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3. Tag — Dienstagmorgen

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Die Nacht hatte die Welt am türkisfarbenen See von Grund auf verändert. Der Regen prasselte eine große, rhythmische Symphonie auf das Dach des Weißen Schlosses. Riesige dunkelgraue Wolken hingen bauchig wie eine Herde gestrandeter Walfische über dem See. Sie sahen nicht so aus, als ob sie daran dachten, jemals wieder zu verschwinden. Die kleine In­sel war zwar wieder aus der Dunkelheit aufgetaucht, aber auf ihrer nächtlichen Reise jedweder Farbe beraubt worden. Dafür waren die Berge, die sonst so mächtig um den See herumstanden, spurlos verschwunden, wie wegradiert.

Tanner war seit fünf Uhr in der Küche zugange. Er hatte bereits den großen Kochherd und all die kleineren Maschinen einer gründlichen Reinigung unterzogen, als die Frühstücksmannschaft auftauchte. Er frühstückte mit ihnen und half bei den Vorbereitungen für die Speisesäle, obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte. So konnten Annerös und Lydia früher Schluss machen und versprachen, dafür eher zu kommen, um Tanner bei der arabischen Vorspeise- und Falafeltafel zu un­ter­stützen, die sehr viel Handarbeit erforderte.

Nach dem Frühstück leerte sich das Haus. Die Mädchen machten mit einem Teil der Lehrerschaft einen Ausflug in die Landeshauptstadt. Ljuli kam nun auch in die Küche und half Tanner. Bis gegen Mittag war die Küche blitzblank und von Grund auf gereinigt. Tanner bedankte sich bei Ljuli und machte sich an die Vorbereitung eines kleinen Mittagessens für die wenigen Zurückgebliebenen. Madame nahm am Mittag nie etwas zu sich. Das hatte Tanner schon gestern erfahren. Kurz darauf rief er zum Mittagessen. Sie waren nur zu dritt. Teresa kam etwas verspätet, sie war ziemlich aufgelöst.

Entschuldigt die Verspätung. Ich war bei der Polizei. Walter Valser ist nämlich, äh … verschwunden.

Ljuli reagierte sehr verstört.

Wie verschwunden? Was ist passiert? Ist ihm etwas passiert?

Tanner blickte Teresa fragend an.

Herr Valser ist unser Gärtner und Haustechniker. Er hatte die ganze letzte Woche frei. Aber er hätte schon am Sonntag ins Haus kommen sollen, so war es ausgemacht. Er ist nicht er­schienen. Gestern auch nicht, ohne sich abzumelden, und heute auch nicht. Er nimmt auch sein Handy nicht ab. Heute Morgen hat uns seine Frau angerufen und weinend berichtet, dass ihr Mann verschwunden sei. Wir waren jetzt bei der Polizei und haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben.

Tanner begann vorsichtig nachzufragen.

Wann hat seine Frau ihn denn zuletzt gesehen?

Am Sonntagmorgen habe er sich verabschiedet. Am Sonntag hätte er ja ins Haus kommen sollen. Ist aber nicht erschienen. Danach hatte ihn seine Frau nicht mehr gesehen.

Tanner stutzte.

Und sie ruft erst heute Morgen an? Das ist aber eher seltsam. Und wie alt ist er, der Walter Valser, meine ich.

Er habe ihr gesagt, vielleicht übernachte er hier. Das tut er manchmal. Er ist so gegen die fünfzig.

Hat er hier ein Zimmer?

Nein, im kleinen Bootshaus, wo auch seine Werkstatt ist. Er hat eine Matratze. Da übernachtet er oft, denn er wohnt ganz am anderen Ende des Sees.

Und wie kam er jeweils zur Arbeit?

Meistens mit dem Fahrrad. Je nach Arbeitsrhythmus konnte er das Fahrrad aufs Kursschiff nehmen. Früher arbeitete er übrigens auf den Kursschiffen hier.

Fehlt denn zu Hause irgendetwas? Hat er was mitgenommen? Hat seine Frau etwas bemerkt? War er in letzter Zeit irgendwie unruhig? Anders als sonst? Hatte er Probleme?

Teresa starrte ihn verblüfft an.

Das alles hat die Polizei auch gefragt.

Tanner kapierte, dass er zu weit gegangen war und versuch­te sofort, seine Fragerei herunterzuspielen.

Ja, das sind doch die Fragen, die einem als Erstes in den Sinn kommen, oder?

