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La Pi­ne­ta

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Ama­lia saß auf ih­rem Lieb­lings­platz in ei­ner der tie­fen Fens­ter­ni­schen der Bi­blio­thek.

Der schwe­re Vor­hang, der das Fens­ter ver­barg, ver­barg auch sie. Die Lä­den wa­ren ge­gen die hoch­som­mer­li­che Hit­ze ge­schlos­sen. Wa­ren sie ge­öff­net, hat­te man einen gu­ten Blick über den Hof, den an­schlie­ßen­den Park und das schil­lern­de Was­ser des Sees hin­ter den Stäl­len. Nur das Schnur­ren des Ka­ters un­ter­brach die Stil­le.

Dun­kel­blon­de Lo­cken fie­len dem Mäd­chen über den Rü­cken.

Als sich die Tür öff­ne­te, ver­hielt sie sich ganz still. On­kel Ma­xi­mi­li­an. Er wür­de in sei­nen tie­fen Le­der­ses­sel sin­ken, einen Co­gnac trin­ken, die Hän­de fal­ten und ein­schla­fen. So­bald er schlief, konn­te Ama­lia un­ge­se­hen die Bi­blio­thek ver­las­sen. Aber dies­mal wur­de er von Fre­de­ri­co, ih­rem Cou­sin, be­glei­tet.

»Ich weiß wirk­lich nicht, was du an dem Mäd­chen fin­dest. War­um schickst du sie nicht in ein In­ter­nat?«

»Ich will die­se Dis­kus­si­on nicht im­mer wie­der füh­ren.« Max von Oss­tens Stim­me klang ge­nervt. »Das ist mei­ne Ent­schei­dung. Und nun lass mich al­lein.«

»Wie du meinst, Pa­pa, aber ich ver­steh es nicht. In ei­nem In­ter­nat wä­re sie gut be­treut, und wir müss­ten nicht Er­zie­he­rin­nen, Leh­rer und The­ra­peu­ten im Haus dul­den.«

Fre­de­ri­co klatsch­te die Reit­ger­te ge­gen sei­ne Stie­fel und zog die Tür laut zu. Sein Va­ter frag­te sich, was der Jun­ge ge­gen sei­ne Cou­si­ne hat­te. Selbst Fre­de­ri­cos Groß­mut­ter schien dem Char­me die­ses ver­wais­ten Kin­des zu er­lie­gen. Viel­leicht war es ge­nau das, was ihn in sei­ner An­ti­hal­tung be­stärk­te.

Fre­de­ri­co war ein ver­wöhn­ter Kna­be, der sei­nen Platz als Jüngs­ter in der Fa­mi­lie hat­te ab­ge­ben müs­sen, als Ama­lia als Vier­jäh­ri­ge vor gut acht Jah­ren ins Haus kam. Es wur­de Zeit, dach­te sein Va­ter, dass er sei­ne Ei­fer­sucht über­wand.

Ama­lia hör­te das scha­ben­de Ge­räusch, als ihr On­kel den Kris­tall­stöp­sel aus der Ka­raf­fe zog, um sich einen Co­gnac ein­zu­schen­ken. On­kel Ma­xi­mi­li­an war zwan­zig Jah­re äl­ter als ihr Va­ter Jo­hann. Sein dich­tes kur­z­es Haar war grau, wäh­rend das ih­res Va­ters noch dun­kel­blond wie ihr ei­ge­nes ge­we­sen war.

Sie kann­te den In­halt der Un­ter­hal­tung. Fre­de­ri­co moch­te sie nicht. Er är­ger­te sie, wann im­mer es ihm ge­fiel. Und es ge­fiel ihm oft.

Als Ama­li­as Va­ter sta­rb, war sie vier Jah­re alt ge­we­sen. An ih­re Mut­ter konn­te sie sich nicht er­in­nern.

War­um sie ih­ren Va­ter und sie ver­las­sen hat­te, wuss­te Ama­lia nicht. Da­mals war sie zu klein ge­we­sen, um Fra­gen zu stel­len, und jetzt gab es nie­man­den mehr, den sie fra­gen konn­te. On­kel Ma­xi­mi­li­an war ihr ein­zi­ger auf­find­ba­rer Ver­wand­ter. So war sie vor acht Jah­ren wie ein Post­pa­ket von Ham­burg nach Ita­li­en ge­schickt wor­den. Ih­re Er­in­ne­run­gen an ei­ne gro­ße Stadt, den Ha­fen und die Woh­nung mit dem Aus­blick auf ei­ne be­leb­te Stra­ße ver­blass­ten.

Ma­xi­mi­li­an reis­te in Ge­dan­ken drei­zehn Jah­re zu­rück.

Zum letz­ten Mal war er sei­nem Bru­der und des­sen Frau Bel­la vor mehr als zwölf Jah­ren be­geg­net. Er sah Bel­la noch vor sich. Sie war zau­ber­haft. Ei­ne Frau, die ihn in den Wahn­sinn trieb. Er woll­te sie, und er nahm sie sich.

Nie wie­der sprach Jo­hann ein Wort mit ihm. Bel­la ver­ließ ih­ren Mann und ihr Ba­by gleich nach der Ge­burt. Und jetzt war die­ser ver­hass­te Bru­der längst nicht mehr am Le­ben, und des­sen Toch­ter leb­te in sei­nem Haus.

Ma­xi­mi­li­an hat­te das Er­be sei­nes Va­ters an sich ge­ris­sen, die Ehe sei­nes Bru­ders zer­stört, und nun ge­hör­te auch Ama­lia ihm. Das Mäd­chen, ein Ab­bild sei­ner Mut­ter, er­in­ner­te ihn Tag für Tag an Bel­la und an das, was zwi­schen ih­nen ge­we­sen war. Aber er war kein Mann, der sich über Din­ge auf­reg­te, die der Ver­gan­gen­heit an­ge­hör­ten.

In ge­wis­ser Wei­se ver­stand er sei­nen Sohn. Fre­de­ri­co war ihm sehr ähn­lich. Un­ver­söhn­lich in sei­ner Ab­leh­nung. Und un­er­bitt­lich, wenn es um sein Ter­ri­to­ri­um ging.

Ama­lia war ein un­ab­hän­gi­ges Mäd­chen. Sie be­klag­te sich nie über Fre­de­ri­co. Wenn er sie zu de­mü­ti­gen ver­such­te, nahm sie es sto­isch hin, was ihn zu noch grö­be­ren Scher­zen ver­an­lass­te.

Auch Ma­xi­mi­li­an hat­te mit dem spät ge­bo­re­nen Bru­der die Zu­nei­gung sei­ner El­tern tei­len müs­sen. Zwan­zig Jah­re lang war er ihr Kron­prinz, ihr Stolz ge­we­sen.

