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Kapitel 6

Marvin und Thomas Foulder Nacht vom 04.09. auf den 05.09.

Der falsche Wahlkampfhelfer Thomas Bolder hatte im Schutz seiner Kollegen das Haus verlassen. Draußen verabschiedete er sich von allen freundlich und stakste allein weiter in Richtung seines Parkplatzes.

Er war bis zu den Ohren mit Glückshormonen geflutet. Er wollte schreien, springen, Rad schlagen und unterdrückte mit aller Kraft diese verräterischen Zeichen. Man wusste nie, von wem man beobachtet wurde. Schon hinter der Bühne hatte er eine Meisterleistung in Betroffenheitsmimik vollbracht. Bis zu seinem Auto hielt er das noch durch.

Endlich war er da. Er funkte den Wagen an, öffnete die Tür und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Er schwang beide Arme auf das Lenkrad und ließ seinen Kopf darauf fallen. Seine Schultern bebten vor fast schon hysterischem Gelächter.

Als er wieder Luft bekam, flüsterte er: „Na, Thomas Foulder, wie fühlt sich das an? Grauenhaft fühlt sich das an, nicht wahr? Tja, so schmeckt das, wenn man hilflos einem miesen Arschloch ausgeliefert ist. Wenn du mich fragst, ich finde alles super. Das war heute das Beste, was mir seit langer Zeit passiert ist. Ich bin so happy, ich krieg mich gar nicht wieder ein. Was machst du gerade? Aber, warum frage ich, ich sehe es doch gleich selbst. Bis dahin.“

Er rutschte auf den Beifahrersitz und holte seine Reisetasche nach vorn. Darin steckten sein Maßanzug von Armani in einem gedeckten Dunkelgrau und eine dazu passende taubenblaue Krawatte auf einem schneeweißen Hemd. Er legte alles auf dem Fahrersitz zurecht. Das Hemd deponierte er zusammen mit der Krawatte sorgfältig auf der Rückenlehne, die Hose zusammengeklappt auf dem Sitz. Er zog die Nikes aus und schälte sich geschickt aus seinen Jeans. Dann schlängelte er sich in seine Anzughose.

Unter den Sitz zog er ein Paar schwarze Schuhe aus feinem italienischen Leder hervor. Er ließ sie in Mailand bei einem Meister seines Fachs anfertigen. Er schlüpfte hinein und genoss das Gefühl vollendeter Harmonie zwischen Fuß und Schuh.

Nun zog er achtlos sein Shirt über den Kopf, rollte es zusammen und stopfte es in die Reisetasche, in der schon die Jeans und Nikes verstaut waren.

Er nahm das Hemd von der Lehne und knöpfte es auf. Dabei achtete er peinlich darauf, die vordere Seite nicht zu verknittern. Es war ein bisschen unbequem, aus dieser Position heraus in die Ärmel zu schlüpfen, aber mit ein paar schlängelnden Bewegungen gelang ihm auch das. Nun fehlte nur noch die Krawatte. Ohne in den Spiegel der Sonnenschutzblende zu schauen, band er einen perfekten Knoten und schob ihn in die richtige Position. Er lächelte innerlich, als er daran dachte, wie oft seine Kinderfrau mit ihm geübt hatte, bis er es ohne Spiegel konnte. Er wollte sie immer dazu bringen, die Krawatte mit Knoten in den Schrank zu hängen. Sie hielt jedoch nichts davon und konnte sehr böse werden, wenn er es heimlich versuchte.

Fertig. Perücke und Bart behielt er noch an. Schließlich wollte er Thomas Foulder überraschen. Außerdem wusste man nie, ob nicht doch irgendein schlafloser Mitmensch am Fenster stand und nichts Besseres zu tun hatte, als ahnungslose Autofahrer zu beobachten. Mit diesem Gemüse im Gesicht konnte ihn niemand ausreichend beschreiben.

Marvin alias Thomas rutschte wieder auf den Fahrersitz, startete den Motor und gab Gas. Er ist immer ein möglichst korrekter Fahrer und heute achtete er besonders darauf, störungsfrei das Haus von Thomas Foulder zu erreichen.

Er fuhr los in Richtung Harbor Drive. Bog ein paar Mal links und rechts ab und folgte schließlich der I-5, bis er sie an der Ausfahrt 24 verließ und über die Torry Pines Road und den Hillside Drive die Soledad Avenue erreichte. Der Verkehr war mäßig und er brauchte knapp dreißig Minuten bis zu seinem Ziel.

Als wäre er hier zu Hause, bog er schwungvoll in die offene Einfahrt zur Tiefgarage ein und stellte seinen Chrysler auf den Platz, den sonst der Mercedes der Hausfrau einnahm. Er musste keine Entdeckung fürchten, denn Mrs. Foulder war nach dem Skandal zu ihrer Schwester gefahren, wie er am Standort ihres Smartphones erkannte. Als liebevolle Tante hatte diese heute, wie schon oft bei beruflichen Verpflichtungen des Ehepaares, auf die beiden Kinder aufgepasst und würde jetzt ihre verzweifelte Schwester trösten. Thomas Foulder selbst wurde im Dienstwagen von seinen Bodyguards hierhergebracht. Sie würden ihn abladen und dann weiterfahren. Es war ihre letzte Fuhre mit diesem Kandidaten. Alles Weitere ging sie nichts mehr an.

