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1. Tag — Sonntagnacht

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Mitternacht war längst vorbei, als Tanner erschöpft ins Bett fiel.

Pünktlich um vier Uhr hatte er sich in das kleine Küchenreich des Weißen Schlosses begeben. Den Ordner hatte er studiert, vielmehr überflogen, denn er hatte schnell gemerkt, dass nichts besonders Aufregendes in den Menüvorschlägen der nächsten vier Wochen stand. Ein bisschen Hausmannskost, ein bisschen typisches Kantinenessen – wenn auch etwas gehoben –, ein bisschen international. Im Angebot standen zu jeder Mahlzeit ein vegetarisches Menü und eines mit Fleisch, gelegentlich Fisch. Es stand auch jeweils die Anzahl der verschiedenen Varianten fest. Natürlich war ein geschriebenes Menü das eine und das gekochte etwas anderes. Beim Kochen gab es zum Glück eine schier unendliche Vielzahl von Möglichkeiten. Insofern würde ihm sehr viel Spielraum bleiben, auch wenn er sich an die Vorgaben hielt, was noch lange nicht gesagt war. Für den heutigen Sonntagabend (eigentlich an jedem Sonntagabend) war ein klassisches Nationalgericht geplant, das hier Ländliches Abendessen hieß und landläufig Gschwellti genannt wurde; ganze, ungeschälte Kartoffeln mit einer Auswahl an Käsen und Salaten.

Also, viel Arbeit würde es heute Abend nicht geben.

Die zwei angelernten Hilfsköche – wie Keller sie genannt hatte – entpuppten sich als zwei Frauen aus dem Dorf. Etwas zurückhaltend, aber mit kräftigem Händedruck begrüßten sie ihren neuen Küchenchef und wünschten ihm einen erfolgreichen Arbeitsmonat und versprachen eine tatkräftige Zusammenarbeit. Das glaubte ihnen Tanner aufs Wort. Wahrscheinlich hätten die beiden Frauen – sie stellten sich als Lydia und Annerös vor – den Laden auch ganz allein schmeißen können, wenigstens auf dem bisher gewohnten Niveau. Das Frühstück machten sie übrigens allein, mit zusätzlicher Unterstützung aus dem Dorf. Tanner musste sich also ums Frühstück überhaupt nicht kümmern.

Der Stumme war ein schmaler, sympathischer Mann unbestimmbaren Alters aus Sri Lanka. Er verbeugte sich mit sehr ernster Miene. Tanner verbeugte sich kurzerhand auch, übertrieben theatralisch, was zu einem ersten Heiterkeitsausbruch in der Küche führte. Die Folge war, dass sich kurzerhand alle ein paar Mal gegenseitig verbeugten. Das Eis war gebrochen und alle machten sich an die Arbeit. Tanner entzündete rituell die Gasflammen des zentralen Kochherds, so wie er es von Stocker gelernt hatte. Die beiden Frauen begannen einen Berg von Salaten zu rüsten. Anandan, der Stumme, wusch Unmengen von Kartoffeln. Keller inspizierte derweil mit Tanner die Kühlräume und den Vorratskeller.

Es handelte sich, wie Tanner es aufgrund der Menüs geahnt hatte, durchs Band um lauter gängige Produkte, wie er sie in Großeinkaufsstätten für Hotels und Restaurants bereits kennengelernt hatte. In der Mehrheit waren es Fertig- und Halbfertigprodukte. Zur gleichen Zeit brachten sie all die diversen Käsesorten in die Küche, die dann von Tanner und Keller in kleinere Portionen geschnitten und auf großen Holzplatten dekorativ angerichtet werden sollten. Eine Platte pro Tisch. Tanner packte seine Messer aus und Keller begutachtete sie fachmännisch.

Aha, sieh an: Keine Produkte aus dem fernen Japan?

Nein, die sind von einem Freund von mir, der ein begnadeter Messerschmied ist. Du siehst, es gibt auch bei uns höchste Qualität. Und wunderschön sind sie obendrein. Jeder Griff eine Liebeserklärung an das geschmiedete Eisen.