Jo­hann ent­wi­ckel­te sich zu ei­nem Wun­der­kind. Mit drei Jah­ren be­gann er Kla­vier zu spie­len, mit fünf be­kam er sei­ne ers­te Gei­ge. Sein mu­si­ka­li­scher Hö­hen­flug war un­auf­halt­sam. Mit zwan­zig Jah­ren war er ers­ter Gei­ger in ei­nem gro­ßen Or­ches­ter. Er reis­te um die gan­ze Welt. Wäh­rend Jo­hann sich sei­ner Kunst wid­me­te, wid­me­te sich Ma­xi­mi­li­an den Fir­men sei­nes Va­ters und sorg­te da­für, dass sein Bru­der am En­de kei­nen Hel­ler er­hielt.

Dass sein Va­ter nicht mehr Herr sei­ner Sin­ne war, be­güns­tig­te Ma­xi­mi­li­ans Plä­ne. Nach­dem sei­ne und Jo­hanns Mut­ter ge­stor­ben war, ver­lor sein Va­ter nicht nur jeg­li­ches In­ter­es­se an den Ge­schäf­ten, son­dern auch sei­nen Ver­stand. Es war nicht schwer, ihm ein­zu­re­den, dass Jo­hann nichts mehr mit ihm zu tun ha­ben woll­te. Der Al­te ent­erb­te sei­nen jün­ge­ren Sohn und über­schrieb al­les sei­nem Äl­tes­ten.

Als Jo­hann zur Be­er­di­gung sei­nes Va­ters an­reis­te, brach­te er sei­ne wun­der­schö­ne jun­ge Frau mit. Ma­xi­mi­li­an konn­te den Blick nicht von ihr wen­den. Die ge­ra­de Na­se, ih­re schön ge­schwun­ge­nen Lip­pen. Das streng zu­rück­ge­bun­de­ne Haar schim­mer­te. Er hat­te vie­le Frau­en ge­kannt. Die­se woll­te er, auch, weil sie die Frau sei­nes Bru­ders war.

Ma­ja war ei­ne wun­der­ba­re Kö­chin. Und sie lieb­te Ama­lia. Das Mäd­chen rühr­te sie.

Ama­lia war so zier­lich, viel zu dünn, und manch­mal sah sie trau­rig aus. Als sie vor acht Jah­ren kam, sprach sie nicht. Ma­ja schob es dar­auf, dass die Klei­ne kein Ita­lie­nisch konn­te. Aber das war es nicht. Auch, nach­dem sie al­les ver­stand, sprach sie nicht. Ama­lia sag­te kein Wort. Um­so mehr drück­ten ih­re strah­len­den Au­gen aus, wenn sie sich freu­te, die sich ver­schlei­er­ten, wenn sie trau­rig war.

Ama­lia schmieg­te sich an Ma­ja, wenn sie ihr einen Le­cke­r­bis­sen zu­steck­te, und sie lä­chel­te so vol­ler Dank­bar­keit, dass das Herz der Kö­chin schmolz.

Die Fa­mi­lie traf sich zum Abend­es­sen in der gro­ßen ver­glas­ten Ve­ran­da. Ei­nem ganz in Früh­lings­grün und Weiß ge­hal­te­nen Raum mit Blick auf die sanf­ten Hü­gel ge­gen­über.

The­resa be­stand dar­auf, dass die Fa­mi­lie so­oft wie mög­lich an ei­nem Tisch zu­sam­men­kam. Fre­de­ri­co stand am Fens­ter und sah ge­lang­weilt hin­aus in die Dun­kel­heit. Sei­ne Groß­mut­ter Ma­ria be­trat in die­sem Mo­ment das Zim­mer.

»Wo ist The­resa? Kann mei­ne Toch­ter nicht ein ein­zi­ges Mal pünkt­lich sein?« Sie sah sich um.

Ma­xi­mi­li­an be­grüß­te sei­ne Schwie­ger­mut­ter. »Nein«, sag­te er spöt­tisch, »das kann sie nicht. Ein ekla­tan­ter Er­zie­hungs­feh­ler.«

»Re­de kei­nen Un­sinn, ich ha­be sie an­ders er­zo­gen.«

Die al­te Da­me ließ sich auf ei­nem Stuhl am Tisch nie­der. Sie war schlank und saß auf­recht, oh­ne die Rü­cken­leh­ne in An­spruch zu neh­men.

»Du hast sie gar nicht er­zo­gen.«

Ma­ria schmun­zel­te. »Hat sie dir das er­zählt?«

»Ja, hat sie.«

»Das stimmt, ich war zu häu­fig auf Rei­sen.«

Ma­ria be­trach­te­te ih­ren Schwie­ger­sohn. Er sah gut aus und war ein sehr groß­zü­gi­ger Mann. Kaum jün­ger als sie selbst. Wenn sie Lust auf einen jün­ge­ren Lieb­ha­ber ge­habt hät­te … dem Al­ter nach hät­te er bes­ser zu ihr ge­passt. Aber er war zu alt, um sich ei­ne noch äl­te­re Ge­lieb­te zu neh­men, dach­te sie zy­nisch.

»Wo ist Ama­lia?«

Fre­de­ri­co wand­te sich end­lich sei­ner Groß­mut­ter zu. »Der Stock­fisch ist auch noch nicht da.«

Ma­ria hob die Brau­en. Ihr jüngs­ter En­kel ließ kei­ne Ge­le­gen­heit aus, sich über sei­ne Cou­si­ne lus­tig zu ma­chen. Die Tür öff­ne­te sich, und The­resa trat ein.

»End­lich, Kind, du weißt, dass ich nicht ger­ne war­te.«

»Ich weiß, Ma­ma.« Sie be­grüß­te ih­re Mut­ter mit ei­nem flüch­ti­gen Kuss. »Ich ha­be den Nach­mit­tag im Stall ver­bracht und muss­te mich noch um­zie­hen.«

Ih­ren Mann be­grüß­te sie mit ei­nem Lä­cheln. Sie konn­te ihm an­se­hen, was er dach­te. Raf­fa­el, der jun­ge Ver­wal­ter, war ein fä­hi­ger Mann und Ma­xi­mi­li­an ein Dorn im Au­ge.

»Gu­ten Abend, mein Lie­ber.«

Sie streif­te die Wan­ge ih­res Man­nes mit den Lip­pen. Ver­füh­re­ri­sche Lip­pen, dach­te er.

Ama­lia im Schlepp­tau en­ter­te Ma­da­me Du­rand den Raum. »Ich ha­be sie am See ge­fun­den. Zum Um­zie­hen war kei­ne Zeit.«

»Was­ser ist der na­tür­li­che Le­bens­raum ei­nes Fi­sches.« Fre­de­ri­co form­te den Mund zu ei­nem run­den Fisch­maul.

