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Kapitel 2

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Zum Abendessen wählte Ulla Sommer eine dezente Robe. Sie wusste ja nicht wie die anderen erscheinen würden. Über ihren Anblick war sie sehr erfreut, denn sie fand, dass sie bezaubernd aussah in ihrer schilfgrünen Satinhose und der dazu passenden Jacke. Darunter trug sie eine spitzenbesetzte beige Bluse. Ihre kurzen dunklen Haare, die natürlich immer wieder kunstvoll gefärbt wurden, kämmte sie burschikos nach hinten, und hielt sie mit einer silbernen Spange und einer roten Lotusblüte zusammen. Dazu trug sie silberne Pumps.

Leise zog sie die Tür der Suite ins Schloss, denn es lag eine unheimliche Stille über diesem Hotel, die ihr eine gewisse Angst einjagte. Auch diese gruseligen Bilder, die im Flur vor ihrer Suite hingen, waren ihr suspekt. Wie kann man auch solche Bilder mit Schafsköpfen oder Wildsauen aufhängen, dachte sie. An den Köpfen lief noch das Blut herunter. Und obwohl es nur rote Farbe war, die der Künstler hier angelegt hatte, spürte sie direkt auch die Angst in den Blicken der fotografierten Tiere. Irgendwie kam es ihr vor, als ob sich das Hotel in einem dunkeln, mysteriösen Wald befand. Von welchem Prinzen könnte es wachgeküsst werden, überlegte sie. Allerdings wenn sie so die Männer dieser OIL-Gruppe ansah, käme da keiner für sie als Prinz in Betracht.

„Und wer könnte die wachgeküsste Prinzessin sein?“, grübelte sie, schüttelte aber gleich wieder diese Gedanken ab, die sie nur in ihrem Denken hemmten. Auf der einen Seite war das behäbige, große Schweizer Hotel mit nur sehr wenigen Gästen. Auf der anderen Seite war eine gewisse Oberflächlichkeit bei den Gästen zu entdecken. Auch dieser Luigi an der Rezeption und dieser komische Hoteldirektor waren ihr nicht geheuer. Alles war sehr geheimnisvoll und diese merkwürdige Erinnerungsreise entwickelte sich bei ihr zu einem Schreckgespenst, das sie nicht so einfach abschütteln könnte. Sie spürte, wie ihre Angst ihren Rücken hoch kroch, zumal sich auch noch zu den fragwürdigen Gästen ein mysteriöser Millionär gesellte, der sie womöglich mit seinen Franken kaufen wollte.

Unten angekommen, blickte sie wieder in die gleichen Gesichter wie am Nachmittag und dies ließ ihren Magen rebellieren. Auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich immer verlassen. Aber nun war sie einmal hier und musste sich diesen Leuten anpassen, ob sie wollte oder nicht. Sie sah nicht nur freudig erregte Gesichter, sondern auch festlich gekleidete Personen. Man könnte fast meinen, dass es sich bei dieser OIL-Gruppe um eine angesehene, illustre Gesellschaft handelte, die sich ein paar Tage in Graubünden eingefunden hatte und ihren Spaß haben wollte.

Die nette Servicekraft vom Nachmittag hatte sich ebenfalls abendlich gekleidet und eine kecke Haube saß auf ihrem kurzen Haar. Auch sie trug nun ein Namensschild, auf dem Vanessa stand. Als der freundliche Page vom Nachmittag mit einem silbernen Tablett nun zur Tür hereinkam, bemerkte Ulla Sommer, dass auch er nun ein Namensschild trug und auf diesem Vincent vermerkt war. „Also haben wir es mit Vanessa und Vincent zu tun!“, murmelte sie leise vor sich hin. Es war ihr unangenehm, dass sie immer wieder in ihre Selbstgespräche verfiel. Aber es war ja niemand da mit dem sie sich unterhalten konnte. Vanessa und Vincent verteilten nun gefüllte Sektgläser sowie kleine Häppchen, die an spanische Tapas erinnerten. Ulla Sommer nahm nur ein Häppchen und ein Glas perlenden Sekt in ihre Hand und spazierte mit leichten Schritten an den Gästen vorbei.

Pünktlich auf die Minute, trat wieder Monsieur Philippe Laurent, der Hoteldirektor, in Erscheinung.

„Ich werde Sie nun mit Ihrem Sponsor, dem amerikanischen Millionär, bekanntmachen“, hörte sie plötzlich den Hoteldirektor sagen.

„Ist der womöglich hier?“, blickte sie fragend in die Runde.

