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Kapitel 4

Marvin 03.09.

Am nächsten Morgen verwendete er sehr viel Sorgfalt auf die Veränderung seines Aussehens. Er setzte braune Kontaktlinsen ein, klebte sich einen dieser merkwürdigen Hipsterbärte an und verbarg seine Locken unter einer Perücke. Er hatte sie aus europäischem Echthaar von einer führenden Perückenmacherin aus Berlin auf Maß anfertigen lassen. Sie täuschte perfekt die eigene Haarpracht vor. Er hatte eine ausgewählt mit kräftigem dunkelblondem Haar, das links gescheitelt und in einem kühnen Bogen über rechts zurückgeföhnt war.

Er trug ein legeres Studentenoutfit, Jeans und Shirt, darüber ein Hemd von Levis. Einen billigen Rucksack hatte er mehrere Tage auf seinem Boot in der Sonne liegen lassen, ihn öfter zusammengequetscht, über den Boden geschleift und ein wenig mit Kaffee bekleckert. Jetzt sah er genau richtig abgegriffen aus. Er warf ihn mit Schwung über seine Schulter. Nun fehlte nur noch der Button des Kandidaten. Wohin damit? Ah ja, hier gehört er hin, hier, über dem Herzen. Wenn das nicht nach riesiger Sympathie aussah!

Er betrachtete sich im Spiegel und war sehr zufrieden mit seinem Aussehen als fleißiger Wahlkampfhelfer für den Bürgermeisterkandidaten Thomas Foulder.

Zeit zu gehen. Er fuhr mit dem Auto in Richtung Convention Center und parkte vorsichtshalber zwei Blocks davon entfernt auf einem öffentlichen Parkplatz.

In der Abgeschiedenheit des Fahrzeugs verharrte er einen Moment. Ein letztes Zögern. Er war sich bewusst, dass er in diesem Augenblick an einem Scheideweg stand. Wenn er jetzt weitermachte, gab es kein Zurück mehr. Wollte er wirklich riskieren, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen, nur um sich für etwas zu rächen, das viele Jahre zurücklag? Klar, seine Pläne für jeden Einzelnen schienen wasserdicht zu sein. Dass er erwischt wurde, war nicht vorgesehen. Aber war er sicher, dass er nichts übersehen hatte? Der Teufel steckt immer im Detail und er hatte nur einen einzigen Versuch. Die Kriminalen dagegen trainieren jeden Tag aufs Neue, auch die unscheinbarsten Hinweise zu finden und verborgene Spuren zu entdecken.

Andererseits waren die Würfel doch schon längst gefallen. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er jede wichtige Weichenstellung in seinem Leben so weit wie möglich dem Ziel untergeordnet, seine Peiniger zu vernichten. Jetzt war es endlich so weit und er wird nicht zögern, seine Rache zu vollenden.

Sein Feldzug startet jetzt und hier.

Er überprüfte noch einmal sein Aussehen, hängte die Lachklammern ein, nahm seinen Rucksack, verriegelte sein Auto und verließ den Parkplatz.

In knapp zehn Minuten erreichte er den Eingang des Convention Centers. Hier findet morgen Abend in einem der sogenannten Ballsäle der krönende Abschluss des monatelangen Stimmenfangs statt. Die Gäste waren sorgfältig ausgewählt. Über ihre Einladung entschied allein ihre Nützlichkeit für Thomas. Die Eingeladenen kamen nur allzu gern, schließlich zahlte es sich für sie aus, zum engeren Kreis des zukünftigen Bürgermeisters zu gehören. Wer hier nicht dabei war, gehörte in San Diego nicht dazu.

Die Vorbereitungen für diese glanzvolle Festlichkeit liefen schon seit Tagen auf Hochtouren.

Das Wahlkampfteam hatte auf dem gleichen Flur seine Zentrale.

Die steuerte er zügig an. Ohne einen Blick für die Schönheit seiner Umgebung, eilte er mit Riesenschritten darauf zu und öffnete mit klopfendem Herzen, aber schwungvoll die Tür.

Unmittelbar neben dem Eingang stand rechts ein Tisch, an dem eine junge Frau jeden in Empfang nahm, der den Raum betreten wollte.

„Hallo, ich bin Amelie und wer bist du?“

„Ich bin Thomas Bolder und komme von der Uni. Hier ist mein Studentenausweis. Ich hatte mich vor einiger Zeit als Helfer registrieren lassen und jetzt hat mich jemand angerufen und mir gesagt, dass ich mich heute hier melden soll.“ Während er sprach, kramte er in seinem Rucksack und fischte eine laminierte Karte heraus. Das war sein gefälschter Studentenausweis. Aus dem Computer der Studentenverwaltung hatte er die Vorlage heruntergeladen und sich einen gebastelt. Er hielt jeder normalen Überprüfung stand.