Keller nickte und begann dann übergangslos einen ewig währenden Monolog über seine Kocherfolge und vor allem über seine künftigen Großtaten als Fischer in den reißenden Gebirgsbächen Kanadas zu halten. Tanner sah, dass sich der Rest der Küchenbesatzung schon ein ziemlich dickes Fell gegen dieses Monologisieren ihres Küchenchefs zugelegt hatte.

Er atmete tief durch und machte sich an die Arbeit.

Gegen sechs Uhr traf nach und nach auch das Servicepersonal ein: Ausschließlich jüngere Frauen aus dem nahen Ausland. Am Getrampel im Treppenhaus konnte man auch bis in die Küche hinunter hören, wie die Schülerinnen aus ihren Schlafhäusern oder aus dem Wochenendurlaub eintrafen. Einzelne Grüppchen schlenderten gelegentlich durch den Garten oder guckten fröhlich winkend durch die Fenster in die Küche. Die Mädchen, die Tanner sah, schätzte er auf vierzehn bis achtzehn Jahre. Morgen würde er von Teresa Wunder einige Informationen über die Schule erhalten. Das hatte sie ihm versprochen, als sie kurz nach fünf in die Küche schaute. Sie erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei, und kündigte an, dass sie um acht Uhr Tanner und Keller kurz in den Speisesaal holen würde, um die Ferienvertretung des Küchenchefs vorzu­stellen.

Von der Küche zu den Speisesälen gab es zwei Küchenlifte. Kurz nach halb acht wurden diese mit den Käseplatten und den unzähligen Salatschüsseln bestückt. Das Servicepersonal hatte indessen die Speisesäle hergerichtet, und die Schülerinnen setzten sich.

Kurz vor acht kam Teresa Wunder wie versprochen und führte die beiden Küchenchefs in die Speisesäle.

Tanner, ich möchte Sie erst Madame de Klerk und dann den beiden Erzieherinnen vorstellen.

Tanner nickte und folgte ihr durch das Gewusel der Schülerinnen, die jetzt in die Säle strömten.

Madame de Klerk saß an einem einzelnen Tisch nahe am Fenster, das direkt auf See und Garten blickte.

Tanner erschrak beinahe. Das war nicht das Wesen, dass er heute Nachmittag sich hatte krümmen und nach Luft ringen sehen. Diese Madame war das blühende Leben selbst und ganz bestimmt nicht alt. Da musste er irgendetwas falsch verstanden haben. Ihre Haut war glatt. Ihre Augen leuchteten, und sie hatte volle Lippen, die diskret geschminkt waren. Sie hatte keinerlei Falten außer einigen Lachfältchen um die Augen. Diese Madame hatte schönes, dunkelblondes Haar. Ihre Kleidung war sicher teuer, wirkte aber wie aus einem anderen Jahrhundert. Sie sah außerordentlich vornehm aus und hätte sofort in einer altmodischen Inszenierung von Drei Schwestern auftreten können.

Tanner ließ es nicht nehmen, sie mit einer knappen Verbeu­gung und die ihm kühl entgegen gestreckte Hand mit einem angedeuteten Handkuss zu begrüßen.

Jetzt kam die nächste Überraschung: Sie hatte eine aus­gesprochen tiefe und raue Stimme. Tanner tippte auf schwere Raucherin.

Herzlich willkommen in unserem Institut. Mein Sohn, der Direktor, kann Sie heute leider noch nicht begrüßen. Er kommt wahrscheinlich erst Freitag oder Samstag.

Tanner stutzte. Interessant. Jeder sagte einen anderen Ankunftstag voraus.

Sie fixierte ihn mit ihren tiefblauen Augen und entließ ihn mit einer lässigen Handbewegung.

Teresa ging mit Tanner einen Tisch weiter, wo die beiden Erzieherinnen saßen. Es waren zwei jugendlich, sportlich und sympathisch wirkende Frauen.

Teresa stellte ihn kurz vor. Er schüttelte jeder die Hand, hatte aber die Namen sofort wieder vergessen.

Teresa wandte sich nun an die Schülerinnen. Sie klingelte energisch mit einer Tischglocke, und nach und nach wurde es still im Raum.

Sie begrüßte die Mädchen, nannte einige Termine und Verschiebungen im Schulprogramm der nächsten Woche und stellte Tanner als Küchenchef vor. Dann wünschte sie Max Keller schöne Ferien, Petri Heil und eine gute Rückkehr. Die Mädchen applaudierten heftig.

