Читать книгу Die Füchsin - Ursula Tintelnot - Страница 3
1 Lesung
ОглавлениеAdam sitzt mit einem schlafenden Kind auf dem Schoß in einem weiten Raum. Schwarze Eisenstreben überwölben die hohe Decke der ehemaligen Fabrikhalle. Jetzt, nach der Lesung, stehen die Tore offen. Gruppen von Rauchern auf dem gepflasterten Vorplatz, Gedränge an der Bar. Die Tische sind nicht alle besetzt.
»Ben möchte Sie kennenlernen.«
Die, die er anspricht ist … so alt wie er? Vielleicht. Attraktiv? Sehr attraktiv. Hat sie zu viel getrunken? Er ist stocknüchtern.
»Ihr Ben schläft gleich ein.« Sie lacht leise.
»Das ist ein Täuschungsmanöver. Er tut nur so.«
Er betrachtet sie, möchte sie noch einmal zum Lachen bringen. Schön geschwungene Lippen. Augen, grau oder grün? Das kann er nicht erkennen. Unter gesenkten Lidern blickt sie das Kind an. Nicht ihn. Ihre Finger spielen mit einer langen, hauchdünnen Silberkette über ihrem Dekolleté. Ein halb geleertes Glas in ihrer Hand. Sicher nicht das erste, denkt er. Sie macht einen Schritt von ihm weg. Eine leichte Unsicherheit. Ihre Hand greift Halt suchend eine Stuhllehne.
»Wie gefielen Ihnen die Gedichte?«
Sie zögert. »Zu viel Todessehnsucht.«
Ja, die Gedichte drehten sich um Tod, Einsamkeit und Verlassenheit. Passend zu seiner eigenen Seelenlage.
Sie wühlt in ihrer Umhängetasche. Eine zerknitterte Zigarettenpackung kommt zum Vorschein. Ihre Hand zittert leicht. Das Feuerzeug findet sie in der Tasche ihres Jacketts. Sie atmet den Rauch tief ein und hält ihm nach kurzem Zögern die Packung entgegen.
»Nein, danke. Ich habe aufgehört.«
»Vernünftig.«
Sie zieht den Stuhl zu sich heran und setzt sich halb abgewandt von ihm, so, dass sie in den Raum sehen kann.
Er betrachtet ihre hohe Stirn, die gerade Nase, das Kinn. »Die Beschäftigung mit dem Tod ist legitim.«
»Sicher.« Sie dreht den Kopf in seine Richtung.
Unwillkürlich fragt er sich, wie es wäre, diese Lippen zu küssen, die sich gerade um die Zigarette schließen. Sie raucht gierig.
»Ich bin Adam«, sagt er schnell. Er will nicht, dass sie geht, kann den Blick nicht von ihr wenden. Üppiges dunkelrotes, von einem Band im Nacken zusammengehaltenes Haar. Die Lider schwer über schmalen Augen.
Die Füchsin, die seit einiger Zeit um sein Haus herumschleicht, fällt ihm ein. Eine hochbeinige elegante Fähe, mit ungewöhnlich dunklem rotem Fell. Eine Füchsin, denkt er. Eine Füchsin mit einer verletzten Pfote. Ihm ist ihr leichtes Hinken aufgefallen.
Sie ist ungewöhnlich. Sicher die auffallendste unter all den Frauen. Sie hat so etwas wie einen Panzer um sich, unsichtbar, aber ein Panzer.
Er blickt sich um. Es gibt nur wenige Männer hier. Wie so oft sind die Frauen auch bei dieser Lesung in der Überzahl. Er interessiert sich für Gedichte, Literatur überhaupt. Und für Kräuter und Giftpflanzen. Er züchtet sie, baut sie an und fotografiert sie. Seine Erkenntnisse schreibt er akribisch auf.
Als er wieder in ihre Richtung schaut, ist sie nicht mehr da. Auf dem Tisch liegt ihre Zigarettenpackung, daneben das Feuerzeug. Ohne nachzudenken, steckt er beides ein. Im Ausgang sieht er kurz ihr Profil. Glanz auf ihrem Haar. Dann ist sie fort. Verdammt! Er hätte gerne mehr von ihr gewusst. Sie hat nicht einmal ihren Namen genannt. Er erhebt sich, als das Kind auf seinem Schoß sich regt.
»Wir gehen heim«, flüstert er.
Der kleine Junge legt die Arme um Adams Hals und schmiegt sich an ihn. »Dada«, flüstert er und schläft wieder ein.
Der rote Pritschenwagen ist alt und nicht sehr sauber. Ein Auto, dem man den Gebrauch ansieht. Ein Nutzfahrzeug, kein Statussymbol. Er schnallt das Kind im Kindersitz fest, schiebt die Tür so leise wie möglich zu und geht um den Wagen herum, um auf der anderen Seite einzusteigen.
Benjamin, denkt er, müsste in seinem Bett liegen, nicht mit mir an nächtlichen Veranstaltungen teilnehmen. Er bleibt eine Weile sitzen, ohne den Wagen zu starten, und starrt auf den regenfeuchten Asphalt. Ein kurzer warmer Sommerregen, der keine Abkühlung bringt. Adam fährt erst los, als der Regen nachlässt. Er hat wieder nicht an die defekten Scheibenwischer gedacht. Morgen, denkt er.
Diese Frau geht ihm nicht aus dem Kopf. Er ärgert sich, dass er sie hat gehen lassen. Eine Frau ohne Namen, eigentümlich vertraut.
Ben schnarcht leise, sein Köpfchen ist zur Seite gefallen. Mit beiden Händen hält er einen kleinen Stoffhund an die Brust gedrückt. Adam fragt sich nicht zum ersten Mal, wie er mit einem knapp Zweijährigen zurechtkommen soll. Seine Gedanken wandern zum dunkelsten Tag seines Lebens. Dem Tag, an dem seine Schwester starb und ihm ihr Leben hinterließ. Er hat es angenommen.
Jetzt startet er seinen Wagen. Fünfundvierzig Minuten später sieht er die Dächer der Gewächshäuser, glänzend nass vom Regen. Daneben die Scheune und das große alte Steinhaus. Vorsichtig biegt er in den Hof ein und parkt direkt vor der Haustür. Die Füchsin sitzt reglos zwischen den Gewächshäusern. Er hebt Ben aus seinem Sitz und bringt ihn, ohne ihn zu wecken, ins Bett.