Genau wie sein Name in der Liste mit den eingetragenen und überprüften Wahlkampfhelfern, die Amelie jetzt öffnete. Sie scrollte durch, fand ihn erwartungsgemäß und setzte einen Haken in das Kästchen vor seinem Namen. Auf den Ausweis, den er ihr hinhielt, warf sie nur einen flüchtigen Blick. Dann sah sie hoch und lächelte ihn an.

„Super, dass du da bist, Thomas! Du siehst ja selbst, was hier los ist. Melde dich hinten in der letzten rechten Koje. Da sitzt der Boss. Da erfährst du, was du zu tun hast. Bis später.“

Er nickte und trollte sich. Suchend schaute er sich um. Der Raum war riesig, gute siebzehn Meter lang und etwa neun Meter breit. Auf jeder Seite hatte man mit Stellwänden fünf Kabinen abgetrennt, um etwas Struktur hineinzubringen und die Übersicht zu behalten. Viel wurde allerdings damit nicht erreicht. Überall herrschte ein scheinbar unkontrolliertes Durcheinander. Telefone klingelten unentwegt, Drucker spuckten lange Papierkolonnen aus, ständig liefen Mitarbeiter mit Papieren in der Hand umher und standen sich dabei selbst im Weg.

Das gefiel ihm. In diesem Gewimmel war er einer von vielen und wurde Teil des gesichtslosen Ameisenhaufens, der sich Wahlkampfteam von Thomas Foulder nannte.

Auftragsgemäß meldete er sich in der letzten Koje. „Hi, ich bin Thomas. Was soll ich heute machen?“

Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau in den besten Jahren. Unverkennbar der Boss. Etwa in seinem Alter, gut aussehend, dezentes Make-up. Sie trug ein perlgraues Kostüm mit einer fliederfarbenen Seidenbluse. Beides stand ihr ausgezeichnet.

Sie sah hoch und lächelte. Prüfend glitt ihr Blick über ihn hinweg.

„Kannst du E-Mails beantworten? Damit meine ich, bist du firm in Rechtschreibung und Grammatik und kannst du dich vernünftig und klar ausdrücken?“

„Ja, Ma’am, ich denke schon. Meine Tutoren sind jedenfalls immer zufrieden mit mir. Was soll ich denn machen?“

„Ma’am? Ich bin Lisa. Du meldest dich im Medienraum. Der ist gleich hier nebenan. Geh wieder auf den Flur und nimm die erste Tür auf der rechten Seite. Melde dich dort bei Sven. Warte, ich gebe dir einen Zettel mit.“ Sie griff nach einem kleinen Notizblock, kritzelte etwas darauf, riss das Blatt ab und gab es Thomas. „Hier, damit lassen sie dich rein.“

Er bedankte sich, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.

Im Flur lehnte er sich an die Wand und atmete tief durch. Das lief ja wie geschmiert! Warum auch nicht. Schließlich hatte er seinen Auftritt akribisch vorbereitet. Er stieß sich von der Wand ab, wandte sich nach rechts und klopfte kräftig an die Tür. Es dauerte einen Moment, bis sie geöffnet wurde. Ein junger Mann stand vor ihm.

„Wer bist du?“

„Ich bin Thomas. Bist du Sven? Ich soll mich hier melden und E-Mails bearbeiten. Hier ist eine Nachricht von Lisa für dich.“ Er übergab ihm den Zettel.

Sven warf einen kurzen Blick darauf, dann trat er von der Tür zurück und ließ ihn eintreten.

„Super, wir können jede Hand brauchen. Du siehst ja selbst, was hier los ist.“

Thomas nickte und sah sich um. Der Raum war etwa gleich groß wie der nebenan. Im Gegensatz zu dem Gewusel dort, herrschte hier eine geradezu himmlische Ruhe. Man hörte lediglich das typische Geräusch der Tastatur, wenn geübte Hände darauf im Stakkato tippten. Auch dieser Raum war in Kabinen abgeteilt. Die hinteren beiden auf jeder Seite waren mit einer Tür verschlossen, die ersten drei nach vorn offen. Hier waren die Tische mit den Laptops untergebracht, an denen die Wahlkampfhelfer eifrig E-Mails beantworteten. Offenbar riss der Strom der Nachrichten gar nicht ab, denn sie tippten, ohne hochzusehen.

Sven nahm ihn mit in die erste Kabine auf der rechten Seite, fuhr das Notebook hoch und wies ihn in seine Aufgabe ein.

