Читать книгу Die Füchsin - Ursula Tintelnot - Страница 12
10 August
ОглавлениеValerie sitzt seit Stunden am Computer. Sie quält sich mit ihren Erinnerungen, die nur spärlich aus ihrem Unterbewusstsein tröpfeln. Nichts, das sie festhalten und aufschreiben kann. Sie fühlt sich wie eine Tennisspielerin, die den Ball des Gegners mit erhobenem Schläger erwartet, einen Ball, der immer wieder im Netz auf der anderen Seite hängen bleibt.
Grace will sie nicht fragen. Sie wird ihrer Mutter überhaupt nicht sagen, dass sie einen Roman schreibt, der autobiografische Züge trägt. Sie kann sich vorstellen, wie Grace reagieren würde. Mit einer Mischung aus Eitelkeit und der Furcht, dass Dinge ans Tageslicht kommen könnten, die sie lieber im Dunkeln lassen würde. Sie legt ihre riesige Lesebrille ab und lehnt sich zurück. Wie schwierig es ist, ehrlich zu sein, erkennt Valerie jetzt. Wie schildert man seine Gefühle, ohne sich völlig der Lächerlichkeit preiszugeben?
Sie macht sich den dritten Becher Kaffee und geht damit auf den Balkon. Das gelbe Fahrrad des Briefträgers steht vor dem Haus. Sie überlegt, ob sie nach der Post sehen soll. Die Briefkästen für alle Hausbewohner hängen unten im Eingang.
Es gibt nichts Frustrierenderes, als vor dem Laptop zu sitzen und auf den viel zu hellen unbeschriebenen Bildschirm zu starren, während man auf eine Eingebung wartet. Valerie geht am Laptop vorbei, ohne das Gerät eines Blickes zu würdigen. Sie muss raus. Frische Luft wird ihr guttun. Sie hat die Einladung zu einem TV- Interview noch nicht beantwortet, den Anruf ihrer Mutter ignoriert und im Verlag noch nicht zurückgerufen.
Sie zieht die Kühlschranktür auf. So gut wie leer. Nur ein halbes Glas Bens Blütenhonig, ein Geschenk von Mira, sieht ihr entgegen, sie starrt einen Moment zurück, lässt die Tür zufallen und stellt fest, dass sie hungrig ist. Sie hat nicht mal mehr ein Stück Brot in der Brotdose. Valerie öffnet den Kühlschrank noch einmal. Ben. Kurz blitzt das Gesichtchen des kleinen Jungen auf Adams Schoß auf. Sie sieht eine Apfelblüte und eine winzige Karte auf dem Schildchen des Honigglases. Demnach ist der Honig aus der Gegend hinter Wedel. Hinter Wedel am Deich ist auch Fährmannssand.
Wie lange ist sie nicht mehr dort gewesen?
Der Gedanke an Bratkartoffeln lässt sie beinahe ohnmächtig werden. Zuletzt hatte sie dort mit Stiefvater Nummer zwei Bratkartoffeln gegessen. Sie war noch in dem Alter, in dem man Drachen steigen lässt, er schon wieder. Sie erinnert sich gut an ihn und gerne. Ein netter Mann, reich, auf arme Männer ließ ihre Mutter sich nicht ein, und sehr viel älter als Grace. Er ist schon lange tot. Auf ihn folgte Stiefvater Nummer drei, an ihn erinnert sich Valerie nicht so gerne. Er war zu jung für ihre Mutter und zu alt für ihre Tochter.
Valerie sitzt zu ihrer eigenen Verblüffung nach dem Fund des Honigglases wieder am Computer und diesmal fliegen die Gedanken ungefiltert über das Netz zu ihr. Sie hackt die Buchstaben förmlich in die Tasten, spürt keinen Hunger mehr, denkt nicht an die Post und unbeantwortete Mails, ignoriert Telefonanrufe. Sie kann diesen Text ihrer Mutter niemals zeigen …
Sie wäre entsetzt. Auch wenn sie bestimmte Dinge sicher nicht mehr nur ahnt, sondern weiß, hat sie immer vermieden, darüber zu sprechen. Sie ist im Verdrängen noch besser als sie selbst.
Nach dem Vorfall, wie Grace es nennt, wird Ehemann Nummer drei schnell zum Ex. Nicht, ohne eine beträchtliche Abfindung zu hinterlassen. Grace‹ Scheidungsanwalt, Georg, wurde Stiefvater Nummer vier. Und damit hoffentlich der letzte. Grace ist über sechzig. In diesem Alter lassen sich wohlhabende Ehemänner nicht mehr so leicht auftreiben. Ihre Mutter ist ihr ein Rätsel. Ohne Ehemann ist sie eine Suchende. Mit einem Mann an ihrer Seite beginnt sie zu leuchten. Eine hingebungsvolle Ehefrau, brillante Gastgeberin, perfekt in jeder Beziehung. Nur das Mütterliche müsste man ihr noch beibringen. Die Durststrecken zwischen den Ehemännern waren, dem Himmel sei Dank, nur kurz. Grace war und ist immer noch eine bestechend attraktive Frau.