Währenddessen schaute sich Tanner die jungen Mädchengesichter an. Das Gesicht des Mädchens allerdings, das ihn vor dem Teufel gewarnt hatte, fand er nicht unter ihnen. Tanner und Keller gingen zurück in die Küche, wo sich Keller von der ganzen Küchenmannschaft verabschiedete, denn er fuhr bereits heute Abend weg, da morgen sein Flug nach Kanada sehr früh starten würde.

Tanner war nun für den Rest des Abendessens allein mit der kleinen Küchenmannschaft. Der Service meldete, dass es absehbar keine weiteren Nachbestellungen für Kartoffeln und Käse geben würde, allerdings seien noch drei große Schüsseln Salat gewünscht. Die Sauce sei heute aber auch gar zu lecker.

Annerös und Lydia beglückwünschten Tanner lachend, der hatte nämlich unter den kritischen Augen Kellers ein paar ei­genmächtige Veränderungen an der Fertigsauce vorgenommen. Mit einer kräftigen Portion Honig und Holundersirup und einigen Brisen weiterer Gewürze.

Also entweder nur Öl, Essig, Pfeffer und Salz oder dann schon richtig.

Keller hatte nur mit den Schultern gezuckt.

Ab morgen machen wir die Sauce von Grund auf selber. Einverstanden?

Die beiden Frauen nickten. Der Stumme lächelte.

Nach dem Essen kam Teresa Wunder in die Küche und nahm Tanner beiseite.

Werden Sie es mit der kleinen Mannschaft schaffen? Keller meckerte immer, dass er mehr Leute brauchte.

Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Die Mannschaft ist gut. Man muss sie nur selbständig machen lassen.

Sie nickte.

Gut zu wissen. Danke. Ach ja, Frau de Klerk wünscht Sie noch zu sprechen. So gegen zehn in ihrem Salon.

Sie guckte auf die Uhr.

Dann müssten Sie ja hier fertig sein. Schaffen Sie das?

Tanner nickte und runzelte die Stirn.

Es tut mir leid, ich weiß nicht, was sie will. Sie schien irgend­wie verärgert zu sein. Weswegen weiß ich nicht. Nehmen Sie es gelassen.

Entschuldigen sie, Teresa, man hat mir gesagt, dass Frau de Klerk schon sehr alt sei? Aber das kann doch nicht diese Frau sein, die Sie mir vorgestellt haben?

Teresa lachte.

Also, wie alt sie genau ist, weiß niemand, aber sie ist deutlich älter als sie aussieht. Tja, ich wüsste auch gerne, wie sie das macht. Sie ist ein Phänomen. Vielleicht ein Naturwunder?

Tanner nickte.

Ja vielleicht. Dann gute Nacht.

Gute Nacht.

Er blickte ihren geschwinden Schritten nach.

Frau de Klerk verärgert?

Er zuckte die Achseln, drehte die Gashähne zu und machte noch einmal eine Sauce für die drei Schüsseln Salat, die von Annerös vorbereitet wurden.

Kurz nach zehn klopfte er leise an die Tür von Frau de Klerks Zimmer. Zuvor hatte er sich vergewissert, dass alle anderen Türen, auch die einer gewissen L. Dürr, nicht etwa zwecks Lauschens halb geöffnet waren. Das Weiße Schloss lag in tiefer Ruhe. Er klopfte noch einmal und drückte dann nach drei Atemzügen die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie. Der Raum lag vollkommen im Dunkel.

Machen Sie die Tür zu und kommen Sie rein. Ich sitze hier am Fenster.

Er schloss die Tür und blieb einen Augenblick stehen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Er sah sie als dunkle Silhouette am Fenster sitzen.

Kommen Sie schnell. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Nehmen Sie Platz. Neben mir ist ein Stuhl.

Sie klopfte mit ihrer Linken auf einen Polsterstuhl. Tanner setzte sich.

Schauen Sie. Jetzt geht gleich der Mond auf.

Tanner war verblüfft. Der See leuchtete matt, als ob es an seinem Grund eine Leuchtquelle gäbe. Am dunklen Firmament leuchteten nur ein paar vereinzelte Sterne.

