Читать книгу Himmel über der Maremma - Ursula Tintelnot - Страница 6

Lie­be und Ei­fer­sucht

Оглавление

»Ist Ma­ri­sa schon da?«

Sie be­kam kei­ne Ant­wort, als sie den Stall be­trat. Ma­ri­sa war Tier­ärz­tin und The­resas Freun­din.

Wenn es Pro­ble­me mit den Pfer­den, Hun­den oder Scha­fen gab, wur­de sie ge­ru­fen. Sie war ein Na­tur­er­eig­nis. Ei­ne Frau, die sich einen Dreck um die Mei­nung an­de­rer scher­te. »Tu, was du tun musst, frag nicht erst.«

Sie hat­te fünf Söh­ne von fünf Män­nern. Mit kei­nem war sie ver­hei­ra­tet ge­we­sen. Ihr ro­tes Haar leuch­te­te wie Feu­er in der Son­ne und Som­mer­spros­sen zier­ten ihr Ge­sicht wie Gän­se­b­lüm­chen ei­ne Som­mer­wie­se.

Mit kräf­ti­gen Hän­den griff sie zu. Bis zum Ell­bo­gen mit Blut und Schleim be­deckt, ha­lf sie den Foh­len auf die Welt, die nicht al­lein kom­men woll­ten.

Die Nach­ge­burt der letz­ten Nacht muss­te un­ter­sucht wer­den. Ei­ne der Stu­ten war am Bein ver­letzt. Die Wun­de war ent­zün­det.

Im Stall war nie­mand. Nur die Hun­de be­grüß­ten sie. The­resa ging durch die lan­ge Gas­se zwi­schen den Bo­xen. Fast al­le Tie­re stan­den auf der Wei­de. Des­de­mo­na wie­her­te lei­se.

»Na, mei­ne Hüb­sche, gleich kommt Ma­ri­sa, sie wird dir hel­fen.«

Sie strei­chel­te sanft die Nüs­tern der ver­letz­ten Stu­te. Des­de­mo­na schnaub­te. Es roch nach fri­schem Heu. Die ge­öff­ne­ten Stall­tü­ren lie­ßen die noch er­träg­li­che Mor­gen­luft ein. Aber auch heu­te wür­de sich die Hit­ze gna­den­los über das Land le­gen.

The­resa trug ein är­mel­lo­ses T-Shirt und Reit­ho­sen. Sie woll­te spä­ter ei­ni­ge der Pfer­de be­we­gen, und sie er­war­te­te zwei Reit­schü­le­rin­nen. Auf dem Weg zur Sat­tel­kam­mer hör­te sie Schrit­te und gleich dar­auf Ge­läch­ter. In der of­fe­nen Tür konn­te sie zwei Sil­hou­et­ten er­ken­nen.

»Da bist du.«

»Da bin ich.« Ma­ri­sa um­arm­te sie.

Raf­fa­el küss­te The­resa.

Ma­ri­sa grins­te. Sie sag­te: »Dei­ne Nach­ge­burt ist auf den ers­ten Blick in Ord­nung.«

Sie hat­te sie auf Voll­stän­dig­keit über­prüft. Jetzt ging sie zu der ver­letz­ten Stu­te.

Seit Raf­fa­el da ist, dach­te Ma­ri­sa, geht es The­resa bes­ser.

Sie hat­te ih­re Vi­ta­li­tät, ih­ren Witz wie­der­ge­fun­den.

Ro­man­ti­sche Lie­be war in Ma­ri­sas Au­gen ei­ne Er­fin­dung der Neu­zeit. Die Mensch­heit war Jahr­tau­sen­de oh­ne sie aus­ge­kom­men. Ge­sun­der Sex war wun­der­bar und un­ver­bind­lich, Ent­täu­schun­gen nicht pro­gram­miert.

Aber The­resa hat­te an­de­re Vor­stel­lun­gen und Wün­sche. Sie hat­te sich auf ih­ren ers­ten Ehe­mann, Kon­stan­tins Va­ter, ver­las­sen kön­nen. Das hat­te sie auch von Ma­xi­mi­li­an er­war­tet. Ein Irr­tum, wie sie bald hat­te er­ken­nen müs­sen.

Ma­ri­sa hat­te ver­sucht, ih­re Freun­din zu trös­ten. The­resa war an­ders als sie. Sie wünsch­te sich Lie­be von ei­nem Mann, sie selbst tat das nicht. Ihr ge­nüg­te die Lie­be zu ih­ren Söh­nen und den Tie­ren.

Ama­lia stand vor dem ge­öff­ne­ten Klei­der­schrank. Sie wühl­te in ih­ren T-Shirts.

Auf dem Fuß­bo­den türm­ten sich Rö­cke und Ho­sen.

»Was ist denn hier los?« Ma­da­me Du­rand stand in der Tür.

Ama­lia fuhr her­um. »Ich ha­be nichts an­zu­zie­hen.« Sie nutz­te die Ge­bär­den­spra­che.

Ma­da­me Du­rand war die Ein­zi­ge im Haus, die das Ge­bär­den be­herrsch­te.

»Aha? Und was ist das?« Sie deu­te­te auf den Bo­den.

Ama­lia sah sie un­sch­lüs­sig an. »Ich weiß nicht, was ich an­zie­hen soll.«

»Wol­len wir mal zu­sam­men nach­se­hen?«

Ama­lia nick­te eif­rig. Sie war nicht ei­tel, ganz im Ge­gen­teil. Ab­ge­schnit­te­ne Jeans und ver­wa­sche­ne Shirts ge­nüg­ten ihr nor­ma­le­r­wei­se.

Die rei­chen klei­nen Mäd­chen in Ama­li­as Klas­se ka­men in Ro­sa und Weiß gehüllt, tru­gen Schmuck und fühl­ten sich ver­höhnt.

Die Pri­vat­schu­le war zu Be­ginn ein Pro­blem ge­we­sen. Zum ers­ten Mal war Ama­lia mit Kin­dern aus ih­rem ei­ge­nen Mi­li­eu kon­fron­tiert wor­den. Auf dem Gut kam sie nur mit den Kin­dern der Dorf­be­woh­ner und der An­ge­stell­ten in Be­rüh­rung. Manch­mal auch mit The­resas Reit­schü­lern. Sie hat­te nie er­fah­ren, wie es sich an­fühl­te, aus­ge­schlos­sen oder gar ge­mobbt zu wer­den. Mit Aus­nah­me ih­res Cous­ins war Ama­lia nie auf Ab­leh­nung ge­sto­ßen.

Ama­lia hat­te, wie im­mer, den Ver­such ge­macht, mit ih­ren Pro­ble­men selbst fer­tig zu wer­den, bis Ma­da­me sie dar­auf an­sprach. Sie hat­te ge­spürt, dass et­was nicht stimm­te.

Vol­ler Ab­scheu dach­te Ma­da­me an ih­ren Zu­sam­men­stoß mit der Di­rek­to­rin, ei­ner schwe­ren, of­fen­bar kon­flikt­scheu­en Frau, die ihr zu ver­ste­hen ge­ge­ben hat­te, dass sie nicht die Ab­sicht hät­te, mit den rei­chen El­tern ih­rer ver­wöhn­ten Bäl­ger zu spre­chen.