Marvin holte aus seiner Reisetasche eine Mini-Taschenlampe und eine Rolle Nylonschnur und steckte beides in die Tasche seiner Jacke. Nachdem er das Gepäckstück unter dem Sitz verstaut hatte, stieg er aus, verschloss den Wagen und huschte zu einem kleinen Lift. Der bot die einzige Möglichkeit, das Haus von der Tiefgarage aus zu betreten und war entsprechend alarmgesichert. Zügig tippte er den Code ein, betrat die kleine Kabine, drückte den Knopf und fuhr nach oben.

Er landete in der geräumigen Diele. Er konnte nicht widerstehen und stellte sich als erstes an das umlaufende Panoramafenster. Am Tage hatte man hier eine überwältigende Sicht auf die La Jolla Bay. Erst die Steilküste, die rechter Hand weit ins Meer hinausragte, begrenzte den Blick. Ein grandioses Schauspiel bot sich aber auch am Abend. Wie Perlen säumten die Lichter der Straßen und Häuser die Uferzone, geradezu märchenhaft.

Das Haus selbst gefiel ihm. Es war in den Hang gebaut, thronte hoch über der Torry Pines Road und hatte aus mehreren Räumen diese fantastische Aussicht auf das Meer. Seine hellblaue Farbe harmonierte perfekt mit der weißen, nur von wenigen beigen und goldenen Akzenten unterbrochenen Einrichtung. Im Wohnzimmer schmückten Gemälde in blauem Grundton die weißen Wände. Am Fuße einiger Statuen und Statuetten aus weißem Marmor bildeten blaue Blumen einen reizvollen Kontrast. Es sah alles sehr edel und sehr, sehr teuer aus.

Inzwischen hatte er das Arbeitszimmer erreicht. Er öffnete die schwere Eichentür, trat ein, zog sie wieder hinter sich zu bis auf einen kleinen Spalt. Schließlich wollte er den Kandidaten überraschen und nicht umgekehrt.

Er kannte diesen Raum von zahlreichen Besuchen mit der Webcam. Der Kandidat hatte die Angewohnheit, beim Telefonieren im Zimmer umherzuwandern. Marvin, vor seinem Laptop, hatte über die Kamera des Smartphones einen ungehinderten Blick auf die Einrichtung.

Der Raum war eine Komposition aus dunkler Eiche und dunkelbraunem Leder. In einem Kamin prasselte ständig ein Gasfeuer hinter dickem Glas. Die zuckenden Flammen warfen einen warmen Schein auf den hochflorigen weinroten Teppich. Zwei schwere Sessel, reich verziert mit Schnitzereien, standen links und rechts davon. Sie waren überaus üppig mit Kissen und Decken beladen. Dazwischen ein Tisch mit Löwenbeinen und einer Platte aus poliertem Marmor. Dienstbare Geister hatten darauf Kristallgläser verschiedener Größe sowie einige Schalen mit Gebäck und Knabbereien platziert. Alles lud ein zu einem ruhigen und gemütlichen Abschluss eines hektischen Tages. Vielleicht wollte Thomas Foulder heute Nacht hier ganz für sich seinen Sieg auskosten. Als Sohn eines Aufsteigers, der sein Vermögen in Müll gemacht hatte, wurde er von dem alten Geld nicht als ebenbürtig akzeptiert. Als Bürgermeister wäre er endlich in der Gesellschaft angekommen.

Der wuchtige Schreibtisch des Kandidaten befand sich in einem Alkoven. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes gab es eine ähnliche Nische. Darin stand ein lederbezogener Sessel mit einer bequemen Fußbank davor. Dort würde er Platz nehmen. In dieser Wandvertiefung wurde man nur dann sofort gesehen, wenn die Stehlampe angeschaltet war. Das hatte Marvin nicht vor. Er würde sein Licht erst leuchten lassen, wenn es so weit war.

Der flackernde Kamin spendete genügend Helligkeit, um zügig das Zimmer durchqueren zu können. Marvin eilte zielsicher auf ein Bild zu, das rechts vom Schreibtisch des Hausherrn an der Wand hing. Es ist eine gelungene Reproduktion der „Landschaft mit Gebäuden“ von Rembrandt, dessen Original im Louvre in Paris hängt. Er tastete nach dem verborgenen Schalter im unteren Rand des Rahmens, zog leicht an der Feder und klappte das Bild zur Seite. Der Tresor erschien, dessen Kombination Marvin von seinen virtuellen Besuchen bestens vertraut war. Er schaltete seine Stifttaschenlampe an und tippte den Code ohne zu zögern ein. Er öffnete die Tür, griff hinein, nahm ein schweres, schwarzes Etui aus genarbtem, kräftigem Leder an sich und schob es in die Brusttasche seines Jacketts.

Er hatte, was er brauchte. Er verschloss alles wieder sorgfältig und verdrückte sich umgehend in seine Nische. Dort versank er tief in den samtweichen Lederpolstern, stopfte sich eins der Seidenkissen unter den Kopf und fasste sich in Geduld.

*

Nach einer halben Stunde wurde Marvin aus seinen Wachträumen gerissen. Man hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und kurz darauf mit einem lauten Knall ins Schloss krachte. Marvin lächelte süffisant. Da war doch nicht etwa jemand übel gelaunt und tobte sich an der Tür aus? Jetzt hörte man die schweren Schritte, mit denen Thomas die Treppe erklomm. Er stampfte mit jedem Fuß kräftig auf wie ein wütendes Kind und schrie dazu unverständliche Worte, die in ein hysterisches Gelächter übergingen.

Marvin beugte sich vor, um besser orten zu können, in welche Richtung sich die Schritte bewegten. Sie entfernten sich von ihm. Offenbar zog es den Kandidaten zuerst in sein Schlafzimmer.