Doch keiner äußerte sich. Alle sahen nur den Hoteldirektor an oder blickten herausfordernd um sich und manche senkten auch ihre Blicke. Weshalb hier alle so still und geheimnisvoll reagierten, warf bei ihr viele Fragen auf, dazu waren ihr auch noch die Gäste ein Rätsel.

„Hier ist er nicht, nein, er wird zu Ihnen per Videobotschaft sprechen. Kommen Sie bitte mit mir in die Bibliothek! Hier erfahren Sie mehr!“ Die Stimme dieses Hoteldirektors kannte sie nun schon in allen Facetten und doch hörte sie ein Geheimnis heraus.

Wie im Gänsemarsch marschierten die Gäste hintereinander in die Bibliothek, in einen dunkelgetäfelten Saal, wo nur wenig Licht herrschte. Es lag etwas Romantisches aber auch Bizarres in diesem dunklen Raum. Ulla Sommer dachte sofort auch an ein englisches Spukschloss. „Gleich kündigt sich noch ein Geist an“, frotzelte sie. Die anderen Gäste hatten sie jedoch nicht gehört, was ihr auch recht war. Sie wollte nicht als meckernder und aufrührerischer Gast gelten.

„Sicherlich ist das Hotel Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden, als die Engländer mit ihren Reisen die Schweiz eroberten und es fortan zu ihrem Lieblingsland gehörte“, murmelte Albert Rehlein kurz zu ihr hinüber.

Sie blickte ihn mit ihren grünen Augen schräg von der Seite her an. Dass dieser Rehlein auch England im Blick hatte, fand sie schon einmal angenehm. So weit voneinander lagen also ihre Geschmäcker gar nicht, überlegte sie. Ihr war dieser Albert Rehlein schon gleich aufgefallen mit seiner großen Gestalt. Er will so vornehm scheinen, dachte sie noch. Aber es wollte ihr partout nicht einfallen, wo sie diesen Mann schon einmal gesehen haben könnte.

Dann schloss der Hoteldirektor den Raum ab. Das fand sie nun richtig gespenstisch und rückte etwas näher an diesen Rehlein heran.

Vielleicht brauche ich doch männlichen Schutz?, dachte sie, denn in dieser dunklen Halle mit den maskenhaften, kolonialen Figuren an den Wänden, die afrikanische Geisterbeschwörer oder Stammesfürsten darstellten, entstand für sie eine schaurige Atmosphäre. Doch da ging bereits das Licht an und es erschien eine Gestalt auf dem Bildschirm. Weder Haare noch Gesicht waren zu erkennen. Der Mann hatte einen Hut auf dem Kopf, der tief in sein Gesicht hineinragte. Dann ertönte eine blecherne Stimme, sodass sie zunächst zusammenzuckte, aber dann auch richtig aufpassen musste, dass sie auch jedes Wort verstand.

Sie flüsterte nur noch kurz zu Rehlein, dass sie ein bisschen Angst habe.

„Das brauchen Sie doch nicht zu haben, ich bin ja hier und beschütze Sie“, meinte dieser sehr fürsorglich zu ihr. Toll!, dachte sie nur.

„Aber in Ihre Arme werfe ich mich nicht, das wäre ja noch schöner!“, entgegnete sie kurz und lachte dabei ihr warmes Lachen, das bisher immer alle ihre Freunde und Freundinnen begeisterte.

Dann ertönte eine blecherne Stimme, die allen einen „Guten Abend“ wünschte, was mit Applaus quittiert wurde.

„Ich habe Sie hierher eingeladen, weil sie alle zusammen vor vielen Jahren in einen Mordfall verwickelt waren. Doch leider konnte man den Täter nicht dingfest machen.“

Es herrschte eine beängstigende Stille, man hätte fast eine Nadel auf den Fußboden fallen hören, so lautlos war es im Raum. Nicht mal den Atem des Nachbarn spürte Ulla Sommer. Niemand flüsterte, niemand blickte hoch, alle hielten ihre Köpfe gesenkt. Sie ebenfalls. Von Applaus keine Spur mehr. Ihre Gedanken kreisten um diesen Mordfall, aber es fiel ihr beim besten Willen nicht ein, wo und wann und mit wem von dieser Gruppe, sie in einen Mordfall verwickelt gewesen sein könnte.

„Nichts also mit Produkttesten, das war auch wieder so eine Irreführung!“, geiferte sie drauflos. Es war ihr gerade zum Stänkern zumute. Doch niemand schaute zu ihr hin. Auch nicht der Hoteldirektor, der sich immer noch im Raum befand.