Ma­da­me schil­der­te The­resa das Ge­spräch mit ihr.

»Fin­den Sie her­aus, wann der nächs­te El­tern­abend statt­fin­det.«

»Ge­wiss.«

Sie will hin­ge­hen, dach­te Ma­da­me Du­rand er­staunt.

The­resa hat­te nie viel In­ter­es­se an dem Mün­del ih­res Man­nes ge­zeigt. Und doch schien sie auf ih­re Art das Mäd­chen zu mö­gen. Sie er­teil­te Ama­lia re­gel­mä­ßig Reit­un­ter­richt und hat­te ihr Lu­n­as Foh­len ge­schenkt. Der klei­ne Hengst war Ama­li­as gan­ze Lie­be. Und, dach­te Ma­da­me, Kon­stan­tin.

Denn Ama­li­as Wunsch, heu­te hübsch aus­zu­se­hen, lag zwei­fel­los an Kon­stan­tins Kom­men.

»Du freust dich auf Kon­stan­tin?«

Ama­lia nick­te strah­lend und hob den Dau­men. »Ich will ihm mein Foh­len zei­gen. Wir müs­sen es doch tau­fen.«

Ma­da­me Du­rand lä­chel­te. »Weißt du schon, wie es hei­ßen soll?«

Ama­lia schüt­tel­te den Kopf und zog sich ein blau­es Trä­ger­kleid­chen über, das ihr sehr gut stand. Sie dreh­te sich vor dem Spie­gel. Als sie sah, dass Ama­lia das Kleid wie­der aus­zog und nach ei­nem är­mel­lo­sen ver­wa­sche­nen T-Shirt griff, floh Ma­da­me und zog die Tür zu.

Oh, du mein Gott, dach­te sie. Ei­ne ver­lieb­te Drei­zehn­jäh­ri­ge, wenn das mal gut geht.

Ma­da­me Du­rands Sor­gen wa­ren nur all­zu be­rech­tigt.

Kon­stan­tin ent­stieg am Nach­mit­tag ei­nem tod­schi­cken Sport­coupé und mit ihm An­na­bel.

Sie trug zu ei­nem schnee­wei­ßen Sei­den­kleid Sti­let­tos und wirk­te be­nei­dens­wert kühl, bei sechs­und­drei­ßig Grad. Als kä­me sie ge­ra­de­wegs aus der Du­sche. Und sie war bild­hübsch. Fre­de­ri­co und Ma­xi­mi­li­an sa­ßen un­ter der rie­si­gen Kas­ta­nie vor dem Haus. Die Kro­ne des Bau­mes schütz­te vor Re­gen und Son­ne. An­na­bel häng­te sich bei Kon­stan­tin ein, als sie auf das Haus zu­schritt.

Mit den Schu­hen, dach­te Ma­da­me, wür­de sie oh­ne Un­ter­stüt­zung nicht weit kom­men. Auf­fahrt und Hof wa­ren ge­pflas­tert wie ei­ne al­te Dorf­stra­ße.

Kon­stan­tin stell­te sei­ne Freun­din vor: »Ma­xi­mi­li­an, das ist An­na­bel, Fre­de­ri­co, mein Bru­der, und … Ma­da­me Du­rand.« Er stutz­te, als er sie al­lei­ne kom­men sah. »Wo ist denn Ama­lia?«

»Gu­ten Tag, Kon­stan­tin, An­na­bel. Ich weiß es nicht, sie war eben noch hier.«

»Und Ma­ma?«

Ma­xi­mi­li­an sag­te: »Sie hat ei­ne neue Schü­le­rin. Ich den­ke, sie ist noch in der Reit­hal­le.«

»Viel­leicht ist Ama­lia bei ihr, ich geh mal nach den bei­den se­hen.«

»Wer ist denn Ama­lia, Lieb­ling?«

»Komm mit, An­na­bel, dann wirst du sie ken­nen­ler­nen.«

Ama­lia hat­te den Tag in der Nä­he des Hau­ses ver­bracht. Sie woll­te kei­ne Mi­nu­te mit Kon­stan­tin ver­säu­men.

Im Stall, dach­te Ma­da­me, wirst du sie nicht fin­den.

Ama­lia war in den Flü­gel des Hau­ses ge­flüch­tet, in dem Ma­ria leb­te. Sie glaub­te zu wis­sen, was in dem Mäd­chen vor­ging.

Sie hör­te An­na­bels un­gläu­bi­ge Stim­me. »In den Stall?«

»Ja.«

»Nein, Lieb­ling, ich möch­te mich lie­ber frisch ma­chen.« Sie ki­cher­te.

Wie frisch will sie wohl noch wer­den, frag­te sich Ma­da­me und ta­del­te sich gleich dar­auf.

An­na­bel war ner­vös und un­si­cher, man muss­te nach­sich­tig mit ihr sein. Mit den Män­nern hat­te sie leich­tes Spiel. Von Oss­ten be­trach­te­te sie, wie er al­le Frau­en an­sah. Nun ja. Fre­de­ri­co konn­te den Blick nicht von ihr las­sen. Die schwers­te Prü­fung aber wür­de noch kom­men, The­resa hat­te sie noch nicht ken­nen­ge­lernt.

Es war das ers­te Mal, dass Kon­stan­tin ei­ne Freun­din mit nach Hau­se brach­te, seit er stu­dier­te. Sei­ne Schü­ler­lie­ben hat­te The­resa lä­chelnd ak­zep­tiert. Die hier war et­was an­de­res. Ma­da­me frag­te sich, wie The­resa mit ei­ner ernst­haf­ten Kan­di­da­tin für das Amt ei­ner Schwie­ger­toch­ter um­ge­hen moch­te.

Kon­stan­tin sag­te: »Ich zei­ge dir das Bad.«

»Ein rei­zen­des Mäd­chen.« Ma­xi­mi­li­an goss sich einen Co­gnac nach.

»Ja.« Fre­de­ri­co nick­te. »Ver­dammt hübsch, und ei­ne Fi­gur, da möch­te man glatt …« Er we­del­te un­be­stimmt mit der Hand.

Ma­xi­mi­li­an schmun­zel­te.

»Ich se­he in der Kü­che nach dem Rech­ten.« Ma­da­me er­hob sich.

Fast neun­zehn Uhr. The­resa hat­te dar­um ge­be­ten, trotz der an­hal­ten­den Hit­ze, nicht zu spät zu es­sen.

Kla­vier­tö­ne aus dem obe­ren Stock­werk des Sei­ten­flü­gels mün­de­ten in ei­nem fu­rio­sen Cre­scen­do. Ma­da­me er­laub­te sich ein Lä­cheln. Ih­re Klei­ne war wü­tend, wü­tend und un­g­lü­ck­lich.

Ama­lia schlug den De­ckel zu und dreh­te sich mit dem Hocker zu Ma­ria.