Es dauerte nicht lange und sie kamen zurück. Diesmal steuerte Thomas Foulder sein Arbeitszimmer an.

Die Tür öffnete sich und mit hängenden Schultern betrat der Kandidat den Raum. Ohne das Licht anzuschalten, tappte er leicht schwankend im flackernden Schein des Kamins zu seinem Schreibtisch. Er stützte sich mit einer Hand ab, während er ihn umrundete. Mit beiden Händen hielt er sich an der Tischplatte fest und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er sank in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Sein Kopf fiel auf die Brust und er weinte wie ein Kind.

Marvin war schon ein wenig erschüttert über das Ausmaß an seelischem Schmerz, das er seinem Widersacher zugefügt hatte. Fast wollte Mitleid in ihm aufkommen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass dieser Mann, der jetzt so verzweifelt weinte, sich seinerzeit nicht erbarmt hatte, als er genauso verzweifelt um Schonung gebettelt hatte.

Endlich richtete sich Thomas Foulder wieder auf. Er wischte die Tränen ab, putzte die Nase und drückte das Kreuz durch. Genug gelitten.

„Ich muss unbedingt rauskriegen, welcher Sauhund das war. Wen habe ich so angepisst, dass er mich fertigmachen will?“

Er murmelte so leise, dass Marvin Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen.

„Das kann nur eine Gemeinheit von diesem schwulen Arschloch sein, das mir meinen Posten abjagen will. Wer sonst wäre so fies, mir diese Schweinerei mit einem Kind unterzujubeln.“

Seine Stimme wurde lauter.

„Klar, Ed wäre auch eine Möglichkeit. In der Partei quatschen sie schon lange darüber, dass er scharf auf meinen Posten ist. Schließlich hat er ja extra meine Sekretärin gebumst, nur um sie auszuquetschen. Und die blöde Pute hat natürlich nichts mitgekriegt. Hat doch wirklich geglaubt, dass er scharf sei auf ihren dicken Arsch. Ich hab aber auch Trottel um mich herum! Es war ohnehin schon ein Wunder, dass ich mit diesen Typen bis ganz nach oben gekommen bin. Na ja, ich bin eben gut. Hab sie alle überstrahlt.“ Er lachte freudlos. „Konnte wahrscheinlich besser lügen als alle anderen zusammen. Ist auch eine Kunst, die nicht jeder beherrscht.“

Er stand auf und schleppte sich zum Fenster. Das Lichtermeer, das sich verschwenderisch vor ihm ausbreitete, konnte ihn heute nicht in seinen Bann ziehen.

Thomas Foulder sah nur den Abgrund, auf den er unweigerlich zuraste und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen freien Fall aufzuhalten. Er hatte so vieles geopfert. Seine Jugendliebe war auf der Strecke geblieben, weil er ja unbedingt in die einflussreiche Familie dieser Schickse einheiraten musste. Ärsche über Ärsche hatte er geküsst! Sich selbst verleugnet, damit er ja mit der herrschenden Meinung seiner Oberen konform ging. Und das soll jetzt alles umsonst gewesen sein?

„Wer hasst mich so glühend, dass er mich so mit Scheiße bewerfen musste? Wenn es wenigstens noch wahr wäre! Dann würde ich sagen, na gut, hast mich erwischt. Es ist so und ich kann nichts dafür, was soll‘s.

Aber so etwas zu erfinden und solche Bilder zu fabrizieren, das ist so abgrundtief bösartig. Der Teufel selbst könnte nichts Gemeineres ausbrüten.

Klar, ich bin zu den Nutten gegangen wie viele meiner Kollegen. Es konnte auch schon mal grob werden. Hat den Nutten nicht geschadet, gab auch gutes Extra-Geld dafür. Ich brauche eben manchmal einfach ein bisschen Freiraum, um mich mal wieder gründlich auszutoben. Dafür sind die Bordsteinschwalben schließlich da. Tut doch niemandem weh. Wenn ich nach Hause komme, bin ich immer noch derselbe Prolet für die liebe Gattin wie vorher.

Aber Kinder? Was soll ich denn mit einem Kind? Ich will dicke Titten und eine heiße Möse, die schön rutscht. Nichts Spektakuläres, höchstens mal einen Schlag auf den geilen Arsch. Bin eben ein null-acht-fuffzehn-Ficker, wie meine Teuerste zu sagen pflegt.

Vielleicht einer von dem ganzen Gesocks um mich herum? Nee, von denen war das keiner. Wir kennen uns alle seit Jahren. Ich habe ein paar Leichen im Keller, die haben ein paar Leichen im Keller. Ich weiß es, die wissen es und alle halten die Schnauze. Jeder hält sich daran. Der Mantel des Schweigens bleibt fest zugeknöpft. Wie sollte man denn sonst noch jemand finden, der sauber genug ist für irgendeinen Posten? Ist ja alles nichts wirklich Kriminelles, höchstens ein wenig.“ Wieder ein freudloses Lachen.

„Es ist aber auch wirklich zum Kotzen! Alles war perfekt. Ich wäre sicherlich auch kein schlechterer Bürgermeister geworden als alle anderen vor mir. Der Platz im Rathaus war schon für mich angewärmt und da kommt so ein Arschloch daher und haut mir derartig die Beine weg. Ich kann es immer noch nicht fassen, was da heute passiert ist.“

Mit einem Seufzer drehte er sich vom Fenster weg, zuckte mit den Schultern und winkte ab.