Dann wurde es wieder heller im Saal. Das gedämmte Licht zuckte ein bisschen, bis es hell und immer heller wurde, dass man den Nachbarn auch wieder erkennen konnte. Aber die Tür blieb immer noch verschlossen. Ulla Sommer war ja keine ängstliche Person. Aber auch sie zuckte wieder zusammen, als plötzlich das grelle Neonlicht, wie ein Spotlight, auf sie und die Gäste gerichtet wurde. Dieses Neonlicht passte überhaupt nicht in diesen altertümlichen Raum. Aber seine Strahlen fielen auf die Gäste, bis es erlosch, sich wieder aufbäumte, um zum zweiten Mal in voller Lichtstärke, dann endgültig sein Ende zu besiegeln. Diese Szene hätte sich in einem mordbrünstigen Theaterstück wiederfinden können, dachte Ulla Sommer, die dieses ganze Theater den Gästen wie auch diesem altertümlichen Saal und der Eröffnung des Abends gegenüber nicht passend fand.

Als dann das Neonlicht ausgereizt war und ein dezenteres Licht in einem kristallenen Kandelaber erschien, trat auch der Direktor wieder aus dem Dunkel des Raums hervor und verkündete, dass das nun erst der Anfang der Geschichte war. „Der Anfang der Geschichte, welcher Geschichte denn?“, fragten die Gäste der OIL-Gruppe und ihre Gesichter drückten auch dementsprechend Besorgnis aus.

Ulla Sommer, die ansonsten ein sehr gutes Gedächtnis besaß, konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass sie mit diesen Leuten irgendetwas gemein hatte, schon gar nicht in einen Mordfall wollte sie mit diesen Leuten verwickelt sein. Also Demenz hatte sie keine, und auch selbst in ihrer Familie war niemals bei ihren engsten Verwandten eine Demenz festgestellt worden. Insofern wunderte sie sich nur, dass die Gäste diesen Mordfall, der niemals aufgeklärt wurde, einfach so ohne Regung hinnahmen.

Plötzlich ertönte jedoch die Stimme von Claudine Meister, die wieder in ihrem schwäbischen Dialekt in die Runde fragte, was denn für ein Tag heute sei.

„Was will sie denn den heutigen Tag wissen?“, flüsterte sie zu Rehlein.

Dieser bemerkte nur, dass heute Freitag, der 23. August war und schließlich auch auf der Einladung, Freitag, der 23. August, als Eröffnungstag für diese Erinnerungsreise angegeben war.

„Hier können Sie nachsehen!“, und dabei holte er einen kleinen Handtaschenkalender hervor. Doch keiner wollte nachsehen oder es überprüfen, denn es war ja bekannt, dass dieses Hotel von Freitag, 23. August für einige Tage für die Gäste gebucht war. Nur Claudine Meister zuckte bei diesem Datum merklich zusammen. Ulla Sommer wusste gleich, dass sich diese Meister an Freitag, den 23. August erinnern konnte.

„Jetzt erinnere ich mich, ich habe nämlich ein supergutes Gedächtnis!“, sprudelte Claudine Meister hervor. Doch dann verstummte sie wieder und alle, die sie umringten, hingen an ihren Lippen und fragten nach, was sie mit diesem 23. August in Erinnerung bringen würde.

Aber es kam kein Wort mehr von ihren Lippen, die sie fest zusammenpresste. Da hätte nicht mal ein Streichholz dazwischen gepasst. Ulla Sommer sah, wie sich alle anblickten und in ihren Erinnerungen kramten. Keiner sprach aber ein Wort und ließ die anderen an seinen Erinnerungen teilhaben. Sie blickten nur zu Boden, als schämten sie sich, wenn sie an diesen 23. August dachten.

Annette Fischer und Josef Haas blickten sich auch nur kurz an, als wollten sie was sagen. Renate und Arnim Hermann zogen sich beide in eine dunkle Ecke zurück. Sie wollten ihren Gästen ihre Erinnerung nicht mitteilen. Karl Feistel blickte nur zu Claudine Meister, die triumphierend die Anwesenden musterte. In ihren Augen erkannte Ulla Sommer wieder ein hämisches Grinsen. Sie blickte sie ziemlich forsch an, denn es war ihr sofort klar geworden, dass diese Claudine Meister mehr wusste als sie alle zusammen. Doch dann hielt diese Meister nur ihren Blick gesenkt, als hätte sie ein schlechtes Gewissen.