»Fre­de­ri­co!« The­resas Au­gen wur­den schmal.

Sie sah hin­über zu Ama­lia. Die stand auf­recht hin­ter ih­rem Stuhl. Mit kei­ner Be­we­gung, kei­nem Blick gab sie zu er­ken­nen, dass sie die höh­ni­sche Be­mer­kung ih­res Cous­ins ge­hört hat­te.

»Wol­len wir heu­te noch es­sen? Ich will mich früh zu­rück­zie­hen.« Ma­ri­as Fin­ger klopf­ten un­ge­dul­dig auf die Tisch­plat­te. Ihr Ge­sichts­aus­druck sprach Bän­de. Als sie auf­blick­te, fing sie Ama­li­as win­zi­ges Lä­cheln auf, das so­fort wie­der ver­schwand. Ma­ri­as Lip­pen zuck­ten.

The­resa setz­te sich. Ma­ja kam mit ei­ner Schüs­sel voll damp­fen­der Spa­ghet­ti her­ein. Es roch nach Pil­zen, dem er­di­gen Duft der Trüf­fel. Sie zwin­ker­te Ama­lia zu und stell­te einen Tel­ler Spa­ghet­ti Bo­lo­gne­se mit ei­ner ex­tra Por­ti­on Par­me­san vor sie hin. Ama­li­as Lä­cheln be­lohn­te sie.

»Du könn­test lang­sam mal an­fan­gen, das zu es­sen, was wir al­le es­sen.« Fre­de­ri­co stopf­te sich ei­ne über­vol­le Ga­bel in den Mund.

»Und du, mein Jun­ge, könn­test lang­sam mal an­fan­gen, an­stän­dig zu es­sen.«

Über­rascht sah Fre­de­ri­co sei­ne Groß­mut­ter an. Sie misch­te sich mit ver­blüf­fen­der Takt­lo­sig­keit in al­les ein, al­ler­dings höchst sel­ten in Er­zie­hungs­an­ge­le­gen­hei­ten. Fre­de­ri­co lief rot an.

»Hast du et­was von Kon­stan­tin ge­hört?« Ma­ria wand­te sich an ih­re Toch­ter und be­ach­te­te ih­ren En­kel nicht wei­ter.

The­resa frag­te sich, ob er wü­tend oder be­schämt war. Ihr jüngs­ter Sohn war so ganz an­ders als sein Stief­bru­der. Sie hat­te Kon­stan­tin mit in die Ehe ge­bracht. Ma­xi­mi­li­an war nicht sein bio­lo­gi­scher Va­ter.

Sie hat­te ih­ren ers­ten Mann ge­liebt und ge­glaubt, nie mehr einen Mann so sehr lie­ben zu kön­nen, mit die­ser glü­hen­den Lei­den­schaft und der Angst, ihn zu ver­lie­ren. Tho­mas hat­te ei­ni­ge Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht, ein paar The­a­ter­stü­cke ge­schrie­ben, aber erst am An­fang sei­ner Kar­rie­re ge­stan­den. Sie war drei­und­zwan­zig und prak­tisch mit­tel­los, als er sta­rb.

The­resa war aus­ge­bil­de­te Pfer­de­wir­tin. Auf ei­ne An­zei­ge in ei­ner Pfer­de­zeit­schrift hin, be­wa­rb sie sich um die Stel­le. Sie schnall­te ih­ren da­mals vier Jah­re al­ten Sohn in ih­rem knall­ro­ten Mi­ni an, setz­te sich in ihr Au­to und fuhr in die Tos­ka­na. Das Gut lag in der Nä­he Gros­se­tos in­mit­ten der Ma­rem­ma. Als sie ausstieg, kam ihr ein Mann ent­ge­gen. Si­cher zwan­zig Jah­re äl­ter als sie selbst. Ge­bräunt, at­trak­tiv und selbst­si­cher.

»The­resa, ich ha­be dich et­was ge­fragt.«

»Ent­schul­di­ge, Mut­ter.«

Ma­ria wie­der­hol­te ih­re Fra­ge. Ama­lia zeig­te zum ers­ten Mal an die­sem Abend In­ter­es­se. Auch Fre­de­ri­co er­war­te­te die Ant­wort sei­ner Mut­ter.

»Ich den­ke, er wird am Wo­chen­en­de hier sein.«

Ama­lia be­müh­te sich, ih­re Freu­de nicht all­zu deut­lich zu zei­gen. Sie hat­te ge­lernt, in Fre­de­ri­cos Ge­gen­wart vor­sich­tig zu sein. Wenn er über­haupt an je­man­dem hing, so war das sein äl­te­rer Bru­der. Dass Kon­stan­tin sei­ne klei­ne Cou­si­ne lieb­te, schür­te sei­ne Ei­fer­sucht.

Ma­ja brach­te ei­ne Plat­te mit Vi­tel­lo al lat­te und ver­schie­de­nen Ge­mü­sen her­ein.

»Wo ist Ali­cia?«

»Sie hat heu­te frei, Si­gno­ra.«

Es war un­ge­wöhn­lich, dass Ma­ja selbst auf­trug.

»Ist kei­nes der Mäd­chen mehr im Haus?«

»Nein, sie woll­ten zu­sam­men auf das Fest un­ten im Dorf ge­hen. Bei Sil­vio ist Tanz.«

Ama­lia lief das Was­ser im Mund zu­sam­men. Der in Milch ge­schmor­te Kalbs­bra­ten ge­hör­te zu ih­ren Lieb­lings­ge­rich­ten.

»Wir neh­men uns selbst, Ma­ja, es ist gut.«

Ama­lia be­ob­ach­te­te be­sorgt, wie die Plat­te die Run­de mach­te, bis sie end­lich bei ihr an­kam. Ihr On­kel aß und trank un­mä­ßig. Fre­de­ri­co be­saß den ge­sun­den Ap­pe­tit ei­nes Neun­zehn­jäh­ri­gen. Ma­ria nahm sich nur ei­ne Schei­be des zar­ten Flei­sches.

Ma­da­me Du­rand ver­zich­te­te ganz dar­auf. »Es­sen am spä­ten Abend ist un­ge­sund.« Sie aß nur ein we­nig von dem Ge­mü­se.

The­resa leg­te Ama­lia zwei Bra­ten­schei­ben auf den Tel­ler. Ei­ne zar­te Be­rüh­rung ih­rer Hand war Ama­li­as Dank. The­resa lä­chel­te ihr zu. »Das magst du doch be­son­ders ger­ne?«

Ama­lia nick­te. Wie scha­de, dass sie nicht spricht, dach­te The­resa. Nach Aus­kunft der Ärz­te, lag kein kör­per­li­cher Scha­den vor. Ama­lia war ver­stummt, als ihr Va­ter sta­rb.