„Aber, was rede ich da, hört sowieso keiner zu. All die feinen Freunde, einschließlich Gattin, haben sich verpisst. Auch wenn bewiesen ist, und das wird es, dass die Bilder eine Fälschung waren, kriege ich nie wieder einen Fuß auf die Erde. Ich brauche einen Plan, wie ich trotz allem die Kurve kriege.

Aber als Allererstes greife ich mir das Rübenschwein, das mir die Bilder untergejubelt hat. Ich werde den Wichser auf Rufmord und Schadenersatz über eine Summe verklagen, an der seine Enkel noch abstottern werden. Die Bullen werden ihn finden. Das kriegen die Trottel ja wohl noch hin.“

Während seines Selbstgesprächs war Thomas zum eingebauten Kühlschrank geschlurft. Er öffnete die Tür und suchte nach etwas Alkoholischem. Er wählte einen Irish Whiskey, einen Bushmills Black Bush, den für die Gäste, klemmte sich die Flasche unter den Arm, griff nach dem Eimer mit Eis, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und stellte dort beides ab. In dem offenen Schrank an der Wand hinter ihm waren Kristallgläser in verschiedenen Ausführungen aufgereiht. Er wählte ein extra großes und ließ sich damit wieder in seinen Sessel plumpsen.

Er gönnte sich einen üppigen Drink: Gab drei Eiswürfel hinein und goss sein Glas fast randvoll.

„Liebe Freunde, hebt euer Glas mit mir und trinkt auf das Wohl des allerbesten Bürgermeisters, den San Diego jemals gehabt haben würde.“ Er hob seinen Tumbler und prostete in die imaginäre Runde.

Er hatte schon die Lippen über den Rand gestülpt, da ertönte eine Stimme aus dem Dunkel.

„Du hast es immer noch nicht gelernt, wie man einen Whisky gentlemanlike trinkt. Eis ins Glas geben nur Proleten, so wirst du nie ein feiner Mann.“

Thomas Foulder zuckte heftig zusammen. Sein Drink schwappte über und platschte auf seine Hand und den Fußboden. Fluchend stellte er das Glas ab und leckte den Whisky von der Haut. Mit dem Fuß verschuffelte er die Flüssigkeit auf dem Parkett.

Dann beugte er sich vor und spähte in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Wer bist du denn? Komm raus und gib dich zu erkennen! Ich rufe die Security, wenn du nicht sofort rauskommst!“

„Den Sicherheitsdienst? Welchen Sicherheitsdienst denn? Die sind alle weg. Niemand bewacht mehr dein erbärmliches Leben. Hast es mal wieder verwechselt. Nicht du wurdest bewacht, sondern der Kandidat für das Bürgermeisteramt wurde bewacht. Das hatte mit dir als Person überhaupt nichts zu tun. Jetzt bist du von deinem hohen Kandidaten-Thron abgestürzt und schon meiden dich alle als hättest du Lepra. Wobei dieser Vergleich hinkt. Wer mit einem Kinderficker in einem Atemzug genannt wird, findet sich plötzlich in einem politischen und gesellschaftlichen Vakuum wieder. Dagegen ist eine Leprakolonie geradezu eine Partymeile.“

„Ich bin kein Kinderficker! Und wenn du der Schweinehund bist, der mir das eingebrockt hat, dann weißt du auch ganz genau, dass diese Bilder alle gefälscht sind!“

Marvin lachte. „Wieso glaubst du, dass die Bilder von mir sind?“

„Wenn nicht, was hättest du dann hier verloren? Willst du dich an meinem Schmerz aufgeilen? Ja, bist du so einer, ein kleiner Sadist? Viel Freude hast du damit nicht, denn wie du wohl mitgekriegt hast, bin ich schon wieder dabei, neue Pläne zu schmieden. In meinem Geschäft stürzt man öfter mal ab. Die Kunst besteht darin, wie Phönix aus der Asche immer wieder aufzustehen.“

„Schon klar. Seit einigen Jahren tritt kaum noch jemand zurück, nur weil irgendein Reporter, den er nicht kaufen konnte, einen Skandal aufgedeckt hat.

Aber dein Skandal hat eine Dimension, bei der der Öffentlichkeit die Luft wegbleibt. Wer in dieser Stadt noch etwas werden will, dem muss sogar dein Name unbekannt sein. Niemand wird dir jemals wieder die Hand reichen.

Ich hatte ja überlegt, ob ich etwas mit Nutten machen soll oder vielleicht im Sadomaso-Bereich. Du mit einer Peitsche in der Hand, dazu eine blutende Sklavin vor dir auf der Erde, die deinen Schwanz lutscht. Wäre auch alles gegangen. Aber darüber hätten die Männer hinter vorgehaltener Hand gelacht und dich eventuell nach der Adresse gefragt. Die Frauen hätten so getan, als wüssten sie nicht so richtig, was du da eigentlich treibst.

