Praktiker ohne Wissenschaft (ohne «Theorie») mit der Erziehung behinderter Kinder beschäftigen, machen wir uns dennoch – möglicherweise ohne Bewusstsein – ein Bild vom behinderten Kind; solange wir uns dieses Bild bewusst machen, kann es viele Elemente von Vorurteilen aufweisen. Im Alltag wird die heilpädagogische Praxis relativ häufig von festen behinderungsspezifischen Meinungen über das besondere Wesen eines behinderten Kindes geprägt. Beispielsweise hat man festgestellt, dass im Alltagsleben relativ viele Menschen einem Sonderschüler ein besonderes Wesen zuschreiben. Man macht sich ein festes Bild von Kindern, die eine spezielle Klasse besuchen müssen, und wird damit dem menschlichen Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gerecht. Ob dieses Bild den Sonderschülern gerecht wird, wird dann gar nicht mehr gefragt. Sonderschüler werden im Alltag häufig ihrem Wesen nach als faul, frech und streitsüchtig gesehen; teilweise wird diesen Kindern direkt die Schuld dafür zugeschrieben, dass sie keine positiven Eigenschaften entwickelt haben. Dahinter steckt die nicht bewusste Alltagsmeinung, dass jeder Mensch einen freien Willen habe, mit dem er so oder so umgehen kann. Wer mit diesem Menschenbild Kinder klassifiziert, wird dann eben eine Unterscheidung treffen zwischen Kindern, welche ihren Willen für die Entwicklung positiver Eigenschaften einsetzen, und Kindern, welche gleichsam böswillig negative Eigenschaften entwickeln. Dieses Menschenbild kann relativ leicht zur Schuldigsprechung des Kindes führen: «Wenn ein Kind eben nicht richtig will, dann ist es selbst schuld».

Da es ein menschliches Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gibt, ist es nicht zu verhindern, dass wir uns Bilder von Menschen und Menschengruppen machen. Aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir uns der Klassifikation und deren Folgen bewusst sind, oder ob wir mit nicht-bewussten Menschenbildern unser Leben und das Leben anderer gestalten. Im zweiten Falle kommt es zur Gewohnheit, andere Menschen zu verurteilen, ohne es zu wissen.

Dieses Buch möchte erreichen, dass sich heilpädagogisch Tätige der Gefahren solcher Gewohnheiten bewusst werden. Es soll dazu anregen, sich während der heilpädagogischen Arbeit immer wieder die Frage zu stellen, welches allgemeine Menschenbild und welches Bild von diesem oder jenem behinderten Kind das eigene erzieherische Handeln beeinflussen. Das vorliegende Buch hat sein Ziel dann erreicht, wenn es zur Selbstkritik und Selbsterkenntnis von Heilpädagogen und anderen Personen in helfenden Berufen anregt.

Der wissenschaftlich arbeitende Heilpädagoge steht ebenso in der Gefahr, dass er durch die Brille von Theorien zu Meinungen kommt, die zwar wissenschaftlich formuliert tönen, aber ebenfalls ein nicht-bewusstes allgemeines Menschenbild und ein nicht-bewusstes Bild vom behinderten Kind enthalten. Beispielsweise hat es immer wieder Theoretiker gegeben, welche den behinderten Menschen einseitig durch die Brille einer medizinischen Sichtweise sehen. Solche Theoretiker konzentrieren sich auf die Untersuchung von Ursachen der Behinderung in der physischen und psychischen Konstitution des Betroffenen. Durch die Brille solcher Theoretiker ergibt sich relativ schnell eine Gleichsetzung von Menschsein mit Gesundsein. Was von der Gesundheit abweicht, erscheint dann als abweichend vom sinnvollen Menschsein. Damit vollzieht der Theoretiker, trotz scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität, eine negative Wertung von bestimmten Formen des Menschseins. Da es dabei auch um den Begriff der Gesundheit im psychischen Bereich geht, ist der Schritt zu einem Menschenbild, das sich an Werten wie Schönheit und Stärke orientiert, schnell gemacht. Wenn ein Theoretiker diesen Schritt macht, dann wird ein negatives Bild des heilerziehungsbedürftigen Menschen die Grundlage seiner Heilpädagogik bilden: Im Rahmen eines so entstandenen Menschenbildes erhält Behindertsein eine vorwiegend negative Bedeutung als Abweichung von einer Normalität des Gesunden, Schönen und Starken. Im Behinderten wird ein defekter Mensch gesehen. Wenn der Defekt nicht behoben werden kann, bleibt eigentlich nur noch die Resignation.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie auch auf der Ebene der Wissenschaft Menschenbilder geschaffen werden, die sich negativ auf die Beziehung zum behinderten Kind auswirken. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Probleme des Behindertseins kommen in der Regel dadurch zustande, dass die Probleme durch die Brille einer einengenden Theorie geordnet und strukturiert werden. Theorien strukturieren die Probleme meistens so, dass nur ein bestimmter Aspekt des Phänomens Behinderung in seiner Ganzheit wissenschaftlich untersucht wird. Es gehört sogar zum Wesen einer bestimmten Art von wissenschaftlichem Denken, zu zergliedern, mit vereinfachenden Modellen zu forschen und sich in das Studium von Teilaspekten zu vertiefen. Wissenschaft steht immer in der Gefahr, Teilerkenntnisse mit der ganzen Erkenntnis zu verwechseln. Wenn eine aufgrund eines vereinfachenden Modells gefundene Teilerkenntnis als Gesamterkenntnis behandelt wird, führt dies zu einem nicht-reflektierten Menschenbild, durch welches alle Wahrnehmung von Behindertsein gefiltert wird. Somit steht auch der Wissenschaftler in der Gefahr, sich über das Menschenbild, welches seine Erkenntnisse leitet, keine Rechenschaft mehr abzulegen. Wie im Alltagsleben kann es auch im wissenschaftlichen Leben (als Teil des Alltagslebens) zu einem Komplex von Vorurteilen kommen, welche dem behinderten Menschen die allgemeine Menschenwürde absprechen.