Aber die Mie­ne des Kin­des drück­te so vie­les aus, war wun­der­bar aus­drucks­voll, und ne­ben ihr lag im­mer ein Ta­blet, auf dem sie in Win­desei­le schrei­ben konn­te. Sie sah auf das Dis­play, das Ama­lia leicht zu ihr dreh­te. »Wie geht es Lu­na?«, stand da.

Lu­na, The­resas mond­fa­r­be­ne Stu­te, be­kam ihr ers­tes Foh­len, und Ama­lia fie­ber­te ihm ent­ge­gen.

»Wenn es ein Hengst wird, be­kommst du ihn«, hat­te The­resa ihr ver­spro­chen. »Du kannst ihn auf­zie­hen und ler­nen, wie man mit ei­nem ei­ge­nen Pferd um­geht.«

The­resa sag­te: »Lu­na ist ner­vös und ich auch, viel­leicht blei­be ich heu­te Nacht wie­der im Stall.«

»Darf ich mit­kom­men?«

»Nein, das ist kei­ne gu­te Idee. Zu vie­le Men­schen wür­den sie noch mehr be­un­ru­hi­gen.«

Ama­lia nick­te.

»Ich neh­me an«, sag­te Ma­xi­mi­li­an und ließ die Ga­bel sin­ken. »Raf­fa­el wird mit dir wa­chen?«

»Mög­lich.«

»Ich er­war­te dich nach dem Es­sen, Ama­lia.« Ma­ria bat nie­mals um et­was, sie leg­te dar, was sie woll­te, und er­war­te­te, dass man ihr ge­horch­te.

Das Mäd­chen nick­te.

Ma­da­me Du­rand sah aus, als ha­be sie in ei­ne Zi­tro­ne ge­bis­sen. »Das Kind hat mor­gen sehr früh ei­ne Reit­stun­de«, wag­te sie ein­zu­wen­den.

Ma­ria er­hob sich. »Ama­lia ist kein Kind mehr, das am frü­hen Abend ins Bett ge­schickt wer­den muss. Sie ist fast drei­zehn.«

Au­to­ma­tisch sah The­resa auf ihr Hand­ge­lenk. Fast zwei­und­zwan­zig Uhr. Sie schob ih­ren Stuhl zu­rück. »Es wird auch Zeit für mich«. Sie sah ih­ren Mann an. »War­te nicht auf mich, Ma­xim. Es kann spät wer­den.«

»Ein Foh­len?«

»Ja, Lu­n­as Foh­len.«

Du hast, wie üb­lich, nicht zu­ge­hört, dach­te sie.

»Ich hof­fe, noch die­se Nacht und nicht erst mor­gen früh?« Ihr Mann hielt ih­ren Blick einen Mo­ment lang fest.

Noch wäh­rend sie sich für ei­ne Nacht­wa­che im Stall um­zog, hör­te sie den Mo­tor des Ma­se­ra­ti. Das Ca­brio ih­res Man­nes fuhr vom Hof. Ma­xim war zu sei­ner der­zei­ti­gen Ge­lieb­ten un­ter­wegs.

Er war noch im­mer ein at­trak­ti­ver Mann. Sie hat­te ihn vor gut zwan­zig Jah­ren ge­hei­ra­tet, weil er char­mant war, ihr Si­cher­heit bot und mit ih­rem Sohn spon­tan Freund­schaft ge­schlos­sen hat­te.

Nach ei­nem Rund­gang über das Gut und durch die Stäl­le hat­te er ge­sagt: »Sie kön­nen den Job ha­ben, aber …«

»Aber?«

»Es gibt ei­ne Be­din­gung.«

»Wel­che Be­din­gung?«

»Sie müs­sen mich hei­ra­ten.«

Sie hat­te ge­lacht und ge­fragt: »Wol­len Sie das Ge­halt spa­ren?«

Ein hal­b­es Jahr spä­ter wur­de sie Frau von Oss­ten und zog mit ih­rem Sohn und ih­rer Mut­ter in das rie­si­ge Haus in der Ma­rem­ma.

Sie war Ma­xi­mi­li­ans vier­te Ehe­frau. Sei­ne Ehen wa­ren kin­der­los ge­blie­ben. Als sie schwan­ger wur­de, kann­te sei­ne Freu­de kei­ne Gren­zen.

Ma­xi­mi­li­an dach­te an die ers­te Be­geg­nung mit The­resa. Schlank und kraft­voll, ei­ne ge­ball­te La­dung Ener­gie. Oh­ne er­kenn­ba­re Ei­tel­keit, ver­lo­ckend, oh­ne zu lo­cken.

Ihr dich­tes ge­well­tes Haar glänz­te wie das Ge­fie­der ei­nes Ra­ben. Sie be­saß die­se na­tür­li­che Ele­ganz, die nicht er­lern­bar war. In sei­nen Au­gen wa­ren al­le Frau­en sich ähn­lich. The­resa bil­de­te die Aus­nah­me. Al­les an ihr war ein­zig­ar­tig, be­son­ders und un­wi­der­steh­lich. Ein Hauch von Me­lan­cho­lie um­gab sie. Sie war da­mals noch nicht lan­ge Wit­we ge­we­sen, er­in­ner­te er sich.

The­resa be­klag­te sich nie. Sie mach­te kei­ne Sze­nen, nahm sei­ne Es­ka­pa­den hin. Manch­mal schien ihm, als ob sie gar nicht be­merk­te, wenn er sich ei­ner an­de­ren Frau zu­wand­te. War das so, weil es ihr egal war? Er ihr egal war? Das kä­me ei­ner Krän­kung gleich. Ja, er war ge­kränkt. Ih­re schein­ba­re Gleich­gül­tig­keit war Gift für sein Ego.

Ma­xi­mi­li­an drück­te das Gas­pe­dal durch. Er fuhr Rich­tung Gros­se­to. Dort­hin, wo ei­ne Frau auf ihn war­te­te, die ihn be­merk­te. Si­do­nie, die Frau sei­nes Freun­des und Ge­schäfts­part­ners Re­na­to, der sich mehr auf Rei­sen als zu Hau­se auf­hielt, war ein blon­des Ver­spre­chen. Un­ge­hemmt und oh­ne die ge­rings­te An­mu­tung von Mo­ral. Ei­ne se­xu­ell un­ter­for­der­te Fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­ge.

Rück­sichts­los fuhr er viel zu schnell über die kur­vi­ge schma­le Stra­ße.

Ei­ne Stun­de nach sei­ner Ge­burt stand der klei­ne Hengst auf zit­tern­den Bei­nen im hoch ein­ge­streu­ten Heu.

Hell­brau­nes Fell. Sei­ne glän­zen­den Au­gen um­gab ein wei­ßer Kranz.