»Ich has­se ki­chern­de Blon­di­nen auf ho­hen Stö­ckeln, Non­na

Da­mit hat­te sie ei­ne um­fas­sen­de Be­schrei­bung der neu­es­ten Flam­me ih­res äl­tes­ten En­kels ab­ge­lie­fert.

»Ach, ja? Und sie ki­chert?«

Ma­ria be­te­te um Fas­sung. In ih­rer Wut wirk­te das Mäd­chen vor ihr wie ei­ne ei­fer­süch­ti­ge Ehe­frau, die ih­ren Ehe­mann mit der at­trak­ti­ven Nach­ba­rin in fla­gran­ti er­wi­scht hat­te. Ama­lia war ei­fer­süch­tig, das war kei­ne Fra­ge.

»Viel­leicht ist sie ganz nett«, wag­te Ma­ria ein­zu­wen­den. »Wir soll­ten sie erst ein­mal ken­nen­ler­nen.«

»Sie hat Lo­cken, und sie ist ge­schminkt.«

Ma­ria be­trach­te­te Ama­li­as Lo­cken­pracht und konn­te sich ei­nes Lä­chelns nicht er­weh­ren. »Du hast auch Lo­cken, mein Kind.«

»Ach, Non­na

Ama­lia setz­te sich zu Lud­wig und kraul­te ihn zwi­schen den Oh­ren. Sie schien nach­den­ken. Plötz­lich sprang sie auf. »Wir es­sen heu­te frü­her.«

Ma­ria sah dem Kind hin­ter­her, des­sen Ge­füh­le nicht mehr so ganz kind­lich wa­ren. Ama­lia hat­te, als sie ging, so … ent­schlos­sen aus­ge­se­hen.

Ama­lia be­eil­te sich, husch­te über die dunk­len Flu­re des gro­ßen Hau­ses. Sie kann­te je­den Win­kel. Al­le Lä­den wa­ren ge­schlos­sen, auch die La­mel­len, die an küh­le­ren Ta­gen Licht­strei­fen auf Bö­den und De­cken schick­ten. In der Bi­blio­thek tas­te­te sie nach dem Licht­schal­ter. Ihr Ziel war der Schreib­tisch. Auf des­sen ge­wal­ti­ger Mar­mor­plat­te stan­den zwei Bild­schir­me und ein Dru­cker. Pa­pie­re und fa­r­bi­ge Ord­ner la­gen in or­dent­li­chen Sta­peln an der Kan­te. Sie wuss­te, dass Ma­xi­mi­li­an ei­ne gro­ße, sehr scha­r­fe Pa­pier­sche­re in der mitt­le­ren Schub­la­de auf­be­wahr­te. Sie zog die schwe­re La­de auf, fand die Sche­re und lief in ihr Ba­de­zim­mer. Von Ma­da­me war nichts zu se­hen. Ama­lia schloss ab.

The­resa lehn­te am Zaun der Kop­pel.

Sie hat­te am Nach­mit­tag Reit­stun­den ge­ge­ben. Stun­den mit Schü­lern, die noch nie auf ei­nem Pferd ge­ses­sen hat­ten, wa­ren manch­mal ent­ner­vend. Auch in der Hal­le brü­te­te die Hit­ze. Jetzt war­te­te sie auf Ma­ri­sa. Des­de­mo­nas Bein woll­te nicht hei­len.

The­resa dach­te an Kon­stan­tin und sah er­neut auf die Uhr. Er müss­te längst an­ge­kom­men sein. Sein ers­ter Gang war im­mer der in den Stall und zu ihr. Ob er sich ver­spä­tet hat­te?

End­lich hör­te sie Ma­ri­sas Stim­me. »Du siehst an­ge­spannt aus« Ih­re Freun­din sah sie prü­fend an.

»Bin ich auch. Schau dir Des­de­mo­nas Bein an, das macht mir Sor­gen.« Sie sah wie­der auf die Uhr.

»Er­war­test du je­man­den?«

»Kon­stan­tin woll­te für ein paar Ta­ge kom­men. Aber er scheint noch nicht da zu sein.«

»Oben, vor dem Haus steht ein sau­teu­res Coupé«, sag­te Ma­ri­sa.

»Er woll­te mit sei­ner Freun­din kom­men, das wird ih­res sein.«

Die Frau­en gin­gen in den Stall. Die Tier­ärz­tin sprach be­ru­hi­gend mit der Stu­te, wäh­rend sie ihr den Ver­band ab­nahm und sich die Wun­de be­sah.

»Nicht be­un­ru­hi­gend. Das wird schon«, sag­te sie und zog ei­ne Sprit­ze auf. »Da sie nicht lahmt, kannst du sie be­we­gen.« Sie säu­ber­te die Wun­de und ent­nahm ih­rem Alu­kof­fer einen fri­schen Ver­band. »Fer­tig.« Sie strich Des­de­mo­na sanft über die Nüs­tern. »Bra­ves Mäd­chen.«

»Willst du mit zum Abend­es­sen kom­men?«

Ma­ri­sa lach­te. »Nein, Sü­ße, dei­ne Fa­mi­lie ist mir heu­te zu an­stren­gend. Mei­ne bei­den Jüngs­ten wol­len Pas­ta ma­chen, die an­de­ren sind mit ih­ren Vä­tern un­ter­wegs. Mir steht ein ru­hi­ger Abend be­vor. Es sei denn, ei­ner mei­ner tie­ri­schen Pa­ti­en­ten braucht Hil­fe.«

Wie un­kom­pli­ziert Ma­ri­sas Le­ben war. Ih­re fünf Söh­ne und ih­re fünf Män­ner ver­stan­den sich präch­tig. Wenn sie Hil­fe brauch­te, war ei­ner ih­rer Lieb­ha­ber im­mer zur Stel­le und sorg­te nicht nur für sei­nen, son­dern für al­le ih­re Söh­ne.

Zu­sam­men gin­gen sie zum Her­ren­haus, wo Ma­ri­sa ihr klapp­ri­ges Au­to ne­ben ei­nem Sport­wa­gen ge­parkt hat­te.

The­resa um­arm­te ih­re Freun­din. »Dann kommst du ein an­der­mal. Kon­stan­tin bleibt ein paar Ta­ge.«

»Mal se­hen.« Ma­ri­sa leg­te sich sel­ten fest, ihr Be­ruf mach­te ihr all­zu oft einen Strich durch die Rech­nung.

The­resa ging an dem be­reits ge­deck­ten Tisch un­ter der Kas­ta­nie vor­bei.

»Gu­ten Abend, Ali­cia.«

»Gu­ten Abend, Si­gno­ra.«

Ali­cia ha­lf Ma­ja in der Kü­che und hielt zu­sam­men mit Kit­ty, dem zwei­ten Mäd­chen, das Haus sau­ber. Wenn Gäs­te da wa­ren, ha­l­fen zu­sätz­lich Frau­en aus Bas­so. Ali­cia leg­te letz­te Hand an den mit wei­ßem Lei­nen ge­deck­ten Tisch. In ho­hen Glas­zy­lin­dern fla­cker­ten Ker­zen.

