Читать книгу Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales - Страница 14

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10.

So, wie alles gekommen ist, ist es schleichend gekommen und so leise, dass kaum jemand Notiz davon nahm. Viele sind fortgegangen aus unserem Dorf, auch ich.

Bertram fand es gut, dass ich ging. Kann nichts schaden, sagte er damals und meinte, dass ich dann einen neuen Blickwinkel auf alles bekäme und aus der Distanz die Dinge anders bewerten würde. »Geh und lass dich nicht halten. Der Himmel ist hoch.«

Für sich selbst wollte er keinen neuen Blickwinkel und auch keine Distanz. Er ginge nirgends hin. Bertram blieb aus Überzeugung.

Bis zu dem Tag, an dem er plötzlich verschwand.

Von einem Tag auf den anderen wurde er nicht mehr gesehen.

Nicht in seinem Haus, nicht im Dorf, nicht am Berg.

Als ich von Bertrams Verschwinden hörte, lebte ich seit Jahren nicht mehr in meinem Dorf. Ich hatte mich gewundert, weshalb von ihm keine Briefe mehr kamen, sorgte mich, versuchte ihn anzurufen, was sich schnell als sinnlos herausstellte. Vielleicht hatte er seinen VW-Bus bepackt und war nach Indien aufgebrochen. Mir kam in den Sinn, dass er einmal, es war nicht lange her, unvermittelt und ohne offensichtlichen Grund mitten auf der Straße jäh hingeschlagen war und einige Momente wie betäubt dalag. Er war weiß im Gesicht, die Lippen grau und er bekam keine Luft mehr, konnte überhaupt nicht mehr atmen und ich war starr gewesen vor Schreck, rüttelte an ihm, drehte ihn auf die Seite, bis er schließlich sagte: »Hey, du bist ja da.« Ich brachte ihn nach Hause. Danach hatte er so einen Wunsch nach Ruhe.

Vielleicht hatte er etwas, eine Krankheit, und niemand wusste davon. Bertram, komm zurück. Alles soll wieder so sein wie es war und alles soll so bleiben.

Meine Unruhe wuchs. Ich telefonierte mich durch seine Freundschaften. Es kamen nichtssagende Sätze. Dass er in letzter Zeit komisch gewesen sei, erfuhr ich.

Ich fragte meinen Chef nach Urlaub, bekam ihn und fuhr nach Hause. Über drei Monate war ich nicht dort gewesen.

Es war später Juli. Die Fahrt mit dem Zug war lang und die Schwüle im Abteil machte müde. Ab Mannheim dann Regen, der nur wenig für Abkühlung sorgte. Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Vom Wind getrieben bewegten sie sich ruckweise voran. Einige waren schneller als andere, vereinigten sich mit den langsamen. Das Abteil war voll, ich hielt die Tasche auf dem Schoß und horchte nach dem Rattern der Räder, einem Geräusch, das sich veränderte, wenn der Zug über Weichen fuhr. Ein Kind flüsterte, eine Frau kramte in einem Beutel, Papier raschelte. Das Kind kaute.

Der Mann, der mir gegenüber saß, zog eine Zeitung aus der Tasche, blätterte und las. Auf der Rückseite war das Foto eines Radfahrers in einem gelben Trikot abgedruckt. Der Titel klang wenig spannend: »Wie geht es weiter mit der Tour de France?« Der Mann las eine Weile, dann faltete er die Zeitung zusammen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Zeitung lag jetzt auf seinen Knien. Die fettgedruckte Schlagzeile sprang mir ins Auge: Erdoğan – der türkische Albtraum. Und: Der Islamische Staat verübt ein Massaker an den Jesiden in Kocho. Weiter unten las ich, dass sich die Hälfte aller Deutschen durch Lärm belästigt fühle. Der Bericht ging weiter auf Seite 3, wo es zudem um die Meere gehen sollte und die Belastungen, die durch Überfischung und Überdüngung entstanden waren.

Ganz unten dann noch das Foto einer winkenden Dame mit Hut: Elizabeth The Second, Queen by the grace of God. Ich erfuhr, dass die Queen das Pferderennen in Ascot besucht hat und als Besitzerin und Züchterin von englischen Vollblütern alle Rennen verfolgt, an denen ihre Tiere beteiligt sind. God save the Queen. Mitsamt den Hunden.

