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Diagnose I

AKUTE AUSTROSKLEROSE

Mit der bloßen Zufuhr von Geld lässt sich die volkswirtschaftliche Erkrankung namens „institutionelle Sklerose“ nicht therapieren.

Die Lage stellt sich so dar: Wir haben die höchste Steuer- und Abgabenquote seit dem Zweiten Weltkrieg, die höchste Arbeitslosenzahl und die höchste Staatsverschuldung. Gleichzeitig eine weltweite Wirtschaftskrise – und keine handlungsfähige Regierung. Ein bisschen viel wirtschaftspolitisches Pech auf einmal.“ Dieses Statement klingt doch eigentlich recht aktuell, oder? Ist es aber nicht: Das Zitat stammt aus meiner wöchentlichen Kolumne „Bilanz“ in der Tageszeitung „Die Presse“. Erschienen ist dieser Beitrag am 8. November 2002.

Und weil wir gerade beim Zitieren sind, noch eine interessante Aussage: „Wir wissen, dass im Bereich von Klein- und Mittelbetrieben die meisten Arbeitsplätze geschaffen werden. Daher werden wir diesen Sektor sehr konzentriert unterstützen müssen: durch das Wegräumen unnötiger bürokratischer Hindernisse, aber auch durch andere Maßnahmen, etwa im Hinblick auf den Eigenkapitalsektor. So zum Beispiel ist uns die Reform der Gewerbeordnung ein besonders wichtiges Anliegen.“ Von wem stammen diese Sätze? Christian Kern? Reinhold Mitterlehner? Könnte sein, oder? Ist es aber nicht: Viktor Klima hat das laut stenografischem Protokoll des Nationalrats am 29. Jänner 1997 in seiner Regierungserklärung von sich gegeben.

Man sieht: Viel hat sich in diesem Land nicht geändert. Außer: Steuer- und Abgabenquote, Arbeitslosenzahl und Staatsverschuldung sind viel höher als damals. Ansonsten sind die aktuellen Probleme in den Sektoren Föderalismus, Verwaltung, Budget, Steuern, Gesundheit, Bildung, Pensionen, Förderungen etc. ziemlich alt. Auch die Diskussion darüber. Und die immer gleichen Argumente pro und contra um die genau genommen immer gleichen Reformvorschläge drehen sich seit dreißig, manche schon seit vierzig Jahren im Kreis. Diese Republik steht also still. Nicht erst seit gestern und nicht erst seit dem Start der aktuellen Regierung. Die drängenden Probleme harren seit Jahrzehnten einer Lösung.

Natürlich gibt es unter großem Reformgetöse immer wieder ein paar kosmetische Operationen: ein paar Bezirksgerichte zusammengelegt und als große Verwaltungsreform verkauft, eine bloße Teilrückvergütung der kalten Progression als größte Steuerreform aller Zeiten gefeiert, das strikteste Ladenschlussgesetz Europas um ein winziges Stück gelockert, mit einer kleinen Start-up-Förderung ein wenig Standortpflege betrieben. Aber der notwendige große Wurf, der das Land nach vorne treibt und wieder in seine angestammte Peergroup zurückbringt, blieb bisher aus. Auch bei den jüngsten größeren, durchaus ambitionierten Reformversuchen – Gewerbeordnung und Finanzausgleich mit den Ländern – ist die Regierung kläglich gescheitert. Die herrschenden Beharrungsstrukturen waren nicht zu überwinden. Kurzum: Der Patient siecht mangels brauchbarer Behandlung dahin und wird immer schwächer. Die Diagnose ist klar: eine spezielle Form der institutionellen Verhärtung, die als „Austrosklerose“ in den Sprachgebrauch der „Wirtschaftsmedizin“ eingegangen ist. Entdeckt und beschrieben wurde diese schwere volkswirtschaftliche Erkrankung erstmals vom amerikanischen Ökonomen Mancur Olson, der die Symptome in seinem 1965 erschienenen Werk „The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups“ beschrieb und das Krankheitsbild in seinem zweiten großen Werk „The Rise and Decline of Nations“ verfeinerte.

Gruppeninteressen vor Gesamtwohl

Das Krankheitsbild der institutionellen Sklerose, an der Österreich so offensichtlich leidet, ist also relativ gut erforscht. Es entsteht laut Olson dadurch, dass sich Interessenverbände (Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Länder, um ein paar zu nennen) durchsetzen, die naturgemäß in erster Linie Partikularinteressen (nämlich die ihrer Mitglieder) vertreten und das Gesamtwohl hintanstellen. Werden solche Institutionen in einer Gesellschaft zu stark, erlangen sie einen zu großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, dann gerät das Gesamtwohl ernsthaft in Gefahr. Diese Konstellation, eine Art politisches Marktversagen, führt in der Regel zu massiven Symptomen. Sie schränkt die Fähigkeit zu gesellschaftlichem Wandel ein. Der folgende Stillstand bremst die Produktivität und das Wirtschaftswachstum und führt in der Folge naturgemäß zu wirtschaftlichem Niedergang.