Als sie das Haus be­trat, hör­te sie Ma­ja in der Kü­che Kit­ty zur Ei­le an­trei­ben. »Schlaf nicht ein, Mäd­chen. Die Si­gno­ra will si­cher heu­te noch es­sen.«

The­resa lä­chel­te. Ma­ja war nicht sehr ge­dul­dig, aber ih­re Ge­rich­te wa­ren ex­zel­lent.

Sie lief die Trep­pe hin­auf. Aus Fre­de­ri­cos Zim­mer hör­te sie lau­te Rap­mu­sik, die sie kei­ne Mi­nu­te er­trug. Schnell schritt sie den lan­gen Gang vor­bei am Zim­mer ih­res Man­nes, aus dem kein Laut drang. Sie ver­mu­te­te ihn in der Bi­blio­thek. Kon­stan­tins Räu­me la­gen wei­ter hin­ten. Auch von dort war nichts zu hö­ren.

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter hat­te sie sich in die ele­gan­te Frau ver­wan­delt, die Frau­en auf­reg­te und Män­ner er­reg­te.

Als sie die Trep­pe er­reich­te, hör­te sie Kon­stan­tins Stim­me. Sie ver­harr­te, als sie ih­ren Na­men hör­te. Die hel­le, et­was kind­li­che Stim­me ei­ner Frau. Sie sah ih­ren Sohn mit ei­ner hüb­schen Blon­di­ne un­ten in der Hal­le ste­hen. Für einen Mo­ment muss­te sie die Au­gen schlie­ßen. Kon­stan­tins Ähn­lich­keit mit sei­nem Va­ter war fast lä­cher­lich. Selbst sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren iden­tisch.

»Sie wird dich mö­gen, du musst dir kei­ne Sor­gen ma­chen.«

The­resa be­trach­te­te die jun­ge Frau. Zwan­zig Jah­re alt, höchs­tens, dach­te sie.

Sie selbst war acht­zehn ge­we­sen, als sie sich in Kon­stan­tins Va­ter ver­liebt hat­te. Sie ließ das Ge­län­der der Ga­le­rie los. Kon­stan­tin sah auf.

»Ma­ma!« Er strahl­te, lief, zwei Stu­fen auf ein­mal neh­mend, die Trep­pe hin­auf und nahm sie in die Ar­me. »End­lich!«

Sie küss­te ihn und schob ihn von sich weg. »Es tut mir leid, aber es war viel zu tun. Frü­her ging es nicht. Aber«, sie nahm ihn am Arm, »jetzt stellst du mir dei­ne Freun­din vor.«

An­na­bel sah ein Paar, The­resa und Kon­stan­tin, auf sich zu­kom­men und fühl­te sich un­ver­hofft aus­ge­schlos­sen.

Sie war von Be­ruf Toch­ter, und zwar die Toch­ter ei­nes rei­chen, ver­wöh­nen­den Va­ters und ei­ner Mut­ter, die sel­ten an­we­send war. Sie be­saß ein Selbst­be­wusst­sein, das an Ar­ro­ganz grenz­te, und war es nicht ge­wohnt, sich aus­ge­schlos­sen zu füh­len. The­resa reich­te ihr die Hand.

»Ich freue mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen.«

Dies ist oh­ne Zwei­fel ei­ne der schöns­ten Frau­en, die ich je ge­se­hen ha­be, dach­te An­na­bel.

Sie war groß, bei­na­he so groß wie Kon­stan­tin. Und wenn sie nicht ge­wusst hät­te, dass The­resa sei­ne Mut­ter war … sie hät­te eben­so gut sei­ne Ge­lieb­te sein kön­nen. Wil­de Ei­fer­sucht über­kam sie, und der über­wäl­ti­gen­de Wunsch, ihr eben­bür­tig zu sein. Die­se Frau muss­te über vier­zig sein, sah aber gut zehn Jah­re jün­ger aus.

An­na­bel hing sich an Kon­stan­tins Arm.

The­resa lä­chel­te. Das Mäd­chen in sei­nem per­fekt ge­schnit­te­nen Kleid sah rei­zend aus. Auf Stö­ckel­schu­hen wirk­te An­na­bel grö­ßer, als sie wirk­lich war.

Sie wird um ihn kämp­fen, dach­te The­resa.

Sie sah, wie sich An­na­bel, nach ei­nem Blick auf sie, auf­rich­te­te. Ihr Griff nach Kon­stan­tins Arm mach­te deut­lich, zu wem er in Zu­kunft ge­hö­ren soll­te. Ei­ne Kampf­an­sa­ge? Nun ja. Sie hat­te schon vie­le Kla­gen von Schwie­ger­müt­tern über Schwie­ger­töch­ter ge­hört und um­ge­kehrt.

Fre­de­ri­co kam die Trep­pe her­un­ter. »Ich ha­be Hun­ger«, sag­te er und be­trach­te­te die Freun­din sei­nes Bru­ders an­er­ken­nend von oben bis un­ten. »Sehr schick, Ro­sa steht dir.«

»Dan­ke.« An­na­bel ki­cher­te und schmieg­te sich an Kon­stan­tin.

»Fre­de­ri­co, sieh bit­te nach dei­nem Va­ter, ich neh­me an, dass er in der Bi­blio­thek ist. Wir kön­nen dann es­sen.«

Ma­da­me er­schien als Letz­te. »Ich kann Ama­lia nicht fin­den«, sag­te sie atem­los.

»Sie wird schon kom­men, ich ha­be sie vor ei­ner hal­b­en Stun­de noch ge­se­hen.« Ma­ria ließ sich auf ih­rem Stuhl nie­der.

»Wir wer­den nicht auf sie war­ten. Ali­cia? Sie kön­nen auf­tra­gen.«

»Si, Si­gno­ra

Ali­cia ser­vier­te ei­ne küh­le Gur­ken­sup­pe mit Cros­ti­ni als Vor­spei­se.

»Ich ha­be Ama­lia auch noch nicht ge­se­hen«, sag­te Kon­stan­tin.

In die­sem Mo­ment tauch­te Ama­lia aus der Dun­kel­heit auf.

Ma­ria hob ih­re Ser­vi­et­te an den Mund. Sie täusch­te einen Hus­te­n­an­fall vor. Die­ses Kind. Sie hat­te es ge­ahnt. Ama­lia trug ein vom Wa­schen bei­na­he fa­rb­los ge­wor­de­nes T-Shirt, das um ih­re dün­nen lan­gen Schen­kel schlab­ber­te. Schu­he trug sie kei­ne. Fre­de­ri­co brach in lau­tes Ge­läch­ter aus. Ma­xi­mi­li­an hob die Brau­en. Er sah hilf­los zu sei­ner Frau hin­über, als ob er auf ih­re Re­ak­ti­on war­te­te.

An­na­bel griff nach Kon­stan­tins Hand und flüs­ter­te: »Oh Gott, was ist das?«

Er ent­zog ihr sei­ne Hand, er­hob sich, nahm Ama­lia in die Ar­me und wir­bel­te sie her­um. »Hal­lo, klei­ner Mi­lou, ich ha­be dich ver­misst.«

Ama­lie schlang ih­re Ar­me um ihn.