„Für alle Mails, die in irgendeiner Form Glückwünsche, Zustimmung, Begeisterung oder Ähnliches ausdrücken, haben wir Standard-Antworten, die findest du hier. Wenn etwas Außergewöhnliches kommt oder jemand eine Spende machen will, dann leitest du die Mail an mich weiter. Ich übernehme dann. Hier sind die E-Mails, die wir selber an unsere Unterstützer täglich und manchmal stündlich herausschicken. Die werden ständig aktualisiert und ich bringe dir die neuen Texte, die du einarbeiten musst. Damit fängst du an.“

Er zeigte ihm, um welche Nachrichten es sich handelte und gab Thomas den passenden Text in die Hand. „Noch Fragen?“

„Nein, erst mal nicht. Höchstens nur noch eine. Ich will ja nicht neugierig sein, aber warum sind die Türen dahinten verschlossen?“

„Dort wird mit unseren Unterstützern telefoniert. Du kannst dir denken, dass hier kein Mensch bei offenen Türen arbeiten könnte. Und übrigens, an der Stirnseite findest du eine Kaffeemaschine, Teebeutel, kalte Getränke und etwas zu essen. Bediene dich selbst. Wir machen keine Pausen, jeder nimmt sich etwas, wenn er Hunger hat, und geht an seinem Platz zurück. Alles andere würde nur den Arbeitsfluss stören.“

„Ach so. Alles klar. Dann will ich mal anfangen. Drück mir die Daumen, dass alles gut geht.“ Er setzte sich das Headset auf und klickte seine erste Mail an.

Er hatte alle Hände voll zu tun. Es war später Abend, als er in seine Villa zurückkehrte.

Was für ein Tag! Das Leben als Wahlkampfhelfer war wahrlich kein Zuckerschlecken. Wie gut, dass er das Vergnügen nur für diese beiden Tage hatte.

Als er endlich geduscht hatte und mit einer kalten Cola in einem bequemen Sessel saß, wollte er sich eine halbe Stunde Pause mit seinem Lieblingsspiel auf dem Laptop gönnen. Aber die richtige Konzentration stellte sich nicht ein und er gab genervt auf. Die Situation war nicht dazu angetan, irgendwelchen Spielchen zu frönen. Es war vielmehr Zeit, sich auf morgen vorzubereiten.

Marvin holte sein Thomas-Foulder-Notebook aus dem Tresor, klappte es auf und fuhr es hoch. Er gab einige Tastaturbefehle ein und im aufgehenden Fenster wurde ihm mitgeteilt, dass er sich jetzt auf dem persönlichen Server von Thomas Foulder befindet. Er hatte sich schon vor Monaten in das System eingehackt. Das war wesentlich einfacher, als er es sich vorgestellt hatte. Als IT-Spezialisten irritierte es ihn immer wieder, dass die Sicherheitsvorkehrungen für sensible Netzwerke derartig leicht zu knacken waren. Na gut, nicht sein Problem.

„Dann wollen wir doch mal sehen, auf welchem Notebook du deine Rede und die Präsentation untergebracht hast.“ In aller Ruhe durchstöberte er die im Netzwerk angemeldeten Laptops. Er fand das Gesuchte auf dem Dienstlichen von Sven, dem Chef der Medienabteilung. Das hatte er schon fast vermutet. Schließlich hatte Marvin die Entstehungsgeschichte des Manuskripts wochenlang miterlebt. Morgen, wenn Foulder auf der Bühne seine Rede vom Blatt las, musste jemand dafür sorgen, dass die Bilder der Präsentation zum richtigen Zeitpunkt auf dem riesigen Bildschirm hinter ihm erscheinen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe würde Sven freiwillig keinem anderen überlassen.

Eine Entscheidung ist zu treffen. Wollte er von hier, von seinem sicheren Standort, seinen kleinen Einspieler starten oder wollte er dabei sein, wenn das Drama begann? Diese Frage war allerdings rhetorisch. Natürlich wollte er dabei sein und das ganze Desaster live erleben. Wozu hätte er sich sonst in das Wahlkampfteam eingeschlichen. Niemand würde merken, dass er mit seinem harmlosen Surface kurzzeitig die Kontrolle über Svens Notebook übernommen und ihm die entzückenden Aufnahmen untergejubelt hatte.

Sorgfältig überprüfte er den Ordner mit den Bildern. Alles war an Ort und Stelle. Er verstaute den Laptop in seinem Rucksack. Zur Sicherheit legte er den USB Stick dazu. Er wusste, dass er den Stick nicht brauchen würde, aber er fühlte sich einfach besser, wenn er im entscheidenden Moment doppelt gerüstet war. Man stelle sich nur mal vor, dass nach den jahrelangen Planungen plötzlich irgendetwas nicht funktioniert. Ein Albtraum!

Mit einem kritischen Blick musterte er noch einmal seine Vorbereitungen für morgen. Alles war an seinem Platz, alles war, wie es sein sollte. Er nickte zufrieden, begab ins Schlafzimmer und legte sich hin. In wenigen Minuten war er eingeschlafen.

Eiskalte Vergeltung

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