„Sie weiß es, sie kennt den Mordfall!“, sagte Ulla Sommer leise zu Peter Bloch, der sich ihr wieder genähert hatte. Norbert Neurer hatte sich auch Albert Rehlein und Peter Bloch angeschlossen. Axel Lehmann und Ansgar Hoch wechselten ebenfalls kurze Blicke miteinander. Sonja Netter wandte sich dann an Claudine Meister, als wollte sie etwas sagen. Aber beide wechselten keine Worte miteinander. Ulla Sommer registrierte alles. Sie allein war es, die sich nicht erinnern konnte, an welchen Mordfall dieser amerikanische Millionär anknüpfte. Sie hatte doch ein ganz passables und sehr gutes Gedächtnis. Doch sie schüttelte sich richtig, als sie daran dachte, dass sie mit diesen Leuten irgendetwas Schreckliches verband. Nur was, war hier die Frage, wie sie krampfhaft überlegte.

Der Hoteldirektor schloss dann sehr nachdenklich wieder die Tür der Bibliothek auf und alle waren wie erlöst, denn so eingeschlossen in diesem Raum mit dieser blechernen Stimme des Millionärs und den schweren Erinnerungen an einen Mordfall hatte die OIL-Gruppe sehr verunsichert.

Nun ging es in den Grand Salon. Dort sollte das Menü serviert werden, hörte sie den Direktor sagen. Eigentlich war ihr nicht mehr nach Essen zumute, aber man konnte ja mal sehen, was der Koch alles an Genüssen zaubern würde.

„Kommen Sie mit mir in den Speisesaal! Unser Küchenchef hat extra für Sie ein exzellentes Menü zusammengestellt, das soll sie nun ein bisschen belohnen für die schreckliche Nachricht, die Sie gerade vernommen haben. Es geht um einen Mordfall.“ Dabei betonte er diesen Mordfall mit einem eigentümlichen Unterton.

„Vergessen Sie nun den Mord, morgen erfahren Sie mehr vom Gastgeber!“, sprach der Direktor und verschwand kurz hinter einem Vorhang, der ein wahres Meisterwerk der Handwerkskunst darstellte. Denn der Brokatstoff war mit vielen Affenbildern und Schlangen kreiert worden. Dieses Motiv erinnerte ein bisschen an den Jugendstil, Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch daran, dass die Reisefreudigkeit in den Ländern damals groß war und besonders die Kolonien mit all ihren wilden Tieren sehr begehrenswert waren.

Vanessa und Vincent, die Servicekraft und der Page, verschwanden ebenfalls hinter diesem schwarzgrünen Vorhang, auf dem auch giftige Schlangen abgebildet waren. Die Augen der Kobras blitzten in einer grellgrünen Farbe, die zum dunklen, samtgrünen Vorhang einen künstlerischen Kontrast bildeten. Ihre Augen richteten sie auf ihre nächsten Opfer und ihre Zungen waren feuerrotspeiend. Ulla Sommer warf nur einen kurzen Blick auf diesen angsteinflößenden, aber doch auch aparten Vorhang. Sie fühlte, dass dieser schlangenspeiende Vorhang direkt in die Hölle führte.

Wo bin ich nur gelandet?, dachte sie und musste auch ein bisschen an ihren Mann denken, der zuhause saß und nichts von einem Mordfall wusste und von dieser geheimnisvollen Atmosphäre in diesem merkwürdigen, alten Hotel, das sie an eine mörderische Schlangengrube erinnerte.

„Sehen Sie eigentlich noch andere Gäste hier oder sind wir die einzigen?“, wandte sie sich wieder den drei Herren zu, die ihr in den Grand Salon gefolgt waren.

An ihrem Tisch angekommen, sah sie, dass sowohl Albert Rehlein, Norbert Neurer und Peter Bloch sowie Renate und Arnim Hermann, Axel Lehmann und Ansgar Hoch an ihrem Tisch Platz fanden.

Den weiteren großen runden Tisch belegten Annette Fischer und Josef Haas, Claudine Meister und Karl Feistel sowie Sonja Netter, Dominik John, Andreas Lichte sowie Klara Breuer.

Zunächst wurde die Suppe serviert. Es war eine badische Schneckensuppe, die früher auf jeder Speisekarte eines guten Hotels stand. Dazu wurde ein Weißer Burgunder aus dem Kaiserstuhl gereicht. Der etwas lieblich anmutende Weiße Burgunder, gereift in dieser sonnigen Landschaft, passte hervorragend zur sahnig-herben, mit Kräutern gewürzten Schneckensuppe.

Das Hauptgericht bestand aus einem schwäbischen Rostbraten mit selbstgemachten Spätzle und Bubenspitzle und dazu gab es ein sehr reichhaltiges Salatbuffet, an dem sich die Gäste selbst bedienen konnten. Zum Hauptgericht konnten die Gäste zwischen einem Spätburgunder Rotwein und einem Grauen Burgunder auswählen.