Ich dich auch, Tin­tin, dach­te Ama­lia.

Tin­tin und Mi­lou, (Tim und Strup­pi), war der ers­te Co­mic, den Kon­stan­tin ihr im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal ge­schenkt hat­te. Seit die­ser Zeit hat­te sie ihn Tin­tin ge­nannt, wenn sie ihm schrieb.

»Das ist Ama­lia, An­na­bel.«

Ama­lia über­sah die aus­ge­streck­te Hand, nick­te nur. Sie setz­te sich auf den frei­en Stuhl ne­ben The­resa.

»Du bist zu spät, Ama­lia.« The­resa strich dem Mäd­chen über die kur­z­en, nach al­len Rich­tun­gen ab­ste­hen­den, un­re­gel­mä­ßig ge­schnit­te­nen Lo­cken. »Wenn wir das noch et­was nach­schnei­den, wird es sehr gut aus­se­hen.« Sie lä­chel­te.

»Ali­cia, brin­gen Sie Ama­lia ih­re Sup­pe.«

Ma­da­me Du­rand hat­te es die Spra­che ver­schla­gen. Ama­li­as herr­li­che Lo­cken wa­ren ver­schwun­den. Sie sah aus wie ein un­ge­kämm­ter Laus­bub.

Ali­cia ver­schwand grin­send in der Kü­che, um dort die Neu­ig­keit zu ver­kün­den. »Ama­lia hat sich die Haa­re ab­ge­schnit­ten, sie sieht aus wie ein zer­rupf­tes Huhn.« Kit­ty frag­te: »Ganz und gar?«

»Höchs­tens zehn Zen­ti­me­ter lang.«

Fre­de­ri­co hör­te end­lich auf zu la­chen.

»War­um spricht sie nicht?«, frag­te An­na­bel in die Stil­le hin­ein.

»Weil sie nicht möch­te«, hör­te The­resa ih­ren Mann sa­gen.

Sie blick­te ihn er­staunt an. Sei­ne Stim­me klang kühl und sei­ne Aus­kunft so schroff, dass An­na­bel sich nicht trau­te, das The­ma wei­ter zu ver­fol­gen.

Fre­de­ri­co ver­kniff sich ei­ne spöt­ti­sche Be­mer­kung und klapp­te den Mund wie­der zu.

Ma­xim hat­te sich nur ein ein­zi­ges Mal zu Ama­li­as Sprach­lo­sig­keit ge­äu­ßert.

Als sie ins Haus kam, hat­te er ent­schie­den, nein, eher be­foh­len, sie in die Ob­hut der bes­ten Ärz­te, The­ra­peu­ten und Leh­rer zu ge­ben.

Ein In­ter­nat kam für ihn nicht in Fra­ge. Er ließ sich re­gel­mä­ßig über ih­re Fort­s­chrit­te in­for­mie­ren. Sein Ver­hält­nis zu ihr konn­te The­resa nicht ein­schät­zen. Ama­lia zog es häu­fig in die Bi­blio­thek, Ma­xi­mi­li­ans be­vor­zug­ten Auf­ent­halts­ort.

Manch­mal hör­te sie Ma­xim mit ihr spre­chen. Die Klei­ne las lei­den­schaft­lich ger­ne al­les, was ihr in die Fin­ger kam.

Auch Ma­xim las viel und ger­ne. Er be­schäf­tig­te sich al­ler­dings vor­wie­gend mit Land­wirt­schaft, Schaf­zucht und sei­nem Lieb­lings­the­ma, der Her­stel­lung von Kä­se. Ob das ei­ne Zwölf­jäh­ri­ge fes­sel­te, be­zwei­fel­te The­resa, bis sie ei­nes Ta­ges Ma­xims Stim­me hör­te:

Durch die halb ge­öff­ne­te Tür konn­te sie Ama­lia und Ma­xim se­hen. Bei­de beug­ten sich über ein di­ckes Buch. Sie hör­te Bruch­stü­cke des­sen, was Ma­xim er­klär­te: »Stell dir vor, mehr als acht Mil­li­o­nen Li­ter Schafs­milch … der Pe­co­ri­no fres­co, den du so ger­ne isst … al­les von den Scha­fen aus der Ma­rem­ma.« Ama­lia schrieb et­was auf ih­rem Ta­blet. Sie hielt es ihm hin. Er nick­te, er­hob sich und zog ein an­de­res Buch aus ei­nem der Re­ga­le.

The­resa frag­te sich, als sie lei­se ih­ren Horch­pos­ten ver­ließ, ob er in Ama­lia sei­ne Nach­fol­ge­rin sah. Wie­der frag­te sie sich, ob sie sein Kind war. Mit ihr hat­te er die Ge­duld, die er bei sei­nem ei­ge­nen Sohn manch­mal ver­mis­sen ließ. Fre­de­ri­co war ihm sehr ähn­lich, aber er be­saß nicht Ma­xims Ehr­geiz, nur sein ru­he­lo­ses Tem­pe­ra­ment, oh­ne die Fä­hig­keit, sich auf wich­ti­ge Din­ge zu kon­zen­trie­ren. Fre­de­ri­co hat­te au­ßer Mäd­chen und Mo­tor­rä­dern we­nig im Sinn. Scha­fe lang­weil­ten ihn. Noch träum­te ihr jüngs­ter Sohn.

The­resa kam erst wie­der zu sich, als Ama­lia ih­ren Arm be­rühr­te und Kon­stan­tin ihr ei­ne rie­si­ge Schüs­sel Sa­lat an­bot.

»Wo bist du denn?«

»Ent­schul­di­ge.« Sie lä­chel­te Kon­stan­tin zu. »Ich war in Ge­dan­ken.«

Ma­xims fra­gen­der Blick.

Nach dem Sa­lat gab es Kä­se, Schin­ken auf Me­lo­nen, Oli­ven und Brot, zum Nach­tisch Eis­tor­te mit Erd­bee­ren.

Als er am spä­ten Abend ihr Zim­mer be­trat, wies sie Ma­xim nicht ab. Das hat­te sie nie ge­tan. The­resa stand am Fens­ter und schau­te auf die Hü­gel in der Fer­ne. Blas­se Hü­gel, die hel­ler wer­dend, hin­ter­ein­an­der zu schwe­ben schie­nen. Sie wand­te sich nicht um, spür­te sei­ne Hän­de an ih­rer Tail­le. Er be­saß noch im­mer die­se Ausstrah­lung, die sie zu Be­ginn ih­rer Be­zie­hung so an­ge­zo­gen hat­te.

Am Mor­gen er­wach­te sie al­lein. Ma­xim war ein no­to­ri­scher Früh­auf­ste­her, sie nicht. Wenn die Ar­beit es zuließ, schlief sie lan­ge und über­ließ sich trä­ge dem Be­ginn des Ta­ges.

Als sie fest­stel­len muss­te, dass sie nicht die ein­zi­ge Frau im Le­ben ih­res Man­nes war, hat­te sie ge­lit­ten, sich ver­ra­ten und ge­de­mü­tigt ge­fühlt.