Sie zeigte auf eine tiefe Kerbe zwischen zwei hohen Gipfeln.

Dort. Schauen Sie. Dort wird er gleich erscheinen.

Sie hatte recht. Ein kalt glühender Goldschimmer hatte sich bereits an die Ränder dieser Kerbe gelegt, als ob jemand mit einem Goldstift den schwarzblauen Bergrändern nachgefahren wäre.

Dann erschien der Mond. In einem unglaublichen Tempo schob sich die leuchtende Scheibe zwischen den Bergen hinauf. Ein gigantisches Spektakel.

Er ist noch nicht voll, sehen Sie. Das wird erst am nächsten Freitag der Fall sein.

Wenn der Herr Direktor zurückkommt, schoss es Tanner durch den Kopf.

Er betrachtete ihr Profil. Sie betrachtete verzückt das Naturschauspiel. Diese Hingabe an die Schönheit der Natur verklärte ihr Gesicht und machte sie noch schöner und sehr weich.

Sie bemerkte seinen Blick. Und da war sie wieder – diese herrische Barschheit.

Schauen Sie nicht mich an! Schauen Sie die Natur an.

Sie schnaubte ungehalten, beruhigte sich aber gleich wieder.

Ist das nicht schön? Das ist die reine Poesie. Erhaben. Ei­gentlich ist der Mond ja eine Sie. La Luna. Aber in unseren Breitengraden ist er in Gottesnamen halt ein Mann. Und jetzt – schauen Sie – jetzt legt sich die Goldstraße aufs Wasser. ­Be­trachten Sie die zitternden, diese sich fortlaufend verändernden Linien. Das ist göttliche Mathematik, finden sie nicht auch?

Tanner war überrascht. Er getraute sich aber nicht, sie erneut anzusehen.

Göttliche Mathematik?

Ja, betrachten Sie jetzt zum Beispiel auch die immer schärfer hervortretende Küstenlinie des Sees. Diese wellenförmig verlaufenden Linien. Das ist wie Kurven in der Mathematik. Wie die Kurven der Aktienbörse, Zufallskurven.

Sind Sie Mathematikerin?

Sie lachte.

Ich war Mathematiklehrerin, lange ist es her. Und heute beschäftige ich mich in den Morgenstunden mit Börsengeschäften, so ab vier Uhr, verstehen Sie. Wenn alle anderen noch schlafen, außer der weltweiten Börse – die ist quasi rund um die Uhr wach.

Und? Gewinnen Sie?

Sie drehte sich zu ihm.

Ja. Stellen Sie sich vor. Ich gewinne – und wie. Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Wovor sollte ich Angst haben?

Sie lachte ihr raues Lachen.

Und wenn ich gewonnen habe, schlafe ich selig wieder ein.

Und am Nachmittag? Was machen Sie da? Spielen Sie weiter?

Nein.

Sie stand mit einem Ruck auf.

Geben Sie mir ihre Hand.

Tanner stand auf und reichte ihr die Hand.

Sie sollen mir nicht Auf Wiedersehen sagen, sie sollen mich stützen, ich will ins Bett.

Tanner stützte sie. Sie hatte angenehme Hände. Zart geradezu, wenn man an ihre raue Stimme dachte.

Sie ging sehr bestimmt und fast leichtfüßig. Tanner fragte sich, warum sie seine Stütze brauchte.

Ich kriege manchmal Schwindelanfälle, die kommen leider ohne Ankündigung.

Konnte sie Gedanken lesen?

Sie waren jetzt bei ihrem großen Himmelbett angekommen.

Nehmen Sie meinen Morgenmantel.

Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er trat hinter sie und griff nach dem schweren Mantel an seinem umgelegten, weichen Kragen. Sie schlüpfte aus den Ärmeln. Sie stand wortlos da, als lauschte sie auf etwas. Dann streckte sie ihre schlanken Arme nach ihren Haaren aus.

Da Sie mich heute schon mal ohne meine Haare gesehen haben, spielt es jetzt auch keine Rolle mehr. Ich gebe Ihnen die Nadeln in die Hand.