Ljuli nickte unsicher. Aber Teresa blickte ihn nach wie vor verwundert an.

Also, die Frau konnte sich an keine Auffälligkeiten erinnern. Gefehlt habe auch nichts.

Die Frage, ob jemand im Bootshaus nachgesehen habe, verkniff sich Tanner.

Er versuchte es auf die heitere Art.

Es gibt ja auch die berühmten Fälle, dass jemand Zigaretten holen geht und danach nie mehr nach Hause kommt. Davon habt ihr sicher auch schon gehört?

Die Frauen lächelten.

Ich sage es ja immer, Rauchen ist gefährlich, gell, Ljuli.

Jetzt lachten sie herzhaft.

Er wird schon wieder auftauchen. So schnell verschwindet kein Mensch.

Teresa nickte.

Hoffen wir es.

Haben Sie Madame informiert?

Nein, aber das mache ich gleich nach dem Essen.

Danach aßen sie weiter und unterhielten sich übers Kochen und über andere alltägliche Dinge.

Erst als Teresa das Besteck auf den Teller legte und sich mit der Serviette den Mund wischte, sprach sie das Thema wieder an.

Was wird denn die Polizei jetzt machen, frage ich mich.

Tanner nahm ein Schluck Bier.

Erst mal die ganzen Routinesachen. Die Vermisstenanzeige an alle Polizeistationen weiterleiten, Spitäler und alle möglichen Kliniken in einem gewissen Umkreis anfragen. Tja, und dann wieder warten.

Woher wissen Sie das so genau, Tanner?

Ich lese Kriminalromane. Sie nicht?

Teresa schüttelte den Kopf.

Ich gehe jetzt zu Madame und mache Meldung. Das ausgerechnet jetzt, da Dr. de Klerk nicht da ist! So ein Mist!

Ljuli nickte mitfühlend.

Tanner stand auf.

Wenn ich irgendwie helfen kann – Sie wissen ja, wo Sie mich finden.

Tanner räumte auf, ging dann in sein Zimmer und rief Michel an.

Also, Tanner, hör mal, ich habe drei Leute auf die drei Damen angesetzt, und die haben rund um die Uhr telefoniert und alle möglichen Informationen eingeholt. Alles ist in Protokollen zusammengefasst und bereits auf der Post zu dir un­terwegs. Morgen solltest du das Paket erhalten.

Gut. Ich danke dir.

Ach, ja. In Schweden gibt es im Moment keinen Kongress zu den gesuchten Themen Internate, Schulen und so weiter.

Tanner grinste.

Nein, aber ich weiß mittlerweile, dass er an einem internationalen Schneckenkongress teilnimmt.

Schnecken? Machst du dich über mich lustig, Tanner?

Nein, nein. Es ist die Wahrheit. Das hat man mir gesagt. Das wissen hier alle. Dr. de Klerk ist offenbar Wissenschaftler. Schneckenexperte.

Okay, auch ein Beruf. Und weiter?

Mehr weiß ich auch nicht. Schnecken sind offenbar sein Hobby. Im Grunde leitet seine Mutter das Internat. Er sei bloß das Aushängeschild. Aber das ist nur Klatsch. Ich habe ihn ja noch nicht mal gesehen. Und jetzt was anderes. Der Gärtner ist verschwunden. Er hätte wohl schon am Sonntag wieder zur Arbeit kommen sollen und ist bis heute nicht aufgetaucht.

Tanner erklärte ihm, was er bisher wusste.

Aha, seltsam. Am Tag, an dem du auftauchst, verschwindet der Gärtner. Aber das ist sicher nur ein Zufall. Oder willst du den Job des Gärtners auch noch übernehmen?

Michel lachte schallend.

Blödmann. Er heißt übrigens Valser, wie das Mineralwasser, Walter Valser. Er hat früher bei der Schifffahrtsgesellschaft hier auf dem See gearbeitet. Kannst du mal diskret nachprüfen, warum er nicht mehr dort arbeitet? Das sind doch sicher gute Jobs bei so einer Schifffahrtsgesellschaft, die gibt man eher nicht freiwillig auf, denke ich.

Gut. Mach ich. Und melde dich, wenn dir in den Unterlagen über die drei Frauen etwas Brauchbares auffallen sollte.

Ja, falls die ankommen. Heute war noch nichts in der Post.

Na, ich sage es ja: Schneckenpost.

Die Schneckeninsel

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