Aber The­resa war auch prag­ma­tisch. Lan­ge Ge­sprä­che mit Ma­ri­sa, ei­ner Frau, die sie be­wun­der­te, hat­ten ihr Welt­bild lang­sam ver­än­dert.

»Wenn du dich nicht ar­ran­gie­ren kannst, musst du dich tren­nen. Aber denk nicht mal im Traum dar­an, dass ich über Jah­re dein see­li­scher Müll­ei­mer sein wer­de. Du musst ei­ne Ent­schei­dung tref­fen.«

Das war hart ge­we­sen, aber ehr­lich und hilf­reich. The­resa hat­te sich ent­schie­den.

Sie führ­te ein an­ge­neh­mes Le­ben, mit Frei­hei­ten, von de­nen an­de­re Frau­en nur träu­men konn­ten. Sie lieb­te die Ar­beit mit den Pfer­den, die Ma­rem­ma und ritt für ihr Le­ben gern. Es mach­te ihr Ver­gnü­gen, ein gro­ßes Haus zu füh­ren. Wenn Ma­xi­mi­li­an die Guts­be­sit­zer und sei­ne Ge­schäfts­freun­de ein­lud, bril­lier­te sie.

Nie­mand wür­de auf die Idee kom­men, sie zu be­mit­lei­den.

Ma­xim wur­de ho­fiert und ge­noss es. Geld brach­te of­fen­bar An­se­hen. An sol­chen Aben­den hat­te er nur Au­gen für sie. Sie lä­chel­te und spiel­te das Spiel mit. The­resa hat­te sich ar­ran­giert.

Nach dem Du­schen ging sie hin­un­ter in die Hal­le. Die Haus­tür war weit ge­öff­net und ließ un­ge­hemmt Son­ne und Hit­ze ins Haus. Als sie die Tür schloss, be­merk­te sie, dass An­na­bels Sport­wa­gen ver­schwun­den war. In der Kü­che stand wie je­den Mor­gen ihr Früh­stück be­reit. Der un­wi­der­steh­li­che Duft frisch ge­mah­le­ner Kaf­fee­boh­nen er­füll­te den küh­len Raum.

»Gu­ten Mor­gen, Si­gno­ra.«

»Gu­ten Mor­gen, Ma­ja.« The­resa ließ sich am Kü­chen­tisch nie­der. »Wo ist Kit­ty?«

»Sie müss­te bald wie­der da sein. Sie ist im Dorf, um nach ih­rer Mut­ter zu schau­en.«

Durch die ge­öff­ne­ten La­mel­len der nur an­ge­lehn­ten Lä­den konn­te sie in den gro­ßen Ge­mü­se­gar­ten se­hen. Der Gar­ten war, wie die Kü­che, Ma­jas Reich. Von ei­ner ho­hen Mau­er um­ge­ben, war er von au­ßen nicht ein­seh­bar. Obst­bäu­me wa­r­fen Schat­ten auf Bee­te und sau­ber ge­hark­te We­ge. Hier konn­ten die Mäd­chen oder Ma­ja je­der­zeit Sa­lat und fri­sches Ge­mü­se ern­ten. Ma­ja konn­te nicht nur ko­chen, sie be­saß auch das, was man einen grü­nen Dau­men nann­te.

»Geht es ih­rer Mut­ter schlech­ter?«

»Die Nacht war nicht gut. Kit­ty hat bei ihr ge­wacht.«

The­resa trank noch einen Schluck Kaf­fee und er­hob sich.

»Sa­gen Sie ihr, sie soll so lan­ge wie nö­tig bei ih­rer Mut­ter blei­ben. Ali­cia muss al­lei­ne zu­recht­kom­men.«

»Es sind zwei Per­so­nen mehr im Haus, Si­gno­ra«, gab Ma­ja zu be­den­ken.

»Na­tür­lich, dar­an ha­be ich nicht ge­dacht. Viel­leicht kann ei­ne der Frau­en aus dem Dorf aus­hel­fen?«

Ma­ja nick­te. »Das wird si­cher ge­hen.«

Die Kö­chin ging zum Te­le­fon und er­le­dig­te zwei An­ru­fe.

Die Si­gno­ra ist ei­ne an­ge­neh­me Ar­beit­ge­be­rin, und, dach­te sie schmun­zelnd, sie hat kei­ne Ah­nung von Haus­halts­füh­rung, aber ein Händ­chen da­für, die rich­ti­gen Men­schen ein­zu­stel­len.

Oh­ne Ma­da­me Du­rand und sie wä­re der Haus­halt längst zu­sam­men­ge­bro­chen. Ma­da­me hat­te seit Lan­gem un­be­merkt die Pflich­ten ei­ner Haus­da­me über­nom­men. Ama­lia brauch­te, seit sie zur Schu­le ging, kei­ne Er­zie­he­rin oder Nan­ny mehr.

The­resa frag­te: »Hat Kon­stan­tin ge­sagt, wann er zu­rück ist?«

»Nein, Si­gno­ra.«

Die Glo­cke der klei­nen Kir­che in Bas­so läu­te­te. Schon Mit­tag. Soll­te sie Kon­stan­tin an­ru­fen? Aber nein. Er wür­de zu ihr kom­men, wenn er ne­ben An­na­bel Zeit da­zu fand. Sie ver­zog un­be­wusst die Lip­pen zu ei­nem spöt­ti­schen Lä­cheln und schau­te hin­über zu den gel­ben Hü­geln, die in der Hit­ze zu ver­glü­hen schie­nen. Die Luft flim­mer­te, als ob die Land­schaft einen letz­ten Atem­zug mach­te. Oben auf dem Kamm stan­den Zy­pres­sen in Reih und Glied, ei­ne Ar­mee von schlan­ken Wäch­tern. Sie konn­te Bas­so von hier aus nicht se­hen. War­um es so hieß, wuss­te sie nicht. Viel­leicht weil es so klein war? Oder so weit un­ten im Tal? Es be­stand nur aus we­ni­gen Häu­sern, ein paar Re­stau­rants und, un­ver­meid­lich, ei­ner Kir­che oh­ne Pas­tor. Wenn Be­er­di­gun­gen oder Hoch­zei­ten ab­zu­hal­ten wa­ren, muss­te man war­ten, bis ein Pas­tor aus ei­nem der be­nach­bar­ten Or­te Zeit hat­te.

The­resa dach­te an Kit­ty. Ih­re Mut­ter lag im Ster­ben. Ar­mes Mäd­chen. Selbst­ver­ständ­lich wür­de sie der Be­er­di­gung bei­woh­nen müs­sen. Sie seufz­te. Das war der Teil ih­res Auf­ga­ben­be­reichs, den sie am we­nigs­ten moch­te. Die­se Auf­trit­te als Guts­her­rin la­gen ihr nicht.

Ma­xim hat­te kei­ne Schwie­rig­kei­ten da­mit.

