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Kapitel 4 Verzweifelter Kampf
ОглавлениеGanz naiv ging ich davon aus, dass Gerti gesund werden würde wie ich. Wenn ich damals schon so viel über Krebs gewusst hätte wie heute, wäre mir klar gewesen, dass Gerti zu dem Zeitpunkt, zu dem wir uns kennen lernten, schon keine Chance mehr hatte, den Krebs zu besiegen, außer durch ein Wunder. Denn ungefähr acht Jahre vor unserer ersten Begegnung hatte ein Arzt nach mehreren Fehldiagnosen bei ihr im Knie ein Sarkom festgestellt. Es wurde operiert, bestrahlt und das Problem war anscheinend beseitigt. Nach einer Weile kam das Sarkom dann wieder, wurde abermals herausgeschnitten und bestrahlt. Sie hatte erst einmal eine Zeit lang Ruhe.
Dann erkrankte ihr Mann an Krebs, er verstarb schließlich an einem Bronchialkarzinom.
Gerti war, als wir uns zum ersten Mal getroffen habe, im Krankenhaus, weil man ihr einen bösartigen Tumor am Zwerchfell wegoperieren wollte. Wenn ich ein bisschen Ahnung gehabt hätte, dann wäre mir klar gewesen, dass der Krebs vom Knie schon gestreut hatte und die Krebszellen durch die Blutbahnen wanderten, um sich an unterschiedlichen Stellen in ihrem Körper niederzulassen, festzusetzen und neue Tumore zu bilden. Der Krebs hatte also schon den ganzen Körper erfasst.
Wahrscheinlich war Gerti ähnlich ahnungslos wie ich. Wir haben beide gedacht, dass wir das schon schaffen werden.
Doch dann kam die Nachuntersuchung im Krankenhaus. Am Tag vorher hatten wir noch ausgelassen herumgealbert. Aber als wir zusammen in die Uni-Klinik fuhren, sagte Gerti sehr besorgt: „Hoffentlich ist nicht wieder etwas nachgewachsen!“ Ich habe versucht, sie zu beruhigen, aber ich spürte ihre Aufregung, die auch durch meine Worte nicht nachließ. Und dann hatte sie auch Recht behalten. Im Bericht des Arztes stand etwas von einem Rezidiv. Gerti sagte, ich sollte mir das durchlesen, doch sie selber wollte es gar nicht so genau wissen.
Oft hat sie gesagt: „Ich bin so glücklich, dass wir uns getroffen haben, wenn doch bloß dieser blöde Krebs nicht wäre!“ Ich fühlte mich dann so hilflos, weil ich ihr nichts als meinen Beistand geben konnte, aber ich konnte sie nicht gesund machen.
Gertis jüngster Sohn machte gerade Abitur und wollte in Bonn studieren. Da ich so oft bei Gerti war, um sie zu unterschiedlichen Behandlungen nach Köln zu fahren, kamen wir auf die Idee, dass ich zu ihr in ihre Wohnung ziehen könnte. Dem Sohn schlugen wir vor, meine Wohnung zu beziehen. Er war damit einverstanden. So war er an dem Ort, an dem er studierte und ich zog zu Gerti. In einem Buchladen stieß ich eines Tages auf ein Buch mit dem Titel „Wieder gesund werden“ von O. C. Simonton. Ich las ein paar Seiten in dem Buch und nahm es schließlich mit, weil in ihm von Menschen berichtet wurde, die den Krebs besiegt hatten. In diesem Buch lag auch eine Kassette mit Meditationen, die zur Gesundung beitragen sollten. Mit den Texten aus dem Buch haben Gerti und ich dann meditiert. An eine dieser Meditationen erinnere ich mich noch sehr genau: Da sollte Gerti mit ihrem inneren Führer Kontakt aufnehmen und ihn fragen, was sie tun könnte, um ihre Krankheit zu besiegen.
Sie hat mir nach der Meditation erzählt, dass sie einen Priester in einem schwarzen Gewand vor ihrem geistigen Auge gesehen habe, der sehr ernst geschaut hätte und ein geschlossenes Buch in den Händen hielt.