The­resa lach­te. »Es sieht aus, als ha­be er sich ei­ne Bril­le auf­ge­setzt.«

Raf­fa­el war da­bei, die Ab­fohl­box zu säu­bern. Die Nach­ge­burt ließ er in einen Ei­mer fal­len. Die wür­de sich die Tier­ärz­tin spä­ter an­se­hen.

»Das hast du gut ge­macht.« The­resa strei­chel­te den Hals ih­rer Stu­te.

Lu­na schnaub­te lei­se und blies war­men Atem in ihr Ge­sicht. Es war schon die drit­te Nacht, in der sie bei Lu­na ge­wacht hat­ten. Die Stu­te war un­ru­hig ge­we­sen.

Das Foh­len hat­te den Weg zu den Zit­zen sei­ner Mut­ter ge­fun­den.

The­resa war im­mer wie­der be­rührt, wenn sich die­se klei­nen We­sen auf ih­re Streich­holz­bein­chen kämpf­ten und schon kurz nach der Ge­burt zu trin­ken be­gan­nen.

Mü­de hock­te sie auf ei­nem al­ten Hocker, stütz­te sich auf die Knie und leg­te ihr Ge­sicht in bei­de Hän­de. Sie hör­te Raf­fa­el hin und her ge­hen, be­ru­hi­gen­de Lau­te von sich ge­ben. Was­ser lief. Dann spür­te sie ihn hin­ter sich, sei­ne war­men kräf­ti­gen Hän­de auf ih­ren Schul­tern. Sie stöhn­te, als er sanft ih­re ver­spann­ten Schul­tern mas­sier­te. Noch herrsch­te Stil­le im Stall, nur un­ter­bro­chen von lei­sem Schnau­ben und dump­fem Stamp­fen, wenn ei­nes der Pfer­de sich be­weg­te. The­resa leg­te den Kopf zu­rück und sah zu Raf­fa­el auf.

Es war ge­ra­de sechs Uhr früh, als sie über den Hof auf das Her­ren­haus zu­ging. Sie hör­te die Stall­bur­schen und ih­ren Stall­meis­ter, der sei­ne An­wei­sun­gen für den Tag gab. Er war be­liebt, aber auch ge­fürch­tet. Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten dul­de­te er nicht.

Jetzt hör­te sie ihn brül­len: »Ich stül­pe dir die Nach­ge­burt über die Oh­ren, du Schwei­ne­bra­ten.«

Da hat­te wohl ei­ner der Stall­bur­schen einen Feh­ler ge­macht.

The­resa lä­chel­te. Sei­ne Stim­me wur­de lei­se, wenn er mit den Pfer­den sprach.

Sie konn­te sich kei­nen bes­se­ren Stall­meis­ter und Ver­wal­ter vor­stel­len. Er war jung, jün­ger als sie selbst, aber er be­saß ei­ne na­tür­li­che Au­to­ri­tät, die nicht durch sei­ne Ge­burt zu er­klä­ren war.

Sei­ne El­tern wa­ren schlich­te Bau­ern ge­we­sen. Sei­ne Her­kunft, nun ja, eher ein­fach, so­gar sehr ein­fach.

Ih­re Ge­dan­ken wan­der­ten vier Jah­re zu­rück zu ih­rem Lieb­lings­platz am See. Ei­ne rie­si­ge Trau­e­r­wei­de auf ei­ner Land­spit­ze spen­de­te Schat­ten, wenn die Hit­ze des Som­mers kaum zu er­tra­gen war. Ih­re Ran­ken hin­gen bis tief auf die Er­de, bil­de­ten küh­le Räu­me aus grü­nen Vor­hän­gen. Dort­hin zog sie sich zu­rück, wenn sie al­lei­ne sein woll­te. Von dort aus schwamm sie zu der win­zi­gen In­sel mit­ten im See. Ein ein­sa­mer Ort. Hier war er ihr zum ers­ten Mal au­ßer­halb des Stal­les be­geg­net.

Er stieg aus dem Was­ser, nackt wie Po­sei­don und starr­te auf sie hin­un­ter. Sie lag re­gungs­los auf ih­rem Hand­tuch und starr­te zu­rück. Ein bron­ze­ner mus­ku­lö­ser Kör­per.

Ih­re Zun­ge strich über ih­re tro­ckene Ober­lip­pe. Raf­fa­el dreh­te sich um und ver­schwand zwi­schen den her­ab­hän­gen­den Zwei­gen. Das Son­nen­licht mal­te un­re­gel­mä­ßi­ge Fle­cken auf den Bo­den. The­resa schloss die Au­gen, aber sein Bild hat­te sich auf ih­rer Netz­haut ein­ge­brannt. Als sie die Au­gen wie­der auf­schlug, stand er, be­klei­det mit ver­wa­sche­nen Jeans, über ihr. »Es tut mir leid«, sag­te er. »Ich ha­be Sie ge­stört.«

Er sah nicht weg, als sie sich auf­rich­te­te und ihr Ba­de­tuch um sich schlang.

»Mein Lieb­lings­platz«, sag­te sie und fuhr sich mit den Fin­gern durchs feuch­te Haar.

»Mei­ner auch.«

Er ließ sich auf die Knie nie­der, griff nach ih­rem Tuch und öff­ne­te es be­hut­sam. Sie wehr­te sich nicht. Er drück­te sie zu­rück. The­resa ha­lf ihm, sich sei­ner Jeans zu ent­le­di­gen. Sie ran­gen mit­ein­an­der, bis sie stöhn­ten, bis zum En­de. Er be­saß sie und sie ihn, rück­halt­los. Bei­de Ge­win­ner. Sie lag an ihm, at­me­te sei­nen Duft, spür­te Dank­bar­keit.

Er sag­te: »Ich hat­te Hun­ger nach dir.«

Sie wür­de die­sen Nach­mit­tag nie ver­ges­sen.

The­resa hat­te nicht be­reut, Ma­xi­mi­li­an ge­hei­ra­tet zu ha­ben. Aber die de­mü­ti­gen­de Er­kennt­nis, mit ei­nem Mann zu le­ben, der sie nicht nur ein­mal be­trog, traf sie mehr, als sie sich ein­ge­stand. Sie er­zähl­te Raf­fa­el al­les. Sie ent­blößte ih­re See­le wie noch nie­mals zu­vor. Ei­ne see­li­sche Be­frei­ung wie zu­vor die kör­per­li­che. Er hielt sie fest, bis sie ein­ge­schla­fen war.

Als sie er­wach­te, war er ge­gan­gen.

Sie zog sich an und lief durch den schma­len Gür­tel ei­nes Pi­ni­en­wäld­chens. Lu­na be­grüß­te sie mit lei­sem Schnau­ben.