»Das sind un­se­re Leu­te, die er­war­ten das«, pfleg­te er zu sa­gen. Mein Mann hat zu­wei­len et­was Über­heb­li­ches, dach­te sie. In ih­ren Au­gen wa­ren die­se Men­schen nicht »ih­re Leu­te«, sie wa­ren Men­schen, von de­nen un­ter an­de­rem der Er­halt des Gu­tes ab­hing. Aber Ma­xi­mi­li­an ge­fiel sich in der Rol­le des Guts­herrn. Die Bau­ern moch­ten ihn, er wi­ckel­te sie ein mit sei­ner jo­vi­a­len Art, und da er die Scha­fe ge­nau­so schnell sche­ren konn­te wie sie, er­kann­ten sie ihn als einen der ih­ren an.

Ma­ria stand hin­ter halb ge­schlos­se­nen Lä­den. Sie sah ih­re Toch­ter in der glü­hen­den Son­ne ste­hen. Die dunk­len Lo­cken hat­te sie aus der Stirn ge­kämmt und mit ei­nem Tuch im Nacken ge­hal­ten. Von ihr hat­te sie ih­re Schön­heit nicht (ihr Va­ter war ein schö­ner Mann ge­we­sen), aber mit Si­cher­heit die kö­nig­li­che Hal­tung.

Ein wei­ßes T-Shirt und hel­le, eng an­lie­gen­de Reit­ho­sen be­ton­ten ih­re schlan­ke Ge­stalt. Plötz­lich wand­te The­resa sich ih­rem Fens­ter zu. Ma­ria stieß den La­den auf und wink­te ih­rer Toch­ter.

»Gu­ten Mor­gen, Ma­ma. Komm mit, ich will zum Stall hin­über. Ich er­war­te zwei Käu­fer. Sie wol­len sich Abigail und Sul­tan an­se­hen.«

Ma­ria be­wun­der­te die Ener­gie, mit der ih­re Toch­ter sich den Pfer­den wid­me­te. Sie hat­te sich in den letz­ten Jah­ren einen aus­ge­zeich­ne­ten Ruf als Züch­te­rin er­wor­ben. Es war har­te kör­per­li­che Ar­beit, die ih­re Toch­ter leis­te­te. Sie wuss­te, wie viel Dis­zi­plin da­zu ge­hör­te, ganz und gar in sei­nem Be­ruf auf­zu­ge­hen.

Als Pi­a­nis­tin war sie viel ge­reist, hat­te wo­chen­lang aus dem Kof­fer ge­lebt und je­den Tag vie­le Stun­den am Flü­gel ver­bracht. Für die Kon­zer­te brauch­te man die Kon­di­ti­on ei­nes Spit­zen­sport­lers.

»War­te, wir sind gleich bei dir.« Mi­nu­ten spä­ter trat Ma­ria mit ih­rem Hund aus dem Haus.

The­resa lach­te. »Sehr dra­ma­tisch«, sag­te sie. »Einen Grö­ße­ren gab es nicht?«

Der pink­fa­r­be­ne Hut, den Ma­ria zu ei­nem lan­gen wei­ßen Lei­nen­kleid trug, war rie­sig. Ein Gi­gant aus Tüll und Sei­de.

Sie fass­te mit bei­den Hän­den den vor­de­ren Rand und bog ihn keck nach oben. »Du soll­test dich auch bes­ser vor der Son­ne schüt­zen.«

»Das wä­re zu Reit­ho­sen der Hit, Ma­ma«, spot­te­te sie.

Lud­wig we­del­te mit dem Schwanz und ver­zog die Lef­zen, was man als Lä­cheln deu­ten konn­te. The­resa kraul­te ihn zwi­schen den Oh­ren. Sie pass­te sich dem Gang ih­rer Mut­ter an. Die bei­den Frau­en hat­ten in den letz­ten Jah­ren wie­der zu­ein­an­der ge­fun­den. Ma­ria dach­te an die tau­send Ab­schie­de von ih­rer Toch­ter, an ih­re lan­ge Ab­we­sen­heit, die ih­re Auf­trit­te nun mal not­wen­dig mach­ten. Und hät­te man sie ge­fragt …

Wenn sie sich frag­te, ob sie sich für ihr Kind oder ih­re Kar­rie­re ent­schei­den soll­te, so hät­te sie auch heu­te noch die Kar­rie­re ge­wählt. Sie war kei­ne gu­te Mut­ter ge­we­sen. The­resa war mit Frem­den auf­ge­wach­sen.

Jetzt griff sie nach The­resas Arm. »Ich war wohl kei­ne gu­te Mut­ter?«

Die Ant­wort kam spon­tan und ehr­lich. »Nein, das warst du nicht. Aber ich hät­te dich nicht an­ders ge­wollt.«

Vor der Reit­hal­le stand ein of­fe­ner Pfer­de­trans­por­ter.

»Ah«, sag­te The­resa, »Ari­el be­kommt sei­ne schö­ne Braut zu­ge­führt.«

Ari­el war ein dunk­ler Hengst, ihr gan­zer Stolz. Er hat­te vie­le Ren­nen ge­won­nen.

Ma­xims be­vor­zug­tes Reit­pferd. Kein Wun­der, dach­te The­resa, dass ihr Ehe­mann einen Deck­hengst ritt. Sie muss­te sich zu­sam­men­rei­ßen, um ih­re plötz­li­che Hei­ter­keit zu un­ter­drü­cken. Pferd und Rei­ter hat­ten die­sel­ben Vor­lie­ben, nur wa­ren Ari­els Rit­te auf den Da­men von mehr Er­folg ge­krönt. Al­le Stu­ten, die er ge­deckt hat­te, wa­ren träch­tig ge­wor­den. Ihr Mann war nur ein­mal Va­ter ge­wor­den.

The­resas Blick fiel auf einen Jun­gen, der auf dem Gat­ter der Wei­de ba­lan­cier­te, auf der die Stu­ten mit ih­ren Foh­len stan­den. Kur­ze, von der Son­ne ver­gol­de­te Lo­cken, ein brei­ter la­chen­der Mund, et­was ab­ste­hen­de Oh­ren. Ab­ge­schnit­te­ne Jeans und ein Top. Sie lä­chel­te. Das war kein Jun­ge, son­dern ein Mäd­chen. Ama­lia.

Ama­lia setz­te vor­sich­tig Fuß vor Fuß. Ih­re Ar­me hat­te sie aus­ge­brei­tet, um das Gleich­ge­wicht nicht zu ver­lie­ren.

»Sie wird fal­len«, sag­te Ma­ria.

»Wird sie nicht.«

Raf­fa­el stand plötz­lich ne­ben ih­nen. Er schnipp­te mit den Fin­gern. Ei­ner der Stall­bur­schen brach­te einen Hocker.

»Si­gno­ra.« Er mach­te ei­ne Ges­te.

»Dan­ke, mein Lie­ber, aber ich bin kei­ne Grei­sin.«

Der Bur­sche grins­te und ver­schwand. Ma­ria ent­nahm ei­ner ih­rer Klei­der­ta­schen ein Ta­schen­tuch und brei­te­te es auf dem nicht ganz sau­be­ren Sitz aus, be­vor sie sich dank­bar nie­der­ließ.

Ama­lia sprang vom Zaun und nä­her­te sich lang­sam Lu­na und ih­rem Sohn.