Nach einer Schonfrist von vielleicht ein, zwei Jahren wärst du wieder aufgestiegen. Das wollte ich für alle Zeit verhindern. Ich wollte dich am Boden sehen. Niemals sollte wieder jemand aus deinen Kreisen ein Stück Brot von dir nehmen. Und für diesen Zweck, mein lieber Thomas, ist das beste Mittel saftige Kinderpornografie. Und wie du siehst, ist der Erfolg geradezu überwältigend.“

„Aber wieso? Was habe ich dir denn getan? Sag es mir und ich bringe alles wieder in Ordnung. Ich gebe dir auch Geld, viel Geld. Ich habe reichlich davon. Und wenn du dann zufrieden bist, dann gehen wir gemeinsam vor die Presse und du erzählst ihnen, dass das alles ein tragischer Irrtum war. Ich verspreche dir auch, dass ich nicht strafrechtlich gegen dich vorgehen werde. Was sagst du?“

„Was ich dazu sage? Glaubst du wirklich, ich habe das hier alles inszeniert, um von dir Geld zu erpressen? Nein, ich will dein Geld nicht. Ich will deinen Tod!“

„Meinen Tod? Wie meinst du das? Willst du mich jetzt hier erschießen oder mir die Kehle durchschneiden oder wie? Vielleicht sagst du mir endlich mal, wer du bist und was du willst. Langsam wird mir das hier nämlich echt zu blöd!“

Marvin schaltete das Licht in seiner Nische ein. Es beleuchtete ihn von hinten und zeigte nur seine Umrisse. Er stand auf und ging bis in die Mitte des Raumes.

„Wir hantieren hier im Halbdunklen, passt wahrscheinlich gut zu deinen Geschäften. Jetzt mach mal das Licht an, damit du mich auch in voller Schönheit erkennen kannst. Und bleib schön sitzen und benutze die Fernbedienung, die in der oberen rechten Schublade deines Schreibtisches liegt.“

„Woher weißt du das?“, entfuhr es Thomas Foulder.

„Woher ich das weiß? Ich hatte dich nie ganz aus den Augen verloren und seit mehr als achtzehn Monaten beobachte ich dich Tag und Nacht. Ich habe eigens für dich ein Notebook eingerichtet, das unsichtbar an deinen Server angedockt hatte. Es war übrigens ganz einfach, deine Anlage zu hacken. Du solltest mal mit deinen IT-Spezialisten darüber reden. Ach so, du hast ja keine mehr. Tschuldigung, mein Fehler.

Ich war sozusagen immer an deiner Seite. Wenn du mit deinem Smartphone telefoniert hast, konnte ich über die Kamera alles live miterleben. Ich kenne deine Gewohnheiten, deine Geheimzahlen, die Alarmanlage und konnte dich und deine liebe Frau über eure Telefone jederzeit orten und so weiter und so fort. Ich bin der kleine Japaner, der in allen deinen elektronischen Geräten steckt.“

Während Marvin sprach, hatte Thomas die Fernbedienung aus der Schublade herausgefummelt. Wütend drückte er den Knopf und hielt den Finger bis zum Anschlag drauf.

Dann sah er hoch. Vor ihm stand ein Mann, der verschwommene Erinnerungen weckte. Vergebens versuchte er, sie klarzuziehen.

„Ich kenne dich irgendwo her. Aber woher? Hilf mir doch mal auf die Sprünge!“

„Na, dann sieh mal her!“ Marvin riss sich mit einem Ruck die Perücke vom Kopf und den Bart aus dem Gesicht.

Thomas stand halb aus seinem Sessel auf und beugte sich vor. Er kniff die Augen zusammen und musterte seinen Besucher von oben bis unten. Dann dämmerte es ihm.

„Marvin? Bist du wirklich Marvin? Mein Gott, an dich habe ich ja schon Jahre nicht mehr gedacht. Wie geht es dir denn so?“

„Mein Gott ist ein guter Anfang. Und ja, ich bin Marvin und ich komme als dein Henker. Aber zu deiner Frage. Was glaubst du denn, wie es mir geht? Glaubst du, ich habe eine große Familie, eine Frau und Kinder? Oder erinnerst du dich daran, was ihr mir vor zwanzig Jahren angetan habt?“

„Das war doch nicht so gemeint. Wir waren jung und hatten ordentlich was eingeworfen. Da ist es irgendwie passiert. Wir wollten dir doch gar nicht wehtun. Es hat sich dann so ergeben. Du weißt doch, wie sich so was entwickelt. Ein Wort gibt das andere, man will nicht als Weichei dastehen und macht mit. Ich wollte das alles nicht, das musst du mir glauben.“

„Muss ich das? Du hast offensichtlich die Einzelheiten vergessen. Ich weiß noch ganz genau, wer was wie gemacht hat und wer der Rädelsführer war. Auch dein ganz spezieller Anteil ist fest in meinen Erinnerungen verankert. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich wieder vor lauter Geilheit sabbern, genauso wie ich dich auf dem Bild mit dem kleinen Jungen vorgeführt habe.“

„Marvin,“, fiel ihm Thomas ins Wort, „so war das nicht. Ich glaube, dass du dir da ein bisschen was zusammenfantasierst. Ich bin doch kein Sadomaso-Freak!“

„Ist das so? Ist mir völlig egal. Nicht egal ist es mir, dass du zu den fünf sogenannten Freunden gehörst, die mein Leben zerstört haben. Und dafür wirst du heute büßen.“

„Nicht doch, nicht doch, Marvin, ich hab doch schon gebüßt. Du hast dafür gesorgt, dass ich politisch und menschlich erledigt bin. Was willst du noch von mir?“

„Wie ich schon sagte, deinen Tod. Ich habe das hier alles inszeniert, damit du gute Gründe hast, dir mit deiner eigenen Pistole den Kopf wegzupusten. Schau nur mal, wie du dastehst. Deine Frau hat dich verlassen, deine Kinder schämen sich für dich in Grund und Boden. Sie verachten dich und werden nie wieder ein Wort mit dir wechseln. Selbst wenn die IT-Spezialisten herausgefunden haben, dass man dir die Bilder untergejubelt hat, wird sich daran nichts ändern. Es bleibt immer etwas kleben. Du kennst doch den Spruch: kein Rauch ohne Feuer. Du bist und bleibst ein Paria. Und das erträgst du nicht. Du bist einsam und verzweifelt und siehst keinen Sinn mehr im Leben. Was liegt da näher, als sich selbst die Kugel zu geben. Und das machst du heute.“

