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2. Tag — Montagnachmittag

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Nach dem Mittagessen, das ein voller Erfolg wurde – Annerös’ Crème wurde von den Mädchen mit Applaus bedacht –, fand Tanner endlich Zeit, Michel anzurufen. Ach, welche Ehre, der neue Sternekoch aus dem Weißen Schlösserl am Wolfgangsee … Sehr lustig, du bist wirklich ein Komiker. Tanner gab ihm einen kurzen Überblick über die Lage im Internat, soweit er dazu bereits in der Lage war. Madame erwähnte er nur am Rande. Und der Herr Direktor kommt also erst am Freitag oder am Samstag? Er interessiert mich natürlich am meisten. Wie stabil schätzt du denn die neue Assistentin ein? Als ziemlich stabil. Es ist schwer vorstellbar, dass die auch eine Selbstmordkandidatin ist. Sobald ich Zeit habe, studiere ich noch einmal die Unterlagen über die drei Frauen. Es ist sicher was anderes, wenn man vor Ort ist. Ach ja, schaust du mal, was für Kongresse in Schweden gerade stattfinden? Es müsste ja irgendwas mit Internaten, modernem Schulwesen oder so was Ähnliches zu tun haben, nehme ich an.

Michel stöhnte.

Mensch, hast du noch mehr solche Aufträge? Du weißt, wir sind unterbesetzt.

Tanner lachte.

Überglücklich wäre der Polizist, würde er die Vorzüge des Polizeilebens kennen.

Michel grunzte.

Was soll denn das sein?

Das ist ein Zitat. Ein leicht angepasstes Zitat von Vergil.

Und wer ist das jetzt wieder? Ist das auch ein Sternekoch?

Nein, du Dödel. Das war ein berühmter römischer …

Michel lachte.

Aber das weiß doch jeder. Reingefallen.

Während seiner Zimmerstunde widmete er sich noch einmal ausgiebig dem Studium der Unterlagen über die drei Selbstmörderinnen. Die erste, eine Belgierin, hielt es am längsten im Weißen Schloss aus. Sie arbeitete fünf Jahre bis zu ihrem Selbstmord. Bei der zweiten aus Frankreich waren es noch gu­te zweieinhalb Jahre und bei der dritten – sie war aus Holland – dauerte es noch knapp anderthalb Jahre. Wäre das Ganze ein mathematisches Modell, könnte ihm Madame als Mathematikerin sicher exakt vorausberechnen, wann die nächste Selbstmordkandidatin fällig wäre. Er grinste und schimpfte sich einen Zyniker. Er suchte nach Gemeinsamkeiten, fand aber in den Angaben, die ihm zur Verfügung standen nichts, was aufschlussreich gewesen wäre. Sie waren zwar während ihrer Tätigkeit hier alle etwa gleich alt gewesen. Die Erste war auf dem beigelegten Foto rothaarig, schlank zwar, aber mit weichen Formen. Die Zweite eine sehr schlanke Brünette mit wachen Augen. Die Dritte schließlich war ebenso blond gewesen wie Teresa, aber trotzdem eine ganz andere Persönlichkeit, soweit man das aus einem einzigen Foto herauslesen konnte. Er konnte die Unterlagen durchgehen und wiederlesen, es fiel ihm einfach nichts auf, was ein Hinweis zur Klärung der mysteriösen Selbstmorde hätte geben können. Außer dass sie alle drei ins Wasser gegangen waren, gab es schlicht und ergreifend keine Gemeinsamkeiten.

Was für ein grauenhafter Tod!

Tanner konnte und konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man freiwillig im Wasser sterben konnte. Nahm man ein Medikament, das zum Tode führte, war einem nach der Entscheidung, es zu schlucken, alles aus der Hand genommen. Aber im Wasser! Die Panik, wenn man merkte, dass man keine Luft mehr bekam. Wie konnte man den Überlebenswillen ausschalten? Wie konnte man sich verbieten, nach oben zu schwimmen?

Schwimmen?

Tanner stutzte.

Wusste man denn, ob die Frauen überhaupt alle schwimmen konnten? In unseren Breitengraden war es zwar heutzutage fast selbstverständlich, dass alle schwimmen lernten, aber was hieß das schon.

Waren die Frauen in Kleidern ins Wasser gegangen? Zu welchen Tageszeiten? Wo hatte man sie gefunden? Hatte man errechnen können, wo sie ins Wasser gegangen waren?

Das waren eine Menge Fragen.