Valerie streckt sich, sichert den Text, und greift nach dem letzten trockenen Keks neben dem Gerät. Sie überlegt ob sie nach Fährmannssand fahren soll. Der Abend ist mild und sie hat Hunger. Vielleicht mit Ruth …? Valerie besitzt kein Auto. Mit dem Rad ist sie in der Stadt mobiler. Außerdem, wozu gibt es Taxis? Sie ist so hungrig, dass sie die Katze fressen könnte. Nein, sie muss sofort … Bevor sie nach dem Telefon greifen kann, klingelt es Sturm. Und Sturm ist immer Ruth. Sie drückt auf die Sprechanlage und öffnet gleichzeitig die Tür.
Ruth mit einem Tablett Sushi. »Das müssen wir schnell essen, sonst wird es schlecht.«
»Du ahnst nicht, wie schnell ich essen kann.« Valerie umarmt die Freundin. »Woher wusstest du, dass ich am Verhungern bin?«
Sie geht in die Küche um Gläser und Weißwein zu holen. Als sie zurückkommt, erstarrt sie. Ruth steht vor dem Laptop und sieht auf den Schirm. Sie wendet sich ihr zu. »Was ist das für ein Vorfall, von dem du …«
Mit zwei Schritten ist Valerie bei ihr und klappt den Laptop zu. Ruth weicht einen Schritt zurück.
»Das ist nichts, nichts, was ich mit meiner Lektorin schon besprechen möchte.«
So abweisend hat Ruth Valerie selten erlebt. »Entschuldige, der Kasten stand offen ich dachte nicht, dass …«
»Vergiss es, ich bin noch nicht so weit, um über den Text zu sprechen.«
»Verstehe.«
Valerie stellt die Gläser neben das Tablett mit Sushi. Und lässt sich in einen der bequemen Balkonstühle fallen. Sie stöhnt auf, als sie das erste Fischröllchen in den Mund schiebt. »Du rettest mir das Leben.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass der Verlag dringend auf den nächsten Roman von dir wartet. Das allein ist der Zweck dieser Lebensrettung.«
Valerie lacht und greift nach ihrem Glas. »Ich ahnte, dass du Hintergedanken hast.«
»Ich soll dich von Viktor grüßen. Er will wissen, ob du das angefragte Interview annimmst.«
»Ich denke schon, aber ich habe noch nicht zugesagt. Das mache ich morgen.«
Der süßliche Duft von nicht ganz legalem Räucherwerk zieht kaum merkbar durch die Luft. Ruth beugt sich übers Geländer.
»Deine Halbstarken haben den Spielplatz übernommen.«
Valerie schaut auf ihre Uhr und nickt. Zweiundzwanzig Uhr. Sie gähnt.
»Ich würde auch gerne mal wieder eine rauchen.«
Sie erinnert sich, dass sie ihre Zigaretten und das Feuerzeug auf dem Tisch hat liegenlasen, an dem sie Adam getroffen hat. Wollte sie ihm damit sagen, dass sie ihn wiederzusehen wünscht? Freud hätte es vermutlich so interpretiert.
Ruth lacht. Ihre Zähne leuchten weiß in ihrem, von blauschwarzem Haar eingerahmten, dunklen Gesicht. »Das nächste Mal bringe ich dir, statt Sushi, ein Sträußchen Cannabis mit.«
Bei dem Wort Sträußchen fällt Valerie die Apfelblüte auf dem Etikett ihres Honigglases ein. Sie nimmt sich vor, nachzusehen, woher der Honig stammt.
Nachdem Ruth gegangen ist, sucht sie nach der Adresse auf dem Aufkleber des Honigglases. Aber die ist unleserlich. Sie fragt sich, wie sie auf die Idee kommt, dass Adam der Honigproduzent sein könnte. Und sie fragt sich, was es ist, das sie so oft an diesen Mann denken lässt. Der Gedanke an ihn lässt ihr Herz schneller schlagen.
Valerie stellt das Glas zurück und geht ins Badezimmer. Immer noch spukt Adam in ihrem Kopf herum, sie sieht sein gebräuntes Gesicht vor sich, das auf Arbeit im Freien schließen lässt. Seine kräftigen, ebenfalls braungebrannten Hände, die den kleinen Jungen festhalten, sehen auch nicht nach Schreibtischtäter aus.
Sie ist hundemüde, aber sie kann, wie so oft, nicht einschlafen. Adam und Ben spuken in ihrem Kopf herum.