„Warum sollte ich das tun? Womit willst du mir noch drohen, ich habe doch schon alles verloren?“

„Ich drohe dir nicht, ich gebe dir Gelegenheit, als Ehrenmann abzutreten. Du schreibst einen sinnigen Abschiedsbrief und darfst selbst entscheiden, welche Lügen du darin unterbringen willst. Dann trinkst du noch einen edlen Whisky aus deiner privaten Flasche, diesmal aber ohne Eis wie ein Gentleman, und so gestärkt sagst du „Ade“ zu dieser schönen Welt. Damit das dann auch richtig theatralisch wirkt, setzt du dich vor dein Notebook und nimmst alles mit deiner Webcam auf. Das erspart dir den Brief, du sprichst deine Lügengeschichten direkt in die Kamera. Wie klingt das für dich?“

„Wie das klingt? Das klingt wie Bockmist! Niemand, der mich kennt, glaubt auch nur eine Sekunde, dass ich mich wegen ein paar Bildern umbringen würde! Das glaubt keiner, die kriegen schon raus, dass du dahintersteckst und dann bist du dran. Vielleicht solltest du noch mal darüber nachdenken, ob das gesund für dich ist.“

„Dummes Zeug! Du redest nur Blech. Du unterschätzt die Suggestivkraft von Bildern. Nach deinem Ableben, wenn dich morgen einer deiner Domestiken findet, ist dein Notebook noch in Betrieb. Man findet das Video, man schaltet es an und sieht, wie du dich nach einer ergreifenden Abschiedsrede erschießt. Man erkennt deine Hand, mit der du dir die Pistole an die Schläfe setzt oder in den Mund steckst und abdrückst. Es gibt einen gewaltigen Knall und deine Schädeldecke mit Teilen deines Gehirns und Blut fliegt durch die Gegend. Glaube mir, niemand zweifelt auch nur im Geringsten daran, dass du es selbst warst.“

„Und was machst du, wenn ich mich weigere?“

„Dann erschieße ich dich. Dann bist du nicht nur ein Kinderficker, sondern auch noch ein Loser. Wirst in deinem eigenen Haus erschossen. War es der Vater des Kindes, das du missbraucht hast? Vielleicht hast du ja mit vielen Kindern rumgemacht, wer weiß, wer noch infrage käme. Das wird dann alles untersucht und ausgebreitet und mit Genuss ausgewalzt von allen, denen unsere so üppig vorhandenen medialen Kanäle eine Plattform bieten.

Man wird deine Eltern und Großeltern unter die Lupe nehmen, ob sich da schon solche Neigungen gezeigt haben. War da nicht doch etwas mit dem Großvater? Eins der Enkelkinder ist ein bisschen merkwürdig, oh, oh, oh! Therapiesitzungen werden angeordnet und mancher deiner bis dahin völlig normalen Cousinen oder Cousins beginnt sich zu fragen, ob damals mit Opa nicht doch irgendetwas komisch war.

Gutmenschen werden landauf landab Betroffenheitsrituale zelebrieren, Psychogurus und Psychiater freuen sich über lukrative Auftritte in den Talkshows und nutzen jede Gelegenheit, dich zu sezieren, ehe ein anderer Skandal deine ekelhaften perversen Neigungen in den Hintergrund drängt. Hier in San Diego wird der Name Thomas Foulder untrennbar mit dem Begriff „pädophil“ verbunden sein.

Du hast die Wahl:

Du scheidest angeblich ehrenhaft aus dem Leben und ich sorge dafür, dass man nachweisen kann, dass diese Bilder Fälschungen sind. Dein Name wird reingewaschen. Mancher hat vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, weil er dich so schnell fallen ließ. Sicher müssen deine Frau und deine Kinder von hier wegziehen, sie finden sonst keine Ruhe. Aber sie sind von der Schande befreit, dass ihr Ehemann und Vater ein perverser Dreckskerl ist, der kleine Kinder missbraucht. Sie können sich im Laufe der Jahre wieder ein normales Leben aufbauen.

Wenn nicht, bleibst du ein Perverser und deine Familie wird zerstört.“

„Das kannst du doch nicht wirklich wollen. Ich muss träumen, das kann alles nicht wahr sein. Mann, das ist zwanzig Jahre her, da muss es doch so etwas wie Verjährung geben.“

„Bei mir gibt es keine Verjährung. In meinem Leben ist ein solches Wort für euch fünf nicht vorgesehen. Du gehst nur voran, die anderen werden dir folgen. Ihr trefft euch in der Hölle. Da könnt ihr dann noch mal gemeinsam kräftig über den dusseligen Marvin lachen.

Im Übrigen, du brauchst gar nicht zum Tresor zu schielen. Ich habe hier, was du gerne hättest.“ Marvin griff in die linke Seite seines Jacketts und zog die Pistole heraus. „Klar?“

Thomas holte tief Luft, doch ehe er weitere Argumente ins Feld führen konnte, wurde er von Marvin ausgebremst.