Erst viel später habe ich den Inhalt dieser Botschaft begriffen: Das Buch ihres Lebens war schon zugeschlagen und wir verwendeten unsere ganze Kraft und Fantasie darauf, der Vorsehung ein Schnippchen zu schlagen.
Wir fuhren weiterhin jede Woche zu dem Arzt nach Köln, zu dem Gerti unendliches Vertrauen hatte. Sie wollte alles tun, um die Krankheit zu stoppen. Bei einem unserer Besuche habe ich den Arzt gefragt, wie es denn sein könnte, dass Gerti so starke Rückenschmerzen hätte. Er meinte nur zu mir: „Sie sollte sich mal fragen, was sie so sehr schmerzt!“
Nach dem Arztbesuch hat Gerti dann zu mir gesagt: „Bitte schau dir doch mal meinen Rücken an, mir tut es an einer Stelle so schrecklich weh!“
Sehr gut kann ich mich daran erinnern, wie ich vorsichtig mit der Hand über ihren Rücken strich und ganz deutlich zwischen den Rippen einen Knoten fühlen konnte. Ich wiederholte den Vorgang noch mal und noch mal, als könnte ich den Knubbel damit verschwinden lassen, aber er blieb. Und wenn man von der Seite auf den Rücken sah, dann konnte man ihn sogar mit dem bloßen Auge erkennen.
Wir wussten beide, was das bedeutete: Der Krebs war wieder an einer neuen Stelle da! Ich war wütend auf den Arzt, der es nicht einmal für nötig gehalten hatte, den Rücken seiner Patientin abzutasten, als sie über starke Rückenschmerzen klagte.
Das bedeutete, dass Gerti wieder ins Krankenhaus musste, denn die Ärzte wollten den Knoten wegoperieren. Eine Vollnarkose mutete man ihr in ihrem Zustand nicht zu. Deshalb wurde sie nur örtlich betäubt und eine Ärztin – alle nannten sie den Engel der Krebskranken, weil sie so unglaublich einfühlsam war – hielt ihr während der ganzen Operation die Hand und erzählte Gerti, was ihre Kollegen gerade an ihrem Rücken operierten.
Die Ärzte waren davon ausgegangen, dass sie den Tumor einfach abtragen könnten, aber sie mussten bald feststellen, dass er sich unter den Rippen in den Brustraum fortsetzte. Da konnte man nur wieder zunähen und eine Chemotherapie zur Bekämpfung des Krebses vorschlagen.
Wir wollten nichts unversucht lassen und sind auf den Vorschlag eingegangen, obwohl nur eine ganz geringe Chance bestand, dass der Tumor durch die starke Chemotherapie angegriffen würde.
Noch bevor diese Tortur beginnen sollte, sind wir in einen Betrieb gefahren, in dem Perücken hergestellt wurden, denn die Ärzte hatten angekündigt, dass man bei der Chemotherapie seine Haare verlieren würde. Wir haben beim Aufprobieren der Perücken Tränen gelacht und uns dann für eine entschieden, die Gertis Haarfarbe am ähnlichsten war. Dann haben wir einen Frisör in die Wohnung bestellt, damit er der Perücke einen pfiffigen Schnitt verpassen sollte. Er traute sich erst gar nicht zu schneiden, weil er Angst hatte, die Perücke zu vermasseln. Erst als wir ihm versicherten, dass er nicht für den Schaden aufkommen müsse, wenn ihm sein Werk misslingen würde, begann er zu schneiden. Der Haarschnitt der Perücke ist ihm ausgezeichnet gelungen.
Die ersten vier Stufen der Chemotherapie hat Gerti tapfer über sich ergehen lassen. Es war sehr hart für sie und das Schlimmste war, dass sie ihre Haare büschelweise verlor. Schließlich habe ich ihr die Haare ganz kurz geschnitten. Aber es hat sie viel Überwindung gekostet, die Perücke aufzusetzen, denn sie dachte, jeder würde sofort sehen, dass die Haare künstlich waren. Gerti hat die Perücke erst akzeptieren können, als wir ihre Schwester in Brüssel besuchten, die sie lange nicht gesehen hatte und die bei der Begrüßung meinte: „Du hast aber eine tolle Frisur!“
Nach jeder Chemotherapie ging es Gerti so schlecht, dass ich große Bedenken hatte, sie alleine zu Hause zu lassen, wenn ich zur Arbeit ging. Gertis Freundin Christel hatte einen rettenden Einfall. Sie schickte ihre Tochter morgens, damit sie Gerti zur Seite stehen konnte. Das war eine großartige Hilfe, denn die junge Frau umsorgte die Kranke sehr liebevoll. Sie kochte ihr Brei, denn das Schlucken fiel Gerti schwer, unterhielt sich mit ihr und ermutigte sie. Nachmittags war ich dann wieder da.