Tanner kratzte sich an der Stirn und griff nochmals zum Telefon.

Ja, ich bin es schon wieder. Ich habe da noch ein paar Fragen.

Michel stöhnte.

Beklage dich nicht. Du hattest doch ein komisches Gefühl bei den Selbstmorden, sonst wäre ich ja nicht hier.

Gut, leg los, in Gottes Namen.

Am Ende bemerkte Tanner noch, dass die Unterlagen total unvollständig seien. Es stünde zum Beispiel nichts über die Schul- und Ausbildungswege der Frauen. Hatten sie Sport gemacht? Konnten sie schwimmen? Hatten sie Beziehungen? Wenn ja, welche? Warum war keine der drei verheiratet? Waren sie lesbisch? Hatten sie unglückliche Beziehungen zu einem der Mädchen geknüpft? Hatte man die Schülerinnen befragt?

Michel stöhnte wieder.

Ja, ja, du hast ja recht. Die Schulleitung war übrigens aus Diskretionsgründen dagegen, die Mädchen zu interviewen. Und da der Befund der Gerichtsmedizin eindeutig auf Selbstmord lautete, gab es kein juristisches Mittel, die Befragungen durchzubringen. Das Ganze musste sowieso unter dem Deckel gehalten werden. Stell dir vor, wie schnell der gute Ruf eines Internats dahin ist. Und der gute Ruf ist alles, was ein Internat hat.

Gut. Klärt bitte ab, was noch möglich ist. Und ich mache vor Ort, was ich kann.

Um vier Uhr war die Mannschaft wieder vollzählig in der ­Küche versammelt. Lydia hatte bereits einige Kisten mit knackigen Salaten und verschiedene Gemüse besorgt. Sie zeigte Tanner stolz ihre Beute.

Ich bin begeistert. Danke, Lydia.

Er wandte sich an den Stummen.

Anandan, den Reis machst du ganz traditionell. Dann: Wir machen eine Bratensauce, eine Currysauce und eine Cocossauce. So haben die Gäste eine Auswahl. Sowohl die Vegetarier wie auch die, die Fleisch essen. Die Pouletbrüste machen wir auf meine Art. Annerös und Lydia, ich zeig euch gleich, wie es gemacht wird. Das Gemüse für die Vegetarier machen wir nicht in einer Sauce, das wird eh nur ein Einheitsbrei, sondern wir braten es. Diesen schönen weißen Chicorée schneiden wir längs und braten ihn mit Olivenöl, Salz und Pfeffer scharf an. Desgleichen die Peperoni, Zucchini und Brokkoli. Wir machen heute keinen Salat, den sparen wir uns für morgen Abend. Lydia, der hält doch gut bis morgen Abend, oder?

Kein Problem, Chef.

Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Alle lachten.

Prima. Ach, ja. Jetzt zu den Pouletbrüstchen. Wir machen kleine Zöpfchen aus ihnen. Habt ihr das schon einmal gesehen?

Alle schüttelten den Kopf.

Anandan, gib mir mal eine Pouletbrust und du, Lydia, du hast doch wilden Majoran.

Tanner ging ans Schneidebrett.

Wir schneiden die Pouletbrüste in zwei Hälften oder eventuell in drei Teile, wenn das Stück besonders groß ist. Jedes Teil schneiden wir in drei Streifen, aber nicht ganz durch. Die Streifen müssen an der dicksten Stelle zusammenbleiben. Seht ihr, so. Wie ein Kopf mit drei Beinen. Dann nehmen wir einen oder zwei Majoranzweige und machen mit den drei längs geschnittenen Streifen einen kleinen Zopf. Die Zweige werden eingebunden. Man kann gleichzeitig auch Speckstreifen einbinden, aber die haben wir, glaube ich, heute nicht. Das machen wir das nächste Mal. Man muss die fertigen Teile nicht mal binden, man muss sie nur vorsichtig behandeln bis zum Anbraten, damit sie in der Form bleiben. Nach dem Anbraten ist es kein Problem mehr.

Er wandte sich zu Lydia und Annerös.

Das Zöpfeln könnt ihr sicher noch besser als ich. Ich werde unterdessen das Gemüse schneiden und dann die Saucen machen. Alles klar?

Alle nickten.

Auf los gehts los.

Pünktlich waren sie fertig. Als oben in den Speisesälen serviert war, aß auch die Küchenmannschaft in der Küche mit großem Appetit.

Annerös meinte, dass durch die Verwandlung der Pouletbrust in einen Zopf sich auch die Qualität des Fleisches wunderbarerweise verwandelt habe.