»Ha­be ich dich zu lan­ge al­lei­ne ge­las­sen?«

Auf dem Wald­bo­den be­merk­te sie Spu­ren, die ihr sag­ten, dass ih­re Stu­te kei­nes­wegs al­lei­ne ge­we­sen war. Als er sein Pferd ne­ben ih­rer Stu­te an­ge­bun­den hat­te, muss­te er ge­wusst ha­ben, dass er sie un­ter der Wei­de fin­den wür­de. Sie lä­chel­te.

Ma­ri­as Räu­me la­gen in ei­nem der Sei­ten­flü­gel des Hau­ses, das ih­re Toch­ter mit ih­rer Fa­mi­lie be­wohn­te.

Als Pi­a­nis­tin war sie in der gan­zen Welt auf­ge­tre­ten. Nach­dem sie sich das Hand­ge­lenk so kom­pli­ziert ge­bro­chen hat­te, dass an Kon­zer­te nicht mehr zu den­ken war, muss­te sie sich et­was ein­fal­len las­sen.

Der Bruch war ge­heilt, die Schmer­zen ver­gin­gen nie. Sie hat­te un­g­lü­ck­lich Ab­schied von der Büh­ne ge­nom­men und war dem Ruf der Hoch­schu­le für Mu­sik und The­a­ter in Ham­burg ge­folgt. Jun­ge be­gab­te Schü­ler aus­zu­bil­den hat­te ihr zu­ge­sagt. Auf die­se Wei­se konn­te sie ih­re Lie­be zur Mu­sik wei­ter­ge­ben.

Ein ita­lie­ni­scher Kol­le­ge, der an der Ac­ca­de­mia Mu­si­ca­le in Sie­na lehr­te, hat­te In­ter­es­se an Ma­ri­as Mit­a­r­beit ge­zeigt. Ein­mal in der Wo­che wür­de sie Kur­se ge­ben kön­nen.

Ma­xi­mi­li­an hat­te ihr ei­ne groß­zü­gi­ge Eta­ge in ei­nem der Sei­ten­flü­gel des Guts­hau­ses an­ge­bo­ten. Al­ler­dings, er­in­ner­te sie sich, mit der Be­din­gung, dass er nicht den gan­zen Tag »Kla­vier­ge­klim­per« hö­ren müss­te. Sie hat­te nicht ge­wusst, ob sie em­pört sein oder la­chen soll­te, und sich ent­schie­den, es amüsant zu fin­den.

Ma­xi­mi­li­an war nur we­ni­ge Jah­re jün­ger als sie selbst und der amu­sischs­te Mensch, den sie je ken­nen­ge­lernt hat­te. Au­ßer Geld, sei­nen Scha­fen und Frau­en in­ter­es­sier­te ihn nichts. In ge­nau die­ser Rei­hen­fol­ge. Ja, er war ein char­man­ter Mann, ei­ner dem die Frau­en zu Fü­ßen la­gen, ein Ge­ni­e­ßer, der ger­ne gut aß und trank.

Wenn er so wei­ter­mach­te, wür­de er bald wie ein Fass aus­se­hen, dach­te sie.

Aber noch hat­te er sich ei­ne er­staun­lich gu­te Fi­gur er­hal­ten. Dass er ih­re Toch­ter be­trog, konn­te sie ihm nicht ver­zei­hen. An­de­rer­seits, das wuss­te sie, ging sie The­resas Ehe nichts an.

Sie strei­chel­te den cre­me­fa­r­be­nen Ma­rem­ma- Hund zu ih­ren Fü­ßen. »Du darfst gleich noch mal raus, Lud­wig.«

»Non­na?« Die Tür öff­ne­te sich. Ama­lia stob wie ein Wir­bel­wind in den Sa­lon. Sie ließ sich, wie der Hund, zu Ma­ri­as Fü­ßen nie­der.

»Wie geht es mei­ner Schü­le­rin?« Ma­ria strich Ama­lia über die Lo­cken. »Willst du noch ein biss­chen spie­len?«

Ma­ria öff­ne­te den De­ckel ih­res Flü­gels und stell­te den Sitz des Kla­vier­ho­ckers hö­her. Wäh­rend Ama­lia spiel­te, frag­te sie sich, war­um das Kind mit ihr sprach, aber mit nie­man­dem sonst. Ama­lia wech­sel­te mü­he­los von Deutsch zu Fran­zö­sisch zu Ita­lie­nisch. Sie sprach mit Ama­lia vor­wie­gend Deutsch, um sie die Spra­che ih­rer El­tern nicht ver­ges­sen zu las­sen.

Die Klei­ne hat einen wun­der­bar sanf­ten An­schlag. Ja, dach­te sie, das Kind ist be­gabt.

Dass es für ei­ne Lauf­bahn als Pi­a­nis­tin reich­te, be­zwei­fel­te sie. Sie wuss­te, wie hart ein sol­ches Le­ben war. Man wür­de se­hen. Ei­ner ih­rer liebs­ten Kom­po­nis­ten war Cho­pin. Ma­ria lausch­te der Mu­sik.

Er­staun­lich für ein Kind in die­sem Al­ter, dach­te sie.

Aber an Ama­lia war al­les er­staun­lich. Ih­re Freund­lich­keit und die stoi­sche Ru­he, mit der sie die kras­ses­ten Aus­brü­che ih­res Cous­ins hin­nahm. Sie ließ sich nicht pro­vo­zie­ren. Viel­leicht blieb die Sprach­lo­sig­keit die ein­zi­ge Mög­lich­keit, sich zu weh­ren. Zu weh­ren ge­gen ei­ne Fa­mi­lie, die sie zwar auf­ge­nom­men hat­te, in die sie aber emo­ti­o­nal we­nig ein­ge­bun­den war.

Ma­ria hat­te mit ih­rem Arzt dar­über ge­spro­chen. Er war nicht so über­rascht.

»Et­was bringt sie zum Schwei­gen. Sie könn­te das nicht durch­hal­ten, wenn es be­wusst ge­schä­he. Es war si­cher ein Schock für sie, als ihr Va­ter sta­rb und sie aus ih­rem ge­wohn­ten Um­feld her­aus­ge­ris­sen wur­de.«

»Aber war­um spricht sie mit mir?«

»Den­ken Sie dar­über nach. Viel­leicht gibt es ei­ne Ver­bin­dung über Sie zu ih­rem Va­ter.«

Es war seit Jah­ren Ama­li­as und ihr Ge­heim­nis. Ma­ria be­fürch­te­te, dass das Mäd­chen auch ihr ge­gen­über ver­stum­men wür­de, wenn sie die­ses Ge­heim­nis lüf­te­te.

Sie er­in­ner­te sich, dass Ama­lia ih­re Räu­me zum ers­ten Mal be­tre­ten hat­te, wäh­rend sie sich ein Vi­o­lin­kon­zert an­hör­te. Ein hal­b­es Jahr nach ih­rer An­kunft. Sie hat­te sich stumm auf einen Stuhl ge­setzt und zu­ge­hört, bis das Stück zu En­de war.