Mit der bloßen Zufuhr von Geld lässt sich diese volkswirtschaftliche Erkrankung nicht therapieren. Man kann das sehr schön an den zentralen österreichischen Daten ablesen, die zeigen, dass Verschuldung, Steuerlast und Arbeitslosenzahlen seit Langem parallel steigen, während das Wirtschaftswachstum immer schwächer wird. Bezogen auf das Wachstum wird der Mitteleinsatz also immer unwirtschaftlicher. Olson meint sogar, dass die bloße Zuführung von Geld ausgesprochen kontraproduktive Effekte zeitige: Je mehr Geld in schlechte Strukturen gepumpt wird, desto mehr verfestigen sich diese. Wirksam gegen diese institutionelle Sklerose sind nur strukturelle Reformen, die diese Blockadestrukturen aufbrechen. Womit wir beim Hauptproblem wären: Eine echte Reformpolitik muss sich zwangsweise gegen die strukturversteinernden Institutionen richten. Also gegen jene, die die politische Macht im Lande an sich gerissen haben – und die damit auch die personelle Auswahl der möglichen Reformer an der Regierungsspitze in der Hand haben. Das ist nicht nur eine Herkulesaufgabe. Es ist in normalen Zeiten schlicht unmöglich.

Nur in den seltensten Fällen gelingt das, bevor der außer Kontrolle geratene Karren an die Wand fährt. In Schweden zum Beispiel, wo in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts eine schwere Wirtschaftskrise die Regierung zu umfassenden Reformen gegen die auch dort starken Interessengruppen zwang. Eine Reform, von der Schweden noch heute zehrt: Es hat bei ähnlichen Basiswirtschaftsdaten wie Österreich heute nur eine halb so hohe Staatsverschuldung. Und damit viel Spielraum für Krisen. Oder in Deutschland, wo der Sozialdemokrat Gerhard Schröder zu Beginn der Nullerjahre seine „Agenda 2010“ und seine umstrittene „Hartz IV“-Reform durchzog. Reformen, von denen Deutschland noch heute zehrt und die das Land vom wirtschaftlich „kranken Mann Europas“ zur mit Abstand stärksten Wirtschaftsnation des Kontinents machte. Beide Fälle hatten eines gemein: Der wirtschaftliche Niedergang hatte in der Bevölkerung genug Leidensdruck aufgebaut. Ein Leidensdruck, der stärker war als die Partikularinteressen der Interessenverbände.

So weit sind wir in Österreich noch nicht, weshalb es aus parteipolitischer Sicht der Regierenden bisher auch wenig Anlass für wirklich große Reformen gegeben hat. Denn diese Republik steht zwar still. Angesichts der enormen Wirtschaftskraft des Landes tut sie das aber auf sehr hohem Niveau. Der Einzelne merkt also noch nicht oder, besser gesagt, noch nicht stark genug, dass die Basis des Wohlstands im Hintergrund immer stärker erodiert. Gut, die Arbeitslosenrate steigt, die Reallöhne sinken, vor allem in den unteren Segmenten, seit vielen Jahren, das Wirtschaftswachstum blieb in den vergangenen Jahren deutlich hinter dem anderer Euroländer zurück. Aber es tut noch nicht wirklich weh.

Zumal Österreich ja Umverteilungs-Vizeweltmeister ist und damit individuelle Stillstandsverlierer relativ gut abfedert. Deshalb geht eine bedenkliche Entwicklung in der Öffentlichkeit ziemlich unter: Österreich wurde, wie schon erwähnt, in den vergangenen Jahren in internationalen Standortrankings in atemberaubendem Tempo nach unten durchgereicht. 2016 hat es zwar eine kleine Atempause gegeben. Da hat sich das Land im Ranking des „World Economic Forum“ leicht vom 23. auf den 19. Platz vorgearbeitet und in der Rangliste der renommierten Schweizer Wirtschaftshochschule IMD von Platz 26 auf Platz 24 verbessert. Aber: 2010 war das Land von IMD in Sachen Wettbewerbsfähigkeit noch auf Platz 14 eingestuft worden. Da liegen schon Welten dazwischen. Und: Vergleichbare europäische Länder liegen unter den Top Ten. Rang 24 bei der Wettbewerbsfähigkeit entspricht jedenfalls keineswegs dem Status des Landes als Mitglied der Spitzengruppe der Industrieländer. Wenn wir so weitermachen, wird dieser Status also bald Geschichte sein.