Ein Schaffner ging von Fahrgast zu Fahrgast, gab Auskünfte, scannte die Billets. Der Mann auf dem Sitz gegenüber wachte auf, schob die Zeitung zusammen und während er aus dem Fenster sah, sagte er völlig unvermittelt: »Es muss alles anders werden, alles.«

Draußen Straßen, Brücken, Dörfer und Mauern. Ab und zu Kirchtürme. Ein Nebeneinander von Punkten.

Hecken und Sträucher bogen sich in dem vom Zug verursachten Wind.

Die Schienen überwanden den Raum viel zu schnell. Machten ihn irgendwie gleichgültig.

Eine Schulklasse reiste mit. Kinder saßen ein paar Sitze weiter vorne und stimmten, aufgefordert von einer resoluten Lehrerin, die mit erhobenem Finger das Zeichen des Einsatzes gab, auf der Höhe von St. Goar, unterhalb des Loreleyfelsens, ein Lied an: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …« Lange blieb mir diese Zeile im Kopf. Sie passte zur Situation; sie passte zu Bertrams Verschwinden und klang irgendwie dunkel.

In Koblenz stieg ich in einen fast leeren Waggon um. Der Zug hatte Verspätung. Trotzdem hielt er überall, auch wenn niemand ein- oder ausstieg.

Es dauerte noch über eine Stunde, bis ich ankam. Die wenigen Reisenden, die mit mir den Zug verließen, verschwanden innerhalb von Sekunden.

Bis zum Dorf waren es zwei Kilometer. Ich ging zu Fuß, entlang der Kyll.

Die erste, der ich im Dorf begegnete, war Schniggischs Else. Sie stand, im Einkaufsnetz Salat und Möhren, ein Kind mit Schulranzen an der Hand, an der Bushaltestelle vor der Burg. »Wat machst du denn hier? Und so mitten in der Woch? Haste nix zu schaffen?« Als ich sie nach Bertram fragte, erntete ich einen vorwurfsvollen Blick: »Dat darf doch net wahr sein! Wegen dem biste hier?«

Auch meine Eltern wunderten sich, stellten aber keine Fragen.

Mein erster Weg führte die Dorfstraße hinauf, zu Bertram.

Der Regen hatte den Weg aufgeweicht und morastig gemacht. Bertrams VW-Bus parkte in hohem Gras und war, wie es aussah, lange nicht benutzt worden. Auf dem Dach hatten sich Moosflecken gebildet, unter den Scheibenwischern sammelten sich Laub und Zweige, der rechte Vorderreifen war platt und schien beinahe mit dem Boden verwachsen, strotzendes Grünzeug hatte es irgendwie in die Felgen geschafft.

Der Garten war verwildert, überall Löwenzahn und Giersch. Ein Schwarm ärgerlicher Spatzen erhob sich aus Nusshecken, wie aus der Hand in die Luft geworfen. Ein Hase duckte sich hinter einem Holzstapel und verharrte so still, dass ich seine blanken Augen sehen konnte.

Auch zwischen den Treppenstufen wucherte Unkraut. Wie eine kleine Laterne hing ein Wespennest über dem Eingang.

Der Briefkasten quoll über. Zeitungen, Wurfsendungen, Reklame. Die Stromrechnung. Der Kasten war so vollgestopft, dass ich alles mit Gewalt herauszerren musste. Postmüll von Wochen landete auf der Treppe.

Ich hatte den Schlüssel dabei, den Bertram mir mal gegeben hatte, stellte aber fest, dass ich ihn nicht brauchte. Die Tür war offen.

Ich rief.

Keine Antwort.

Ich rief wieder.

Im Flur war es dunkel. Ich drehte am Lichtschalter. Es war einer, den man noch mit Daumen und Zeigefinger bedienen musste. Der Strom war abgeschaltet.