Vanessa und Vincent bedienten die Gäste hervorragend. Und so langsam war auch bei Ulla Sommer dieser schwarz-grüne Vorhang, der nach Nirgendwo oder in die Hölle führte und bei ihr Ängste hervorgerufen hatte, vergessen und sie widmete sich ihrem Essen.

Zum Nachtisch gab es Vanilleeis und heiße Himbeeren, auch so ein Klassiker aus den Achtziger und Neunziger Jahren.

Ulla Sommer fing eine lebhafte Unterhaltung mit den Gästen an ihrem Tisch an, an der sich Renate und Arnim Hermann aber nicht beteiligten. Immer wieder schaute Arnim Hermann zu Ulla Sommer herüber, doch sie erwiderte seinen Blick nicht, denn dieser Arnim mit seinen krausen Haaren erinnerte sie an jemanden, an den sie sich aber nicht erinnern wollte.

„Manches vergisst man auch oder man will nicht mehr daran erinnert werden“, murmelte sie leise und dachte dabei an den Mordfall, wobei sie von den weiteren Herren am Tisch eifrig beobachtet wurde.

„Dieser 23. August, der geht mir eigentlich nicht mehr aus dem Kopf“, sagte sie zu Peter Bloch, der nickte, denn auch er konnte keine Erinnerung mit einem 23. August verbinden, wie er betonte.

Auch am Nebentisch widmete man sich ziemlich schweigsam dem Menü. Plötzlich stand Karl Feistel am Nebentisch auf und Claudine Meister schaute ihm nur nachdenklich hinterher.

Irgendwie kennen sich Claudine Meister und Karl Feistel, überlegte sie, sagte aber nichts zu den weiteren Personen an Tisch Eins, die eifrig auch noch ihren Nachtisch löffelten.

Zum Schluss gab es noch Kaffee und einen englischen Plumpudding-Kuchen, der jedoch etwas fest geraten war.

„Wenn wir jeden Tag so ein umfangreiches und sehr exzellentes Menü bekommen, dann muss ich meine Hosen erweitern lassen“, raunte gut gelaunt Albert Rehlein in die Runde.

„Woher kommen denn Sie, Herr Rehlein? Ich konnte bei Ihnen noch keinen typischen Dialekt heraushören“, sprach Ulla Sommer nun zu Rehlein, den sie eigentlich noch am sympathischsten fand.

„Ich wohne eigentlich in Freiburg, war aber auch öfters in Mannheim bei meiner Mutter.“

„Lebt Ihre Mutter noch?“, fragte sie gleich weiter. Doch dies verneinte Albert Rehlein heftig, wobei er ziemlich traurig in die Runde blickte.

Auch Ulla Sommer erzählte von ihrem Mann, der eigentlich auch mitreisen wollte, aber dann doch wieder zurücktrat, weil er keinen Betreuer für den Hund gefunden hatte.

Wortkarg blieben bei den Gesprächen Renate und Arnim Hermann. Ulla Sommer blickte immer wieder zu diesem seltsamen Paar hin, wobei die Frau ja einen sehr netten Eindruck auf sie machte. Ihr Mann hingegen schaute immer wieder verschämt auf den Boden, wenn sie ihr Augenmerk auf ihn richtete. Weshalb kann er mir nicht in die Augen schauen, was hat er denn zu verbergen?, dachte sie. Seltsame Leute!, überlegte sie weiter, ließ sich aber nichts anmerken und war weiterhin auch freundlich zu ihren Tischnachbarn.

Als alle gerade so gemütlich zusammensaßen, Kaffee und einen Grappa tranken, hörten sie wie jemand lauthals aufschrie. Vielleicht hatten die Leute dieser Gruppe den Schrei in diesem so stillen und lautlosen Hotel zuerst gar nicht wahrgenommen, weil er ganz und gar nicht zu diesem Hotel passte. Aber dann wurde er doch registriert. Ulla Sommer war die erste, die sich zu Wort meldete.

„Was war denn das?“, entfuhr es ihr, die sehr schnell auf diesen Schrei reagierte, der in diesem Hotel hallte, als sei eine Meute wilder Tiere hier in diese Stille eingebrochen.

„Ich glaube, ich habe einen Schrei gehört“, rief sie ängstlich und fragend zu Rehlein und Bloch, die sie nur verwundert anschauten, weil sie sonst eine toughe Figur machte.

„Ich habe nichts vernommen!“, verriet schon mal Bloch und auch Rehlein verneinte, dass er einen Schrei wahrgenommen hatte.

„Sind Sie taub, meine Herren!“, rief sie schon sehr erregt und ungehalten aus, dass auch die Personen an Tisch Zwei aufschauten und zu ihr blickten.

Kurze Zeit später trat dann auch schon der Hoteldirektor in den Saal und hatte eine Klingel dabei.

„Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass gerade ein Unfall geschehen ist“, entgegnete Monsieur Laurent mit ächzender Stimme und rückte seine goldumrandete Brille zurecht.

„Was, habe ich es richtig vernommen? Sie wollen uns einen Unfall melden, oder war es vielleicht ein Mord bei diesem Schrei?“, schrie dann Ulla Sommer wieder etwas unbeherrscht in den Raum.

„Ja, Madame Sommer, da haben Sie recht, es war kein Unfall, sondern ein Mord, ich wollte sie allerdings nicht gleich mit einem Mord behelligen und beunruhigen, wo sie gerade noch am Nachtisch sitzen!“, antwortete Laurent mit klagender Stimme.

„Wer ist denn ermordet worden?“, wollte sie daraufhin gleich wissen.

„Es muss sich um Axel Lehmann handeln, so zumindest nehme ich es an, denn er trug dieses Namensschild bei sich!“, sprach er und zeigte vorsichtig auf das Schild in seinen Händen.

Ulla Sommer und auch die anderen Gäste hatten gar nicht bemerkt, dass sich Lehmann von Tisch Eins entfernt hatte. Sie waren ja auch mit ihrem Essen beschäftigt.

Den Gästen an den beiden Tischen sah man den Schreck richtig an. Einer sprang zuerst auf und rannte aus dem Saal. Sie konnte gar nicht gleich erkennen, wer zur Tür hinausgerannt war, so aufgeregt war sie.

„Wenn es sich bei dem Toten um Axel Lehmann handelt, dann gehört der Mann ja zu den Gästen an unserem Tisch?“, murmelte sie entsetzt zu Rehlein und Bloch.

Die Gäste von Tisch Eins blickten sich nur entsetzt an und die Gäste vom zweiten Tisch schauten starr in Richtung Ulla Sommer, die unruhig von ihrem Stuhl aufgestanden war und herumhüpfte wie eine Ziege, die eingefangen werden sollte. Keiner sprach ein Wort, alle saßen wie erstarrt an ihrem Tisch und vor ihren Kaffeetassen. Auch ein letzter Schluck Grappa wurde noch schnell genommen.

Es war gespenstig ruhig in diesem Raum. Keiner sprach ein Wort, alle blickten nur zu dieser aufgeregten Ulla Sommer, die sich gar nicht mehr beruhigen wollte.

„Ich bleibe nicht länger, keine Sekunde länger, in diesem Haus!“, rief sie dann ungestüm aus.

„Beruhigen Sie sich, Frau Sommer!“, rief da plötzlich Annette Fischer, die bisher eigentlich nicht viel gesprochen hatte. Doch diese Worte konnte sie sich anscheinend nicht verkneifen.

„Beruhigen Sie sich, Frau Sommer!“, wiederholte sie noch einmal ihre Worte und setzte weiter fort: „Der Hoteldirektor wird sich um alles kümmern, oder nicht?“, sprach sie etwas fragend in die Runde, dabei schaute sie den Hoteldirektor an, gerade so, als würde er ihre Worte gleich bestätigen. Doch dieser reagierte gar nicht und schaute unsicher in den Raum.

„Wieso weiß sie, dass sich der Hoteldirektor um alles kümmern wird?“, ereiferte sich Ulla Sommer, die Annette Fischer immer wieder herausfordernd anstarrte. Doch Annette Fischer hielt ihrem Blick nicht stand und blickte etwas verschämt zu Boden.

In Ulla Sommers Kopf rührte es sich mächtig, denn diese Worte: „Beruhigen Sie sich, wir kümmern uns um alles!“, diese Worte hatte sie schon einmal gehört, aber nur wo und wer hatte sie ausgesprochen? Ihre Gedanken kreisten immer wieder um diese Worte, als würde endlich das Licht in ihrem Kopf angeknipst und die Erinnerung wäre wieder da.

Peter Bloch und Albert Rehlein sprangen ebenfalls beide von ihren Stühlen auf und eilten zum Hoteldirektor, der im Grand Salon wie ein Tiger hin- und herlief.

„Haben Sie schon die Polizei verständigt?“, wollten die beiden wissen.

Auch die anderen Gäste fragten diesbezüglich nach.

Doch der Hoteldirektor gab darauf keine Antwort.

„Unser Telefon ist defekt. Es funktioniert nicht. Im Tal weiter vorne ist eine Gerölllawine heruntergegangen und hat alles verschüttet. Der Eingang zu Davos ist mit Geröll zu. Diese Moräne war riesig“, erzählte er nur kurz.