Diese Feststellungen über Praxis und Theorie lassen sich in der folgenden These formulieren: Auffassungen über das Wesen des Menschen allgemein und über das Wesen des Behinderten im Speziellen sind in der praktischen und in der wissenschaftlichen Heilpädagogik vorfindbar. Nicht nur jede Alltagsmeinung, sondern auch jede wissenschaftliche Erkenntnis über Probleme des Behindertseins enthält eine anthropologische Komponente, welche unsere Beziehung zum behinderten Kind, bzw. zum Mitmenschen überhaupt grundlegend beeinflusst.

Aus dieser These ergibt sich zwingend die Forderung nach einem logisch ersten Schritt beim Aufbau einer praktischen oder theoretischen Heilpädagogik: Es sollen die Grundzüge jenes Menschenbildes gesucht und diskutierbar gemacht werden auf welchen heilpädagogische Erkenntnis und heilerzieherische Tätigkeit basieren sollen. Wenn wir von der anfangs formulierten Grundentscheidung für die Einheit des Menschenbildes ausgehen, muss die vorliegende Schrift Anregungen zur Lösung der folgenden Probleme geben:

Der praktische und der wissenschaftliche Heilpädagoge muss sich über die Grundhaltung zum eigenen Menschsein klar werden. Er muss für sich selbst eine Vorstellung davon erarbeiten, wie er sich selbst als Mensch und wie er sein Verhältnis zu den anderen Menschen definieren will. Der erste Schritt in einer heilpädagogischen Anthropologie, in der es um die allgemeine Menschenwürde geht, ist gerade nicht der Schritt zu einer speziellen Anthropologie der Behinderten; sondern es geht um Selbsterkenntnis und Selbsterziehung des Heilpädagogen als Mensch. Da ich mich dazu entschieden habe, dass für alle Menschen das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll, kann es nicht eines für die Behinderten und eines für mich als Heilpädagogen geben.

Obschon das vorliegende Buch eine heilpädagogische Anthropologie sein will, geht es darin nicht um die Erarbeitung einer Anthropologie der Behinderten. Sondern es geht in erster Linie um die Erarbeitung eines Menschenbildes, das für uns Heilpädagogen Gültigkeit haben soll. Wenn wir für uns selbst um ein Menschenbild ringen, das als Grundlage die Entscheidung für die allgemeine Menschenwürde hat, wird es alle Menschen, auch den behinderten Menschen, mit umfassen. Somit wird es in diesem Buch um uns selbst gehen. Wir werden primär der Frage nach uns selbst nachgehen. Erst wenn wir zufriedenstellende Antworten auf die Frage nach unserer eigenen Identität gefunden haben, dürften wir den Schritt zu Fragen nach Identitätsproblemen von Behinderten machen.

Ich werde von der These ausgehen, dass wir unsere menschliche Identität dann entwickeln können, wenn wir das Gefühl haben, unsere Person sei etwas in sich Zusammenhängendes bezüglich des Fühlens, Denkens und Tuns. Dieses Identitätsgefühl ist das Ziel unserer Vermenschlichung. Mit «Vermenschlichung» bezeichne ich den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung, der nie endgültig an ein Ziel gelangen kann. Der «gute» Heilpädagoge ist derjenige, der sich lebenslang um die eigene Vermenschlichung bemüht und der sich mit demselben Ziel der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher widmet. Ein Heilpädagoge, der dies nicht tut, wird entweder das Kind durch andauernde äussere Geschäftigkeit verunsichern oder so in Routine erstarren, dass er ohne Ausstrahlung von Freude und innerem Erfülltsein bleibt.

Die Frage nach unserer eigenen Identität wird uns zur folgenden existentiellen Grundfrage führen:

– Bin ich das, was ich heute bin, geworden, weil es das zufällige Schicksal so bewirkt hat?

– Oder bin ich das, was ich heute bin, durch meine eigene Entscheidung und Leistung geworden?

Diese Grundfrage lässt sich auch so formulieren: Bin ich ein Subjekt mit Freiheitsspielraum oder bin ich ein Spielball undurchschaubarer gesellschaftlicher Mächte?

Die Grundfrage begegnet uns in verschärfter Form, wenn wir nach der Identitätsentwicklung von behinderten Kindern fragen:

– Sind wir der Meinung, dass ein behinderter Mensch Subjekt bleiben soll, auch wenn die Behinderung noch so schwer ist?

– Oder sind wir der Meinung, dass ein Mensch umso mehr als abhängiges Objekt behandelt werden soll, je stärker die Behinderung ist?

Im Verlaufe unserer Untersuchungen werden sich diese Fragen immer deutlicher als die Schlüsselfragen herausstellen.

Das Menschenbild für die Heilpädagogik

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