»Das war mein Pa­pa«, sag­te die da­mals knapp Fünf­jäh­ri­ge.

Ma­ria glaub­te, nicht recht ge­hört zu ha­ben. Sie hör­te die leicht raue Stim­me des klei­nen Mäd­chens zum ers­ten Mal, und es war tat­säch­lich ei­ne al­te Auf­zeich­nung aus der Bo­s­ton Sym­phony Hall mit dem Or­ches­ter ih­res Va­ters.

Von die­sem Zeit­punkt an hat­te sie Ama­lia un­ter­rich­tet.

Ma­ria er­hob sich und öff­ne­te Fens­ter und Lä­den weit. Jetzt nahm die Hit­ze lang­sam ab, und ein leich­ter Wind strich durch die Räu­me. Sie lä­chel­te, als sie un­ten Ma­da­me hin und her ge­hen sah. Sie war­te­te ganz of­fen­sicht­lich auf ih­re Schutz­be­foh­le­ne.

Ma­ria wand­te sich um und sag­te: »Ama­lia, ich glau­be es wird Zeit. Lauf hin­un­ter, Ma­da­me Du­rand er­war­tet dich.«


Ma­da­me Du­rand sah Ama­lia ent­ge­gen.

Seit acht Jah­ren be­treu­te sie das Kind, das ihr lang­sam ent­wuchs.

Ama­li­as noch kna­ben­haf­te Fi­gur wan­del­te sich. Die grau­blau­en Au­gen leuch­te­ten neu­gie­rig auf die Welt. Das dun­kel­blon­de Haar zu ei­nem üp­pi­gen Pfer­de­schwanz ge­bun­den, be­ton­te ihr schma­les Ge­sicht.

Sie war klug, konn­te in drei Spra­chen ge­bär­den und schrei­ben. Nach ei­ner Prü­fung war sie di­rekt in die zwei­te Klas­se des Gym­na­si­ums ein­ge­schult wor­den. Wenn auch we­der The­resa noch Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten Zeit fan­den, sich um ih­re Nich­te zu küm­mern, so sorg­ten sie im­mer­hin für ei­ne an­ge­mes­se­ne Er­zie­hung. Die Ein­zi­ge, die sich mit Ama­lia be­schäf­tig­te, war Ma­ria. Auch wenn die al­te Da­me das, in Ma­da­mes Au­gen, zu den un­ge­eig­nets­ten Zei­ten tat. Es war nach zwei­und­zwan­zig Uhr, als das Mäd­chen aus dem Flü­gel des Hau­ses trat, in dem Ma­ria leb­te. Ama­lia sah glü­ck­lich aus, wenn sie von ihr kam.

»Du hast wun­der­schön ge­spielt«, sag­te Ma­da­me, »aber jetzt wird es wirk­lich Zeit.« Ama­lia nick­te. Sie konn­te nie ein­schla­fen, wenn Kon­stan­tins Be­such be­vor­stand.

Kon­stan­tin hat­te ihr das Le­sen bei­ge­bracht, sich Ge­schich­ten für sie aus­ge­dacht und ihr die Angst vor den Pfer­den ge­nom­men. Auf sei­nen Schul­tern hat­te er sie durch den Stall ge­tra­gen und sie je­dem ein­zel­nen Pferd vor­ge­stellt.

»Das ist Xer­xes, sag gu­ten Tag, streich­le sei­ne Samt­na­se. Das ist Ram­ses, schau dir an, wie sein dunk­les Fell glänzt. Leg das Zu­cker­stück auf dei­ne Hand und hal­te es Sam­son hin.«

Sie spür­te den wei­chen, war­men Samt der Nüs­tern auf ih­rer Hand­flä­che. So ging er mit ihr durch die Stall­gas­sen. Auf sei­nen Schul­tern fühl­te sie sich si­cher.

Ei­nes Ta­ges stell­te er sie auf die Fü­ße und sag­te: »Das ist Ce­ne­ren­to­la, sie ge­hört dir.« Da­mals war sie fünf Jah­re alt.

Sie hob den Kopf und sah ei­nem Po­ny in die sanf­ten Au­gen.

Aschen­put­tel, dach­te sie. Grau wie Asche.

Ma­da­me schloss die Ver­bin­dungs­tür zu Ama­li­as Schlaf­zim­mer. Ama­lia wur­de er­wach­sen, und bald wä­re sie selbst über­f­lüs­sig. Sie hat­te schon ei­ni­ge Ma­le in ih­rem Le­ben Ab­schied von »ih­ren« Kin­dern neh­men müs­sen. In die­sem Fall wür­de es ihr schwe­rer wer­den als je­mals zu­vor. Ama­lia war ihr ans Herz ge­wach­sen. Zu sehr, wie sie jetzt fest­stell­te. Mehr als acht Jah­re lang hat­te sie die­ses be­zau­bern­de Kind be­treut, im­mer be­müht, einen an­ge­mes­se­nen emo­ti­o­na­len Ab­stand zu ih­rem Schütz­ling zu wah­ren. Aber Ama­lia be­saß kei­ne El­tern mehr, al­so hat­te sie sich müt­te­r­li­che Ge­füh­le ge­stat­tet. Sie wür­de es bü­ßen müs­sen, wenn der Ab­schied kam.

Ma­da­me er­wach­te früh. Sie trat ans Fens­ter und späh­te hin­aus. Mor­gen­licht floss über den Hof und die wei­ter ent­fern­ten Stal­lun­gen.

Sie zog sich vom Fens­ter zu­rück, als sie The­resa auf das Haus zu­kom­men sah. Die­se Frau war ihr ein Rät­sel. Sie war … ja, was? Sie wirk­te im­mer ei­ne Spur bla­siert, nicht un­freund­lich, nein, ge­lang­weilt, traf es eher. Dass Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten sei­ne Frau be­trog, war ein of­fe­nes Ge­heim­nis. Aber Ma­da­me hat­te nie ein un­freund­li­ches Wort aus The­resas Mund ge­hört. Wenn er sie be­rühr­te, ließ sie es mit ei­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit zu, als ob sie nichts wüss­te von sei­nen Af­fä­ren.

Ei­ne ge­wis­se Tra­gik lag in ih­rem Ver­hal­ten.

The­resa frag­te sich, als sie Ma­da­me Du­rands Schat­ten oben am Fens­ter wahr­nahm, wann es Zeit wä­re, Ama­li­as Er­zie­he­rin zu ent­las­sen.