Auf dem Küchentisch stand schmutziges Geschirr. Ein angefangenes Kreuzworträtsel und ein Kugelschreiber lagen neben einer angeschlagenen Tasse und Supermarkt-Prospekten. Dazwischen Brotkrümel. Der Aschenbecher quoll über vor Kippen. Auch Tabakbeutel und Feuerzeug lagen da, als hätte er sie eben noch in der Hand gehabt. Über Bertrams Stuhl mit der Sprossenlehne hing eine Strickweste. Auf der Spüle war eine Schale mit Zwiebeln zurückgeblieben, die lange Wurzeln in die Luft streckten. Daneben ein Rasierpinsel und verkrustetes Besteck auf dem Fliegen saßen. Am Fenstergriff baumelte ein getrocknetes Büschel Pfefferminze, gehalten von einer Paketschnur. Alles wie sonst. Sogar der Geruch nach Winter und Räucherstäbchen.

Nur dass Bertram nicht da war.

Ich schob die Gardine zur Seite, um Licht hineinzulassen, und öffnete das Fenster zum Garten. Frische Luft zog herein. Eine Fliege schreckte auf, ein dicker Brummer, bläulichschwarz. Er drehte eine Runde über der Spüle, kehrte zurück zum Fenster, und stieß seinen harten Kopf gegen das Oberlicht. Es war später Nachmittag. Irgendetwas musste Bertram mit der alten Zinkwanne vorgehabt haben, denn er hatte sie herausgeschleppt, bis unter einen der Apfelbäume, und mit Erde gefüllt.

Ich sah nach den Schwalben, die schreiend heranschossen, pfeilgerade in Richtung Dach, wo unter der Traufe ihre Nester klebten, Halbkugeln aus Lehm, den sie schnabelweise hinaufgeflogen hatten, um jetzt die Jungen zu füttern, die dort oben ihre breiten Schnäbel aufrissen. Geräusche von Sprengungen im Steinbruch rollten über den Wald. Ein Echo warf das Grollen zurück. Wie ein Gewitter hörte sich das an.

Das Licht in der Küche fiel in einem schrägen Winkel ein. Staub und Flusen schwebten leicht und anmutig wie Schneeflocken durch den Raum.

Von der Küche ging ich ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in Bertrams Zimmer. Die Gitarre lag auf dem Bett; der Klavierdeckel war zugeklappt. Ich tappte zurück durch den Flur, in die Küche, wo ich mich in seiner beunruhigenden Atmosphäre an den Tisch setzte, seinen Tabakbeutel, seinen Stift, sein Feuerzeug betrachtete. In einem anderen Garten ging ein Rasenmäher. Jemand schlug eine Autotür zu. Das Licht in der Küche veränderte sich, etwas veränderte sich, hatte sich schon verändert. Bertram war weg.

Niemand im Dorf war erstaunt über Bertrams Verschwinden. »Der kann net weit sein«, meinte Hildegard, bei der ich Milch für meine Mutter holte und Pitter stimmte ihr zu. »Unkraut vergeht net.«

Die Kinder wussten nichts. Die Leute vom Fußballplatz zuckten die Schultern. Meine Suche kommentierten sie mit leeren Sprüchen. »Reg dich net auf. Der kommt schon wieder …«

Anne, die als Avon-Beraterin in viele Häuser kam, meinte, dass man ihn in Indien finden könnte. »Damit hatte er doch so einen Spleen.«

»Ach was, Indien«, lachte Onkel Hein, dem ich davon erzählte, »deinen Bertram haben die Raben gefressen.« Er warnte mich, zu viel Buhai daraus zu machen. Aber von einem Buhai konnte gar keine Rede sein.

Der Mann, der das Eierauto fuhr, meinte ihn schon mindestens sechs Wochen nicht gesehen zu haben. Tina, unsere Nachbarin, erzählte mir, dass sie ihn zuletzt mit einem auffallend großen Beutel Richtung Flecken habe gehen sehen. Kati, die ich ansprach, als sie in ihrem Garten werkelte, war sicher, ihm vor ein paar Tagen noch auf dem Friedhof begegnet zu sein. »Am Grab bei seinen Eltern war der. Aber meinste, der hätt mal gegossen? Sowat macht der ja net. Dat ist dem total egal!«

»Ein paar Tage, das kann nicht sein«, sagte ich und sie winkte ab: »Herrje, so genau weiß ich dat ja auch net mehr. Dann war et eben letzten Monat oder vorletzten, jedenfalls hab ich den gesehen und dat is noch gar net lang her.« Obwohl sie erst seit kurzem Witwe war, trug Kati ein buntes Kleid mit Blumenmuster und ihre nackten Füße steckten in lila Birkenstock-Sandalen. Eine Witwe hätte früher Schwarz getragen, dachte ich. Mindestens ein Jahr lang.