„Halt endlich den Mund und benimm dich wie ein Mann! Jedes weitere Wort ist zwecklos. Wenn ich dieses Haus verlasse, bist du tot. So oder so. Du allein entscheidest, wie man nach deinem Ableben über dich und deine Familie urteilt.“

Aber Thomas konnte einfach nicht klein beigeben. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, stürzte auf die Knie und rutschte zu Marvin. Flehend hob er die Hände, Tränen strömten über sein Gesicht, in dem sich das blanke Entsetzen abzeichnete. Er bettelte und winselte, versprach Gott und die Welt, stammelte Entschuldigungen und bot sogar seine heimliche Geliebte als Geschenk an.

Marvin blieb nicht unberührt von Thomas Verzweiflung. Es war eine Sache, die ganze Aktion zu planen, sich auszumalen, wie Thomas Foulder vor ihm am Boden lag und um sein Leben flehte, und sich dabei blendend zu fühlen.

Jetzt, wo er dieses Häufchen Elend vor sich hatte, wollte sich das Gefühl des Triumphes nicht so richtig einstellen. Er hatte Thomas da, wo er ihn haben wollte. Sollte das nicht genügen? Jemandem beim Sterben zuzusehen oder ihn gar selbst zu erschießen, war offenbar nicht so leicht, wie er gedacht hatte, auch, wenn es sich um einen seiner Erzfeinde handelt. Er prüfte seine Gefühle und war nahe daran, weich zu werden.

Da hörte er Thomas schreien: „Wir hätten dich verdammtes Schwein damals aufschlitzen sollen! Hätte ich noch mal die Gelegenheit, würde ich dich ohne zucken wie eine Sau abstechen!“

Zornesröte stieg Marvin ins Gesicht. Seine Augen funkelten und traten fast aus den Höhlen. Jeder Gedanke an Vergebung war ausradiert. Er musterte Thomas mit eiskalter Miene.

„Nur damit du es weißt. Ich war eben nahe daran, dich laufen zu lassen. Mit deinem hasserfüllten Geschrei hast du gerade dein Todesurteil besiegelt.

Und jetzt sei endlich still! Ich gebe dir dreißig Sekunden Zeit, dich zu entscheiden. Wenn du bis dahin nicht vor deinem Notebook sitzt und deine Abschiedsrede aufnimmst, erschieße ich dich ohne jedes Federlesen, schneide dir die Eier ab und stopfe sie dir in dein Maul! Ich lasse dich nackt, mit gespreizten Beinen liegen und gehe einfach aus dem Haus.“

Er sah auf seine Uhr. „Die Zeit läuft ab jetzt.“

Thomas öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Marvin deutete nur mit der Waffe auf den Stuhl am Schreibtisch.

Auf allen vieren krabbelte der Ex-Kandidat zu seinem Sessel zurück, zog sich an der Lehne hoch und sank auf den Sitz.

Misstrauisch beobachtete Marvin seinen Gegner. Ihm entging nicht das leichte Zucken des rechten Mundwinkels. Offenbar glaubte Thomas, er hätte noch einen Trumpf im Ärmel. Eine trügerische Hoffnung, denn den heimischen Server hatte er schon von seinem Surface aus lahmgelegt, als sie noch im Convention Center waren. Sie waren in diesem Haus permanent offline.

Das wurde Thomas in diesem Moment klar und die letzten Kräfte verließen ihn zusehends.

Falls noch ein Funken Hoffnung in ihm geschlummert hatte, bei der Übergabe der Pistole einen Treffer landen zu können, so wurde er umgehend zerstört.

Marvin holte aus seiner Jackentasche das zusammengerollte dünne Nylonseil und rollte es ab. In der Hand behielt er eine Schlinge, die er mit einem speziellen Seemannsknoten, ähnlich einem Henkersknoten, gebunden hatte.

Mit vorgehaltener Pistole ging er auf Thomas zu und gab ihm die Schlaufe in die Hand. Der Kandidat legte sie sich nach den Anweisungen seines Gebieters so um den Hals, dass sie unsichtbar im Kragen des Hemdes verschwand.

Marvin überprüfte mit einem kurzen Ruck die Funktion, behielt das andere Ende in der Hand und bewegte sich rückwärts bis in seine Nische. Als er geschützt hinter seinem Sessel kniete, ließ er die Pistole mit Schwung über den Parkettboden bis zu Thomas schlittern.

„Denke daran, sowie du ein krummes Ding versuchst, ziehe ich die Schlinge zu. Ich bin immer schneller als du, klar?“

Thomas Foulder hatte jeden Widerstand aufgegeben. Er spürte die Entschlossenheit, die von Marvin ausging, und wusste, dass er den morgigen Tag nicht erleben würde. Dann wollte er doch lieber als Held in Erinnerung bleiben, als liebender Ehemann und Vater, der mit ergreifenden Worten Abschied von seiner Familie nahm.

Die Pistole hob er auf und legte sie sich auf den Schoß.

Er setzte sich in Position vor sein Laptop, schaltete den Aufnahmemodus für ein Video ein und begann, seine letzte Botschaft an seine Familie und Freunde zu formulieren. Als begnadeter Redner gelang ihm eine überzeugende Vorstellung. Er beteuerte seine Unschuld, fand rührende Worte für seine Frau und die Kinder, dankte allen für ihre Unterstützung und bat um Milde für sich selbst.

Entschlossen führte er den Arm mit der Waffe zum Mund, umschloss den Lauf der Pistole mit seinen Lippen und drückte ab.

Erschrocken fuhr Marvin zurück. Vor seinen Augen zerplatzte der Kopf seines Widersachers mit einem lauten Knall. Eine Fontäne aus Blut und Gehirnmasse spritzte an die Wand hinter Thomas und formte sich zu einem surrealistischen Bild.