Besonders schlecht liegen wir in allen Rankings in den Bereichen „Regierung“, „Verwaltung“ und „Fiskalpolitik“. Was genau genommen kein Wunder ist: Österreich ist nämlich, das steht fest, ein sehr gut verwaltetes Land. Aber auch ein sehr heftig verwaltetes. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße haben wir fast doppelt so viele Verwaltungsbeamte wie die Schweiz und um gut 50 Prozent mehr als Deutschland. Beides Länder, denen man nicht nachsagen kann, schlecht verwaltet zu werden. Im Prinzip haben wir nach dem Fall der k. u. k. Monarchie die Verwaltungsstrukturen einer Großmacht in einen Kleinstaat herübergerettet.

Bürokratien tendieren dazu, ein Eigenleben zu entwickeln. Je größer, umso mehr. Das wird von so gut wie allen Unternehmen als einer der größeren Hemmschuhe für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen. Eine umfassende Aufgabenreform der Verwaltung ist ebenso wie ein umfassender Umbau des heimischen Föderalismus eine der Grundvoraussetzungen, um mit der Therapie der Austrosklerose überhaupt erst beginnen zu können.

Ist Österreich „abgesandelt“?

Das sehen interessanterweise auch viele der Spitzenproponenten der sklerotischen Organisationen so. Der Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, hatte etwa 2015 beim „Europäischen Forum Alpbach“ für Schlagzeilen gesorgt, als er Österreich als „abgesandelt“ bezeichnet hatte. Ein paar Monate später legte der oberste Wirtschaftskämmerer in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“ noch einmal ein kräftiges Schäuferl nach, als er der Regierung ausrichtete, sie „verwurstle“ gerade die Zukunft. Leitl damals: Er wolle sich später nicht nachsagen lassen, vor Fehlentwicklungen nicht eindringlich genug gewarnt zu haben. Man kann also nicht sagen, das Problem sei in den Chefetagen nicht bewusst. Aber wenn es darauf ankommt, sind eben die Beharrungskräfte in den Institutionen stärker. Man hat das sehr schön bei der missglückten Reform der zu zwangsjackenhaft angelegten Gewerbeordnung im Herbst 2016 gesehen. Bundeskanzler Christian Kern von der SPÖ hatte sich eine Reduzierung der gebundenen Gewerbe von 80 auf 40 vorgestellt. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner von der ÖVP – vor seiner Regierungstätigkeit selbst Mitglied der Chefetage der Wirtschaftskammer – hatte eine Reduktion der zahlreichen Nebengewerbe auf einen einzigen Gewerbeschein im Sinn. Nach umfassenden Verhandlungen mit den Sozialpartnern, die von Vertretern der Regierungsparteien dominiert werden, lag die Zahl der gebundenen Gewerbe um eines höher als zuvor. Und ein, sagen wir, Hotelier, der auch Frühstück anbietet, Ausflüge organisiert und seine Gäste mit dem Auto vom Bahnhof abholt, benötigt weiter einen ganzen Schüppel an Gewerbescheinen – und muss entsprechend häufig Kammerumlage bezahlen. Ohne jetzt auf Sinn oder Unsinn der gewerblichen Zunftstrukturen einzugehen: Hier hat die Regierung vor den Institutionen einen vollen Bauchfleck hingelegt. Austrosklerose, wie sie leibt und lebt.

Diese Erstarrung ist natürlich auch international nicht unbeobachtet geblieben. Die Industriestaaten-Organisation OECD beispielsweise hat Österreich in ihrem jüngsten Länderbericht ordentlich die Leviten gelesen. Auch was die Gewerberegulierung betrifft. Zu starre Strukturen und zu strenge Regulierung würden Wettbewerb behindern, die Wirtschaft bremsen, die Inflation hochtreiben und die Kostenposition des Landes verschlechtern. Das gelte besonders für unternehmensnahe Dienstleistungen wie etwa IT-Services. Hier bedroht zu strenge Regulierung die Zukunftsfähigkeit des Landes.

Wie das im Endeffekt aussehen kann, zeigt ein ausreichend abschreckendes Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft: Italien hat die institutionelle Sklerose schon früher als Österreich unbehandelt eskalieren lassen. Die Folgen waren ein äußert anämisches Wirtschaftswachstum, extrem hohe Staatsverschuldung, der Niedergang der Industrie in Norditalien. Heute zittert ganz Europa vor einem Italien-Crash, der die gesamte Eurozone mitreißen könnte. Reformen gibt es noch immer nicht. Ein abschreckendes Beispiel, das uns krass vor Augen führt, dass Reformunlust der gerade Weg in den drohenden Staatsbankrott ist. So weit sollten wir es hierzulande nicht kommen lassen.

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