»Nur kei­ne hek­ti­schen Be­we­gun­gen«, hat­te The­resa ihr ein­ge­schärft.

Sie schna­lz­te lei­se mit der Zun­ge. Lu­na kam ihr ein paar Schrit­te ent­ge­gen. Ne­ben ihr trab­te Lau­ser. Der klei­ne Hengst war ge­wach­sen und so aus­ge­las­sen, dass er al­le paar Schrit­te in die Hö­he hop­sen muss­te.

Ama­li­as Lä­cheln wur­de brei­ter. Sie hielt Lu­na ein Stü­ck­chen Zu­cker hin und spür­te war­men Samt in ih­rer Hand­flä­che, als die Stu­te den Zu­cker vor­sich­tig von ih­rer fla­chen Hand nahm.

Als sie zu­rück­blick­te, schob sich ein brau­ner Pfer­de­hin­tern rü­ck­wärts aus dem Trans­por­ter. Ma­ri­as Son­nen­hut leuch­te­te in der Son­ne, Raf­fa­el und The­resa stan­den Sei­te an Sei­te ne­ben der Ram­pe. Raf­fa­el nahm die Stu­te am Strick und brach­te sie in ein Ge­he­ge ne­ben der Reit­bahn.

Ama­lia rann­te zum Zaun, pflück­te im Lau­fen ih­re Kap­pe vom Bo­den, setz­te sie oh­ne an­zu­hal­ten auf und kam gleich­zei­tig mit Raf­fa­el beim Ge­he­ge an. Sie woll­te un­be­dingt da­bei sein, wenn Ari­el die Stu­te deck­te. Sie hat­te das nicht oft ge­se­hen, und es war auf­re­gend. Nor­ma­le­r­wei­se wur­de ei­ne künst­li­che Be­fruch­tung vor­ge­nom­men.

Ama­lia kann­te die sanf­te Pfer­de­da­me, die schon ein paar Foh­len von Ari­el hat­te. Sie ge­hör­te zu ei­nem Gut, das nur we­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt lag.

Plötz­lich ent­stand Auf­re­gung drü­ben im Stall. Schril­les Wie­hern, Stamp­fen und Schreie, lau­te Flü­che, wie­der Ge­schrei, Hun­de­ge­bell.

Raf­fa­el schloss das Gat­ter und lief hin­über zum Stall. Ama­lia blieb dicht hin­ter ihm. Ma­ri­as Hut war ver­schwun­den. Sie konn­te we­der ih­re Non­na noch The­resa ent­de­cken.

Be­vor sie die Stall­tür er­reich­ten, dreh­te sich Raf­fa­el um. Er hob Ama­lia auf die Um­zäu­nung des Reit­plat­zes.

»Rühr dich nicht vom Fleck«, sag­te er streng.

Sie sah ihn in den Stall ei­len, hör­te ihn flu­chen, wie nur er flu­chen konn­te. »Wel­cher ver­fluch­te Pin­sel hat den Hengst raus­ge­las­sen. Ich bra­te sei­ne Ei­er und stop­fe sie ihm in den Hals.«

Se­hen konn­te sie nichts, aber sie hör­te das er­reg­te Wie­hern, den Lärm stamp­fen­der Hu­fe, split­tern­des Holz und lau­te Be­feh­le. Gleich dar­auf er­schien der rie­si­ge Hengst im Zu­stand äu­ßers­ter Er­re­gung. Ari­el wirk­te dop­pelt so groß wie sonst. Er muss­te sei­ne Braut ge­wit­tert ha­ben und war völ­lig au­ßer sich. Fre­de­ri­co hing an ei­ner Sei­te, Raf­fa­el an der an­de­ren, um den Hengst zu hal­ten. Er sieht aus wie ein Schlacht­ross. Ama­lia dach­te an das Ge­mäl­de in der Bi­blio­thek ih­res On­kels. In die­sem Mo­ment stieg Ari­el, Fre­de­ri­co ließ den Strick los, Raf­fa­el klam­mer­te sich ans Ha­lf­ter. Ver­ge­bens. Er sack­te in die Knie und fiel vorn­über.

»Raf­fa­el!« The­resas Schrei.

Ama­lia hielt den Atem an, aber sie rühr­te sich nicht.

Das Cha­os war per­fekt, als Ari­el das Ge­he­ge er­reich­te und zu ei­nem wun­der­schö­nen Sprung an­setz­te. Er schien zu flie­gen.

Fre­de­ri­co hetz­te mit zwei Stall­bur­schen hin­ter ihm her. Als sie das Ge­he­ge er­reich­ten, war Ari­el be­reits da­bei, sei­ne Braut be­glü­cken. Sie stand ganz still. Zu­frie­den und sanft wie ein Lämm­chen ließ Ari­el sich zu­rück in den Stall füh­ren.

Nichts da­von sah The­resa. Raf­faels Au­gen wa­ren ge­schlos­sen und ei­ne Platz­wun­de am Kopf zeig­te, wo Ari­els Huf ihn ge­trof­fen hat­te.

»Ich schneid ihm die Ei­er ab«, mur­mel­te er, oh­ne die Au­gen zu öff­nen.

»Ganz, wie du willst, mein Liebs­ter.« Sie strich ihm über die Stirn.

»Komm, Kind«, sie hör­te die Stim­me ih­rer Mut­ter, »du musst ihn los­las­sen, die Am­bu­lanz ist da.«

The­resa er­hob sich wort­los.

Über Ama­li­as Wan­gen lie­fen di­cke Trä­nen, mal­ten klei­ne hel­le Bä­che in ihr schmut­zi­ges Ge­sicht­chen. Sie klam­mer­te sich an das Holz der Um­zäu­nung.

Hin­ter dem Trä­nen­schlei­er sah sie Ma­ria auf sich zu­kom­men. »Raf­fa­el wird es über­le­ben.«

Die­sen Mann brach­te man nicht so schnell um, dach­te Ma­ria.

Zwei Sa­ni­tä­ter be­müh­ten sich, Raf­fa­el auf ei­ne Tra­ge zu he­ben.

»Wir ge­hen jetzt zu Ma­ja. Sie hat be­stimmt ein Eis für uns. Schau, da ist auch Lud­wig, er wird uns be­glei­ten.«

Ama­lia schwieg und nick­te. Mit dem Hand­rü­cken wisch­te sie sich den Rotz von der Ober­lip­pe, be­vor sie vom Zaun sprang. Dann schob sich ih­re kleb­ri­ge Hand in die Ma­ri­as. Ma­ria ließ es ge­sche­hen, oh­ne mit der Wim­per zu zu­cken.

Nie­mals in ih­rem Le­ben hat­te sie die Hand ih­rer Toch­ter so ver­trau­ens­voll in ih­rer ge­fühlt. Sie konn­te sich nicht er­in­nern, dass The­resa je ge­weint hät­te. Aber eben, ne­ben Raf­fa­el, hat­te sie Trä­nen in den Au­gen ih­rer Toch­ter ge­se­hen.

Himmel über der Maremma

Подняться наверх