Er war einen Moment wie erstarrt, dann stand er auf. Ihm wurde schwindlig, er hielt sich an der Sessellehne fest. Seine Beine gehorchten ihm nicht, sie zitterten wie Espenlaub. Damit nicht genug, begann sein ganzer Körper zu schlottern, die Zähne klapperten und über die Kopfhaut liefen Schauer. Im Sinne des Wortes sträubten sich seine Nackenhaare und auch die Härchen auf den Armen und Beinen.

Nur mit äußerster Selbstbeherrschung wehrte er eine Ohnmacht ab.

Erst nach einigen Minuten war er in der Lage, näher an den Toten heranzutreten.

Er verharrte außer Reichweite der Kamera. Das Bild, das sich ihm bot, war auch aus der Entfernung grauenvoll genug. Es würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten.

„Was habe ich getan?!“ Er rang verzweifelt die eiskalten Hände.

„Ja, was schon? Was habe ich schon getan?“, antwortete er sich selbst. „Das, worauf ich mich seit Jahren vorbereite. Das, wofür ich Informatik studiert und Aikido trainiert habe: meine absolute Rache! Und die wird erbarmungslos vollendet. War doch heute alles perfekt. Der gute Thomas hat gebettelt und gefleht. Und ich, wie ein römischer Imperator, habe ungerührt den Daumen gesenkt. Ein schönes Bild.“

Marvin lächelte in sich hinein. Freude keimte auf. Tiefste Genugtuung erfüllte ihn. Was für ein überwältigendes Gefühl, daran könnte er sich wahrlich gewöhnen.

Es war Zeit zu verschwinden. Er gestattete sich einen letzten triumphierenden Blick über die grausige Szenerie. Nichts für schwache Nerven.

Sorgfältig prüfte er, ob ihn irgendetwas verraten könnte. Er rechnete nicht damit, denn er hatte die ganze Zeit Handschuhe getragen und alles, was er angefasst hatte, sofort wieder abgewischt.

Die Hautschuppen und Haare mussten noch weg. Sie waren verräterisch und konnten ihm durchaus den Weg zum Schafott ebnen.

Er holte aus dem Wirtschaftsraum eine Mülltüte mit Zipper sowie einen Staubsauger und saugte alles gründlich ab. Den Beutel entnahm er, beförderte ihn in die verschließbare Plastiktüte und steckte diese in seinen Rucksack. Die Leute von der Spurensicherung werden nicht viel Freude am Inhalt ihres Staubsaugerbeutels haben.

Nur die Nylonschnur würde die Anwesenheit eines Dritten verraten.

Kurze Zeit später verließ Marvin mit seinem schwarzen Chrysler die Tiefgarage und verschmolz mit der Nacht. Er fuhr ohne Licht, niemand sollte ihn beim Verlassen des Hauses beobachten können. Glücklicherweise konnte er nach wenigen Metern, dann mit eingeschalteten Scheinwerfern, links in den Sierra Mar Drive einbiegen, der tiefer in das Wohngebiet hineinführte.

Er wusste aus einem kurzen, unangemeldeten Besuch auf dem Server der Verkehrszentrale vor ein paar Monaten, dass es hier, wie auch in den Del Mar Heights, keine öffentlichen Überwachungskameras gab. Die Grundstückseigentümer ließen diese Aufgabe lieber von Firmen ausführen, die sie für ihre Diskretion bezahlten. Falls die Polizei darauf zugreifen wollte, würde sie vor fast unüberwindlichen Hindernissen stehen.

Er durchfuhr das Wohngebiet in einem Bogen und schwenkte weit unterhalb des Hauses von Thomas Foulder wieder auf die Soledad Avenue ein.

Die Fahrt nach Hause verlief ohne Zwischenfälle. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung tauchte er ab in die Tiefgarage seiner Villa.

Sein erster Weg führte Marvin direkt in das große Badezimmer. Er zog sich aus und ließ seine Sachen achtlos auf die Fliesen fallen. Dann setzte er sich auf den Rand des geräumigen Whirlpools und drehte den Wasserzulauf bis zum Anschlag auf. Kaum war der Wannenboden mit Wasser bedeckt, stieg er schon hinein. Die Wanne lief bis oben voll, die Düsen sprangen an und Marvin genoss das wohlige Gefühl einer Unterwassermassage. Er ließ sich treiben und verlor jedes Zeitgefühl.

Ein schrilles Läuten riss ihn aus seiner Trägheit. Unwillig stemmte er sich hoch, kletterte aus dem Whirlpool und legte sich ein flauschiges Badetuch um die Hüften.

Irgendeiner störte doch immer. Er hatte den Übeltäter bereits am Klingelton erkannt. John war in der Leitung. Wer auch sonst zu dieser Unzeit. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Nein, jetzt nicht, nicht dieser Jammerlappen zu dieser Stunde. Sollte der ruhig ein bisschen verunsichert sein, wenn sein geliebter Master of Love das Gespräch nicht entgegennahm. Umso bereitwilliger würde er ihm beim nächsten Mal aus der Hand fressen.

Er drehte sich um und verzog sich in sein Schlafzimmer. Bevor er in einen komatösen Schlaf fiel, durchlebte er nochmals das Glücksgefühl, den ersten seiner Peiniger zu Strecke gebracht zu haben.

In den Tiefen seiner Seele regte sich ein winziges Gefühl von Reue und Scham. Es hatte keine Chance.

Eiskalte Vergeltung

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