Sie zupfte einige Nadeln aus dem Haar und nahm ihre voluminöse Haarpracht ab. Ihre blonden Haare waren also tatsächlich eine Perücke. Sie legte sie behutsam auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie hatte ein sehr zartes Nachtgewand an. Der Mond schien jetzt in das Zimmer, und so schimmerte sehr zart die Silhouette ihres Körpers durch den leichten Stoff. Der Stoff war kunstvoll und fein mit zarten Rosen bestickt. Es sah fast hochzeitlich aus. Ihr Körper wirkte wie Elfenbein. Er konnte nicht umhin, sie, die sich dem Fremden, so selbstverständlich präsentierte, anzustarren. Oder war ihr vielleicht die Wirkung des Mondlichts nicht klar?

Sie lachte ein raues Lachen.

Sie müssen sich nicht abwenden. Was gibt es für eine Frau Schöneres, Aufregenderes als der Blick eines Fremden? Dieser Blick wird durch kein Wissen, keine irgendwie gelagerte Vorgeschichte getrübt. Es gibt keine emotionale Verwicklung. Kei­ne Belastung. Es gibt nur das Staunen über die Schönheit ihres Körpers. Es ist quasi ein unschuldiger Blick, der sich einfach am Sehen erfreut. Und dann zum Begehren wird.

Sie gab ihm wieder ihre Hand.

Helfen Sie mir jetzt ins Bett.

Er legte sie ins Bett.

Meine schönsten sexuellen Erlebnisse waren die flüchtigen, mit Unbekannten. Im Zug, auf einem Schiff, im Gang eines Hotels. Sie verstehen. Kaum hat man eine sogenannte Beziehung, fängt das Gemurkse an. Und am Schluss bringt man sich gegenseitig um.

Sie lachte ausgiebig und streckte und dehnte sich.

Kennen Sie Pasolini? Den italienischen Filmer?

Tanner nickte.

Ich war immer begeistert von seinen Filmen. Von seinem Plädoyer für eine Art der kindlichen, unschuldigen Sexualität, die natürlich eine Illusion ist.

Sie lachte ihr raues Lachen und richtete sich auf.

Zünden Sie mir eine Zigarette an!

Da war er wieder, der Befehlston.

Und Ihr Husten?

Kaum hatte er das gesagt, bereute er es auch schon.

Sie winkte ab. Sie zeigte in Richtung Tisch.

Die Zigaretten liegen dort drüben.

Er ging zum Tisch, fand Zigaretten und Feuerzeug. Es war die stärkste Marke, die man rauchen konnte. Er steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie an. Er gab sie ihr in den Mund. Sie nahm einen tiefen Zug, legte ihren Kopf wieder zurück aufs Kopfkissen. Sie blies den Rauch gekonnt in Ringen gegen die Decke.

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen … ha, ha …

Rilke.

Sie schaute ihn überrascht an.

Ein Koch, der Rilke kennt.

Sie richtete sich auf und zeigte mit der Zigarette auf ihn.

Sie sind nicht das, was Sie vorgeben zu sein. Ich habe Sie durchschaut.

Wer ist schon das, was er vorgibt zu sein.

Ja, ja, bla, bla, bla …

Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Draußen hörte man ein Käuzchen rufen. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Ihre Brust hob und senkte sich.

Ich habe mein Leben lang geraucht. Die Leute – nicht nur die Jungen – denken immer, die Sexualität hört im Alter auf zu existieren. Sie denken, die schläft einfach ein oder nimmt ab wie das Gehör oder das Sehvermögen.

Sie gähnte.

Machen Sie die Zigarette für mich aus. Die hat mir jetzt geschmeckt wie lange keine mehr. Und daran sind Sie schuld. Mich zum Rauchen zu verleiten.

Er nahm die Zigarette und ging zum Aschenbecher.

Dort auf dem Tisch liegt ein längliches, ein weißes Lederetui. Sehen Sie es?

Er nickte.

Bringen Sie es mir bitte.

Er brachte es ihr. Sie öffnete den seitlichen Reißverschluss. Dann hielt sie inne und schaute ihn an.

Sie wissen, was das ist.

Ich ahne es.

Gut. Sie können jetzt gehen. Gute Nacht.

Das Letzte, woran Tanner dachte, bevor ihn der Schlaf übermannte, war eine Sequenz aus einer chinesischen Legende.

Ich zeige dir eine Falle, und du wirst hineinspringen.

Die Schneckeninsel

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