Tanner lächelte.

Es hat damit zu tun, dass wir durch das Zöpfeln die Oberfläche des Fleisches fast verdreifacht haben. Das macht ganz viel aus. Und dann natürlich die Liebe, mit der ihr beiden das Fleisch behandelt habt.

Sie lachten.

Wie lange arbeitet ihr eigentlich schon hier?

Die beiden Frauen sahen sich an.

Seit das Weiße Schloss umgebaut wurde. Das sind jetzt, äh …

Lydia sprang ein.

Es sind ziemlich exakt neun Jahre. Anandan kam erst vor drei Jahren zu uns.

Und Max Keller?

Wie wir. Er hat auch gleichzeitig mit uns angefangen. Nur das Servicepersonal wechselt von Saison zu Saison. Das ist ja auch klar. Es sind ja meist junge Leute, die sich so ihr Studium verdienen.

Geht der Max Keller hier eigentlich auch fischen? Im See oder in den Bächen?

Annerös und Lydia sahen sich fragend an.

Nein, nicht dass wir wüssten.

Was macht er denn so in seiner Freizeit?

Das wissen wir auch nicht. Er fährt immer mit seinem großen Motorrad weg. Wir denken, dass er eine Geliebte im Hauptort hat. Aber erzählt hat er nie davon.

Annerös kicherte. Lydia wechselte das Thema.

Ljuli ist auch erst vor drei Jahren zu uns gekommen.

Und die Erzieherinnen?

Die eine von Anfang, die andere seit knapp drei Jahren oder so. Da gab es mal einen Wechsel, aber da erinnere ich mich nicht mehr so recht.

Lydia war offensichtlich verlegen. Sie stand auf, um etwas zu holen.

Tanner konnte es sich nicht verkneifen.

Und Frau Wunder?

Annerös und Lydia wechselten einen schnellen Blick, und Annerös forderte Lydia, die sich wieder setzte, zum Antworten auf.

Ja, sie hat erst vor fünf Wochen angefangen. Ihre Vorgängerin ist auf tragische Weise ums Leben gekommen.

Tanner spürte, wie Annerös Lydia unter dem Tisch mit ihrem Fuß anstieß.

Lydia schwieg und schaute auf ihren Teller. Tanner aß weiter und fragte so beiläufig wie möglich.

Was heißt tragisch?

Sie ist im See ertrunken.

Er blickte hoch.

Ertrunken? Konnte sie nicht schwimmen?

Ich weiß nicht, ob sie schwimmen konnte. Weißt du das, Annerös? Ich habe sie nie baden sehen. Du, Annerös?

Die Angesprochene schüttelte den Kopf und senkte ihre Stimme.

Ich weiß es nicht, aber es spielt auch keine Rolle. Sie ist ja freiwillig ins Wasser gegangen.

Lydia nickte.

Es war Selbstmord.

Und weiß man, wieso sie das gemacht hat?

Beide hoben ihre Schultern und ließen sie wie einstudiert synchron wieder fallen.

Nein. Niemand hat das verstanden. Es war sehr tragisch. Sie war eine Nette. Aber wir hatten ja nicht so Kontakt zu ihr, also persönlich, meine ich.

Tanner hütete sich, weiter zu fragen. Er hatte das Gefühl, als ob Anandan etwas dazu sagen wollte, aber er konnte ja nicht reden. Er würde ihn in den nächsten Tagen mal darauf ansprechen. Schreiben konnte er ja.

Sie aßen schweigend weiter.

Zehn Minuten später meldete Teresa, dass alle vom Essen begeistert gewesen seien. Das löste die Stimmung wieder.

Tanner hätte gerne gefragt, ob Madame auch zum Essen erschienen war, aber er hütete seine Zunge.

Kurz vor zehn war die Küche fertig, und Tanner verabschie­dete sich von seiner Mannschaft.

Morgen Abend würde er eine arabische Vorspeisentafel, Falafel und verschiedene Salate mit einheimischen Produkten machen, so wie er es damals von seiner Köchin in Marokko gelernt hatte. Lydia hatte ihm noch eine Ladung Kichererbsen besorgt, die musste er jetzt über Nacht noch in kaltes Wasser einlegen. Immerhin gab es unter den Schülerinnen einige aus muslimischen Ländern. Er hatte keine Lust auf Nudeln mit Rahmsauce und solche Sachen, wie sie Max Keller vorgesehen hatte.

Die Schneckeninsel

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