Bald wusste jeder im Dorf, dass ich ihn suchte, aber kein Wort, kein Zeichen, kein Wink. Nur verständnislose, ja spöttische Blicke und ab und zu die Frage, warum ich mir das antue. Als ob Bertram es nicht wert sei, vermisst und gesucht zu werden.

Ich wartete auf Bertram. Tage. Wochen. Monate. Sitzend, stehend, liegend, herumgehend von Fenster zu Fenster, von Zimmer zu Zimmer. Sogar in den Zügen suchte ich ihn, auf Bahnhöfen, in Cafés, in Parks, in denen er nie war. Ständig wartete ich auf einen Brief.

In seinem Haus, das ohne ihn leer war, suchte ich nach Spuren. Ich durchforstete die Post, fand seinen Adresskalender in der Küchenschublade, rief alle dort notierten Nummern an, auch welche, bei denen kein Name vermerkt war. Einmal hatte ich einen Buchladen am Telefon, ein anderes Mal die Müllabfuhr und eine Stimme vom Band. Nein, ich wollte keine Nachricht hinterlassen.

Ich entwarf ein Suchplakat, kopierte es, steckte es mit Reißzwecken an Bäume, klebte es mit Tesa an Laternenpfähle und auf den Schaukasten vor der Kirche. Marianne, Wirtin vom Gasthaus zur Schauerbach, fixierte das Plakat mit Stecknadeln auf der Wand neben dem Spielautomaten. Sie kannte Bertram und verstand mich.

Dann ging ich, die Plakate unterm Arm, zu Fuß in den Flecken, entlang der Kyll.

Der Fußweg, den ich benutzte, war neu angelegt, sehr schön, und machte den Weg kürzer.

Das Wasser der Kyll funkelte und fast war es so, als ob der Fluss ein Stück neben mir her liefe, wenn auch in eine andere Richtung, und ich war dankbar, dass er nicht auf direktem Weg in die Mosel strömte, sondern bei mir blieb auf diesem Fußweg und dann an unseren Dolomiten vorbeifloss, von denen ich einen Teil sehen konnte. Fünf Finger, eigentlich fünf Felsen, die aber aussehen wie die Finger einer Hand. Da oben war ich oft, auch mit Bertram. Ich erinnerte mich an Himmelsausblicke.

Linkerhand lag ein Supermarkt und kurz überlegte ich, eines der Plakate über das Werbeschild zu kleben, verwarf die Idee dann aber, weil meine Handynummer vermerkt war und ich Ärger fürchtete. Außerdem hing das Schild zu hoch.

In der Fußgängerzone hatte ich mehr Glück. Nach einer Stunde hingen sieben Plakate in Schaufenstern und Ladentüren. Immerhin.

Vor dem Portal von St. Anna fragte ich nicht lange, sondern zückte den Klebestreifen. Wer hat Bertram zuletzt gesehen? Wer weiß, wo er sich aufhält?

Die beiden Polizisten des städtischen Polizeipostens verzogen den Mund, als ich eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte. Ob wir verwandt seien? Seit wann Bertram denn weg wäre? Ob er niemals sonst weggewesen sei? Warum er mir hätte Auskunft geben sollen? Ob ich glauben würde, dass Bertram in Gefahr oder Opfer einer Straftat geworden sei?

Ich sagte, dass Bertram allein lebt, dass ich aber eine Freundin sei, der er regelmäßig Briefe schreibe. Das ließen sie nicht gelten. Ich fand sogar, dass sie amüsiert wirkten, denn sie grinsten und die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Es käme nur dann zu einer Fahndung, erklärten sie mir, wenn der Verdacht bestünde, dass Bertrams Leben in Gefahr sei und dass ansonsten jeder das Recht habe, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen, auch ohne dies seinen Freundinnen mitteilen zu müssen. Es sei also nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben bestünde. »Wo kommen wir denn hin, wenn jeder einen Nachbarn, den er länger nicht gesehen hat, vermisst melden würde? Vielleicht will er Sie nicht mehr sehen? Hatten Sie vielleicht Streit?«

Vom letzten Tag ein Stück

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