Sie moch­te die Fran­zö­sin. Ma­da­me war zu­rück­hal­tend und lieb­te Ama­lia ganz of­fen­sicht­lich. Sie schob den Ge­dan­ken weg. Ama­lia wur­de erst drei­zehn. Ei­ne Wei­le wür­de sie ih­re Er­zie­he­rin noch brau­chen. Au­ßer­dem war ihr durch­aus be­wusst, dass Ma­da­me ei­ne sehr viel bes­se­re Haus­frau als sie selbst war.

The­resa seufz­te, schob die Haus­tür auf, schritt über den ge­wachs­ten Ter­raz­zo­bo­den der Hal­le und stieg über die ge­wun­de­ne Trep­pe in das obe­re Stock­werk. Sie ging am Schlaf­zim­mer ih­res Man­nes vor­bei und be­trat ih­ren An­klei­de­raum.

Mein Mann, dach­te sie, wäh­rend sie den Over­all öff­ne­te.

Un­ter ih­rer Ehe mit Ma­xi­mi­li­an hat­te sie sich et­was an­de­res vor­ge­stellt. Er war so amüsant ge­we­sen, so groß­zü­gig und an­zie­hend. An­zie­hend war er im­mer noch und groß­zü­gig. Dass ihr zwan­zig Jah­re äl­te­rer Ehe­mann sie be­trü­gen wür­de, da­mit hat­te sie nicht ge­rech­net. Und es war ab­so­lut nicht amüsant. Trotz­dem konn­te sie sich sei­nem Char­me nicht ganz ent­zie­hen, und wie ver­letzt sie war, wür­de er nie er­fah­ren.

In ih­rer Ehe mit Ma­xim hat­te sie ge­lernt, sich zu ver­stel­len. Sie trug ei­ne un­ge­rühr­te Mie­ne zur Schau. Nie­mand soll­te sie je »die ar­me The­resa« nen­nen.

Ma­xim be­müh­te sich durch­aus um sie. Wenn er zu ihr kam, wies sie ihn nicht ab. Aber ge­nau­so we­nig, wie sie ei­ne Mi­grä­ne vor­täu­schen wür­de, wür­de sie ihn da­von in Kennt­nis set­zen, dass sie ge­le­gent­lich mit ih­rem Stall­meis­ter schlief.

Ih­re ers­te Ehe war glü­ck­lich ge­we­sen, glü­ck­lich und viel zu kurz.

The­resa be­trat ihr Ba­de­zim­mer, das ihr ei­ge­nes Schlaf­zim­mer mit ih­rem An­klei­de­raum ver­band. Nach­dem sie Stun­den im Stall ver­bracht hat­te, sehn­te sie sich nach ei­ner Du­sche. Sie ließ hei­ßes Was­ser von al­len Sei­ten auf ih­ren Kör­per pras­seln. Mit ei­nem wei­ßen, wei­chen Ba­de­tuch trock­ne­te sie sich ab.

Sie lag lan­ge schlaf­los un­ter ih­rem La­ken. Ih­re Ge­dan­ken konn­te sie nicht ab­schal­ten.

Ama­lia wür­de ih­ren Hengst be­kom­men. Die Klei­ne er­in­ner­te sie an ih­re Foh­len, die sich tap­fer auf die zit­tern­den Bein­chen kämpf­ten. Wie ver­lo­ren muss­te sie sich in ih­rer Fa­mi­lie füh­len. Seit Kon­stan­tin stu­dier­te, kam er nur noch sel­ten heim. Wie ein Hünd­chen war das Mäd­chen schon als Vier­jäh­ri­ge hin­ter ihm her­ge­lau­fen. Wo Kon­stan­tin sich auf­hielt, war die Klei­ne nicht weit. Er hat­te sie auf sei­ne Schul­tern ge­setzt und war mit ihr über den Hof bis hin­un­ter zum Stall ga­lop­piert. Über das gan­ze Ge­sicht­chen strah­lend, hat­te sie sich an ihm fest­ge­klam­mert.

Er war wie ein lie­be­vol­ler gro­ßer Bru­der mit Ama­lia um­ge­gan­gen.

Das konn­te man nicht von Fre­de­ri­co sa­gen. Wo Kon­stan­tin zu­ge­wandt, of­fen und lie­be­voll war, war Fre­de­ri­co manch­mal ar­ro­gant und ab­wei­send. Kon­stan­tin ruh­te in sich, Fre­de­ri­co war un­be­re­chen­bar. Im Ge­gen­satz zu sei­nem äl­te­ren Bru­der hat­te er noch kein Ziel.

Sie lieb­te ih­re Söh­ne, aber war sie ei­ne gu­te Mut­ter? Wa­ren ihr die Pfer­de nicht im­mer wich­ti­ger?

An Ama­lia dach­te sie mit ei­ner ge­wis­sen Be­fan­gen­heit. Sie frag­te sich, war­um Ma­xim die Toch­ter sei­nes un­ge­lieb­ten Bru­ders so oh­ne Wei­te­res in sei­nem Haus auf­ge­nom­men hat­te. Ge­nau wie Fre­de­ri­co dach­te sie, dass ein In­ter­nat, selbst­ver­ständ­lich ei­nes der bes­ten, viel­leicht rich­ti­ger ge­we­sen wä­re. Was al­so hat­te ihn da­zu be­wo­gen, das Mäd­chen bei sich zu be­hal­ten? Ama­lia war ein Ab­bild ih­rer Mut­ter. Hat­te Ma­xim ein schlech­tes Ge­wis­sen?

The­resa er­in­ner­te sich an die Fo­to­gra­fie, die an Ama­li­as Bett stand. Und sie er­in­ner­te sich an den Skan­dal, in des­sen Mit­tel­punkt Bel­la und Ma­xi­mi­li­an ge­stan­den hat­ten. The­resa wünsch­te sich, nie da­von ge­hört zu ha­ben. Es war ei­ne Ge­schich­te von Al­ko­hol, Ver­füh­rung und Sex.

Sie konn­te nicht ein­mal aus­schlie­ßen, dass Ama­lia Ma­xims Toch­ter war.

Aber auch sie konn­te sich, wie Ma­ria, dem Char­me des Mäd­chens nicht ent­zie­hen. Wenn sie sich ei­ne Toch­ter wün­schen dürf­te, ge­stand sie sich ein, wä­re Ama­lia ih­re ers­te Wahl. Sie be­saß mehr Ge­fühl für Pfer­de als Kon­stan­tin und Fre­de­ri­co zu­sam­men. Ih­re Söh­ne wa­ren gu­te Rei­ter, aber Ama­lia war ih­re See­len­ver­wand­te. Fre­de­ri­co konn­te ein Pferd rück­sichts­los zu­schan­den rei­ten. Kon­stan­tin ließ dem Pferd zu viel Frei­heit. Ama­lia be­saß ge­nau die rich­ti­ge Ba­lan­ce.

Himmel über der Maremma

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