Ulla Sommer blickte entsetzt von einem zum anderen. Dass sie jetzt noch in diesem Tal festsaßen, das gefiel ihr gar nicht. Nicht mal die Polizei konnte kommen und das Telefon war auch ausgeschaltet. Sie wurde hypernervös, denn eingesperrt sein, das konnte sie nicht ertragen. Da ging direkt die Sicherung bei ihr durch.

Die meisten Gäste saßen teilnahmslos auf ihren Stühlen, schwiegen einfach, manche aßen noch die Reste des Nachtischs auf oder schauten sich nur stumm an. Das war für Ulla Sommer unerträglich, denn sie spürte, dass sich was zusammenbraute. Sie konnte manchmal Dinge voraussehen und auch bei den Lottozahlen konnte sie öfters eine Zahl hervorsagen, mehr aber leider nicht, sonst wäre sie vielleicht schon Lottokönigin geworden.

Für sie spielte sich dieser Mord an Axel Lehmann wie in einem Science-Fiction-Film ab. War sie eigentlich die einzige klardenkende Person in diesem Raum? Irgendwie dachte sie, da alle so ohne Regung reagiert hatten, dass sie wohl hier in einer Psychiatrie gelandet waren und das GRANDHOTEL ein verkapptes Krankenhaus war. Nur stumm und träge wurden die Mahlzeiten eingenommen. Nicht mal für dieses kostbare Menü und die exzellenten Weine konnten sich diese Leute begeistern.

„Sie sitzen wie Walfische am Tisch und schlingen alles hinunter“, höhnte sie. Gleichzeitig schämte sie sich aber auch für ihre Gedanken und ihren Ausspruch und entschuldigte sich für ihre Worte, die aber keiner verstanden hatte, wie sie bemerkte und das kam ihr auch gerade recht.

„Wo befindet sich denn Herr Lehmann im Augenblick?“, meldeten sich dann Bloch und Rehlein wieder zu Wort, die sie beide auch noch als einzig klardenkend im Kopf einschätzte.

„Wir müssen doch diesen Axel Lehmann erstmal sehen, ob er auch tatsächlich tot ist, dieser Hoteldirektor kann uns ja viel erzählen!“, fingen nun auch Bloch und Rehlein zu meckern an.

„Kommen Sie mit, meine Herren, wenn Sie mir keinen Glauben schenken!“, wandte sich der Hoteldirektor höflich an die beiden. Gleich wollten auch Arnim Hermann, Josef Haas und Karl Feistel sowie Dominik John den beiden folgen.

Allerdings widersprach da der Hoteldirektor ganz energisch.

„So viele Leute haben keinen Platz im Fahrstuhl, denn wir müssen den Toten in den Eiskeller befördern bis die Polizei eintrifft“, ordnete Philippe Laurent kurzerhand an.

„Wir wollen doch nur mal nach dem Toten sehen und uns überzeugen, dass er auch tot ist bzw. wir wollen auch wissen, wie er gestorben ist“, sprachen die Herren, die gleichzeitig auch argumentierten, dass man auch sicher gehen wollte, dass es sich bei dem Toten um Axel Lehmann handeln würde.

„Immerhin war auch noch Ansgar Hoch im Raum, der doch diesen Axel Lehmann kannte?“, rief Ulla Sommer dazwischen. Doch im Augenblick konnte sie Ansgar Hoch auch gar nicht sehen. „Wo ist Ansgar Hoch?“, verkündete sie lauthals und ruderte aufgeregt mit ihren Armen.

Aber niemand kümmerte sich um sie, und alle rannten nur auf den Flur und den anderen hinterher.

Vorneweg spazierte der Hoteldirektor und danach reihten sich die Herren ein. Die Damen schlossen sich wiederum den Herren an.

Ulla Sommer war dann Bloch und Rehlein nachgegangen und drängelte sich auch an den anderen Herren vorbei, in die vorderste Reihe.

Sie sah einen Mann auf dem Boden liegen. Daneben bildete sich schon eine Blutlache. Er lag mit seinem Gesicht auf dem Boden, also musste er rücklings erstochen worden sein. Das Messer steckte noch in seinem Rücken. Es war ein japanisches Messer, wie es die Köche oder auch Hobbyköche gerne verwenden, registrierte Ulla Sommer.

Wie kann dies nur passiert sein?, überlegte sie, äußerte sich aber nicht, sondern schaute alle mit ihren unergründlichen, grünen Augen herausfordernd an. Doch keiner verzog eine Miene. Für sie war klar, dass nur ein Mitglied aus der Gruppe diesen Axel Lehmann ermordet haben könnte. Weitere Gäste gab es nicht und das Hotel war wie eine Burg verschlossen. Von außen konnte man das Hotel nicht betreten.