Bei der Untersuchung nach der vierten Chemotherapie hatten die Ärzte festgestellt, dass der Tumor sich so gut wie gar nicht zurückgebildet hatte und deshalb wollte Gerti die Tortur der nächsten Chemotherapie, die man vorgesehen hatte, nicht mehr auf sich nehmen.
Sie hat mich gefragt, ob ich ihr böse wäre, wenn sie die Chemotherapie nicht fortsetzen würde. Natürlich nicht, ich wollte, dass sie gesund würde, aber ich wollte nicht, dass sie so unsinnig leiden musste.
Niemand weiß, wie stark ihre Schmerzen waren, auch ich nicht, aber ich ahne es, denn ich weiß, dass sie mehr Schmerzen ertragen konnte als die meisten anderen Menschen. Sie hat sich nicht einmal beim Zahnarzt eine Schmerzspritze geben lassen, wenn er bohren oder eine Zahn ziehen musste.
Wenn sie über Schmerzen klagte, dann wusste ich, dass sie unerträglich sein mussten. Einem jungen Arzt in der Uni-Klinik hat Gerti einmal gesagt: „Ich habe ganz schreckliche Schmerzen!“ Da hat der junge Mediziner geantwortet: „Die Schmerzen können ja wohl nicht so schlimm sein, wenn Sie noch dabei lachen können!“
Aber so war sie eben, immer fröhlich, mit einem sonnigen Gemüt ausgestattet. Wenn sie traurig durch die Welt gegangen wäre, dann hätte das die Schmerzen sicher auch nicht gemindert.
Inzwischen machten wir uns aber ernsthaft Gedanken darüber, ob Gerti ihre Krankheit überleben konnte und wir sprachen ganz offen über das Thema „Tod“.
In einem Buchladen hatte ich das Buch „Leben nach dem Tod“ von Raymond Moody entdeckt, in dem Menschen beschreiben, was sie erlebt haben, als sie für klinisch tot erklärt worden waren. Diese Berichte haben mich sehr beeindruckt und ich wollte mit Gerti darüber sprechen, darum kaufte ich dieses Buch. Wir haben dann gemeinsam darin gelesen, Gerti hat mir Passagen vorgelesen und ich habe ihr andere zu Gehör gebracht.
In dem Buch hat der Arzt R. Moody Berichte von Menschen veröffentlicht, die nach ihrem klinischen Tod ein Geräusch gehört und sich durch einen Tunnel bewegt hatten, bis sie von oben ihren Körper unter sich liegen sahen und beobachteten, dass man sie wiederbeleben wollte. Geistwesen von verstorbenen Freunden oder Verwandten kamen ihnen angeblich entgegen und ein Lichtwesen, dass sie dazu bewegte, sich ihr Leben wie im Film anzusehen und es zu beurteilen. Schließlich kamen sie aber an einen Punkt, an dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie ins Leben zurückgehen müssten, was ihnen sehr schwer fiel, weil sie aus diesem wunderbaren Zustand in ihren schmerzenden Körper zurück mussten.
Wir haben darüber diskutiert, ob diese Erlebnisse, die Menschen im Stadium des klinischen Todes hatten, nur deren Träume waren oder vielleicht Wunschvorstellungen, möglicherweise auch durch eine Ausschüttung körpereigener Hormone hervorgerufen wurden? Wir kamen zu keinem Ergebnis, aber Gerti hat bei unseren Diskussionen einmal gesagt: „Du tust so viel für mich, ich weiß gar nicht wie ich das wieder gutmachen soll. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann werde ich dein Schutzengel sein.“