Auch der Hoteldirektor starrte in die Runde, denn ein Mord in seinem GRANDHOTEL, damit konnte er sich nicht anfreunden, zumal erst kurz vorher das Hotel eröffnet wurde und diese Gäste der OIL-Gruppe die ersten Gäste waren.

Auch Laurent, der Hoteldirektor, überlegte wie der amerikanische Millionär reagieren würde, wenn er den Mord erfahren wird. Wie bringe ich es ihm nur bei?, dachte er.

„Wir müssen jetzt den Toten in den Eiskeller schaffen, dort ist es kalt und er kann nicht so schnell verwesen“, sprach Laurent und packte schon mal den Toten an den Füßen.

„Nehmen Sie, Herr Rehlein, seinen Kopf in die Hände und Sie, Herr Bloch, noch seinen Körper!“, schlug er vor. Einen toten Kopf hatte Rehlein in seinem bisherigen Leben noch nicht angefasst, deshalb machte er auch gleich einen Schritt rückwärts. Außerdem blutete der Tote natürlich stark und Rehlein wollte keine blutigen Hände haben oder womöglich sich noch seinen guten Anzug beschmutzen. Er schlug deshalb das Angebot vom Hoteldirektor aus.

„Wollen Sie nicht seinen Kopf in Ihre Hände nehmen?“, fragte er deshalb Bloch, der auch zögerte, aber dann sah, dass kein anderer sich bereit erklärt hatte und so teilte er den Anwesenden mit, dass er das Opfer bringen würde und zusammen mit dem Hoteldirektor den leblosen Körper in den Eiskeller schaffen würde. Er forderte sogleich eine Trage an, auf den man den Toten betten konnte.

Vanessa und auch Vincent huschten, wie zwei kleine nimmermüde Geister, vorbei und brachten bereits eine Liege mit, auf den die Herren den Leichnam legten. Dann ging es zwei Etagen nach unten mit dem Fahrstuhl. Dort befand sich der Eiskeller. Ulla Sommer registrierte die im Fahrstuhl angegebenen Etagen mit einem kurzen Blick. Mit in den Fahrstuhl wollte sie nicht. Im Eiskeller angekommen, wurde der Leichnam auf eine Pritsche gelegt. Dann gingen alle wieder nach oben und setzten sich, ohne ein Wort zu sagen, an ihre Tische.

Es herrschte eine beängstigende Nervosität im Raum, denn keiner wusste wohin er blicken sollte. Einen Aufruhr gab es jedoch nicht. Alle benahmen sich manierlich.

Ulla Sommer fasste sich als erste ein Wort und schlug vor, dass vielleicht eine schöne Melodie aus einer Schallplatte, abgespielt auf dem altmodischen Plattenspieler, helfen könnte, die Stimmung im Raum zu verbessern.

„Da gibt es doch nur Schlager aus den 60er Jahren!“, maulte Sonja Netter.

„Das passt doch gar nicht!“, meinte auch Claudine Meister, die natürlich dieser Sonja Netter entgegenkommen wollte, registrierte Ulla Sommer.

Da gab es doch diesen Schlager von Heidi Brühl: „Wir werden niemals auseinandergehen, wir werden immer zueinander stehen…, erinnert sich keiner daran?“, meldete sie sich wieder zu Wort. Dann summte sie die Melodie leise vor sich hin. An den toten Axel Lehmann dachte sie dabei allerdings gar nicht, sondern an diese liebe Heidi Brühl, die diesen Song so herzergreifend sang, dass einem dabei immer die Tränen kamen. Auch sie war nun schon viele Jahre tot, bedauerte Ulla Sommer.

Vanessa und Vincent hatten auch schon alles abgeräumt, es gab nichts mehr zu essen, ein paar Gläser standen noch auf den Tischen und es gab auch noch Wein. Doch niemand hatte noch Lust im Grand Salon zu verweilen. Und so gingen dann die ersten Gäste auch gleich nach oben in ihre Zimmer, denn zum Feiern oder Zusammensitzen war nach diesem tragischen Mord niemand zumute.

Auch Ulla Sommer ging in ihr Zimmer, setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und rief ihren Mann zu Hause an. Doch damit hatte sie kein Glück, es war niemand zu erreichen.

„Wilhelm liegt sicherlich schon längst im Bett, während ich hier noch mit einem Toten vorliebnehmen muss“, jammerte sie und zog sich langsam aus. Draußen war eine klare, mondhelle Nacht, die gar nicht zu diesem ganzen Hexenzauber in diesem altertümlichen Hotel passen wollte.

Dann löschte Ulla Sommer das Licht und schlief bis zum anderen Morgen durch.

DAS GRANDHOTEL

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