Читать книгу Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales - Страница 7
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Noch klingt in meinem Dorf das Lachen und Schwätzen der einstigen Bewohner wider.
Unser Dorf: zwei Bäche, ein Fluss. Oos, Dreesbach, Kyll. Überhaupt ein Netz von Bächen und Gerinnen, die alle der Kyll zustreben, wo früher in tiefen Tümpeln die Forellen standen und ich mich mit meinem Vater an Sommerabenden durch den Wildwuchs der Böschungen kämpfte und vom funkelnden Ufer aus, in der Schnakenwildnis, Aalschnüre auslegte, die wir am frühen Morgen wieder einholten.
Eine Quelle haben wir auch. Wir nennen sie Drees. Ein Dreesmännchen, uralt und hutzelig, mit blauem Hut, hat früher unten gesessen und Blasen heraufgeschickt. Man brauchte nur Geduld. Es zeigte sich nicht gerne. Es wohnte dort, wo die Tiefe schwarz und noch nie ein Mensch hingekommen ist, nicht einmal die Feuerwehrleute, die jedes Jahr den Brunnen reinigen. Die Blasen im Drees sind allerdings schwächer geworden.
Dann gibt es noch einen Berg, oder besser, einen Vulkan, von dem noch die Rede sein wird. Und natürlich Straßen: Prümer Straße, Oberdorf, Auf Scheid, Auf der Hütte, Dahlienweg, Klosterstraße, Denkelseifen und der Entenseifen mit einer Metallbaufirma. Das Dorf ist zerschnitten. Drei Teile, Scheed und Blitzhiwwel sind durch einen Bach und eine Bahnlinie voneinander abgetrennt, ein anderer Teil, die Hill, durch einen anderen Bach und eine vielbefahrene Straße. Wer sich nicht auskennt, könnte meinen, dass zumindest der eine Teil nicht mehr zum Dorf gehört, was genaugenommen auch richtig ist, denn das gesamte Dorf ist eingemeindet und gehört zu einer nahen Stadt, die berühmt ist für ihr Mineralwasser und ihren Namen vom Geröll und Gestein hat, das es hier in Massen gibt. Die Stadt ist kaum 30 Minuten Fußweg entfernt und klein, vielleicht 7000 Einwohner, weswegen man sie bei uns den Flecken nennt.
Kommt man von diesem Flecken her, sieht man von unserem Dorf zuerst die Burg mit dem Kastanienbaum. Es ist eine Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert, unzerstört, aber unzugänglich für die Leute, die hier wohnen. Gegenüber steht ein altes Haus, das früher zur Burg gehörte. Dort lebt Werner mit seiner Frau. Sie haben das Haus so behandelt, wie man mit alten Sachen umgehen soll: vorsichtig. Das Haus sieht schön aus. Ich denke es immer, wenn ich dort vorbeikomme. Werner kümmert sich auch um die Burg, sorgt dafür, dass sich das Wasserrad der Mühle weiterdreht und das Gemäuer nicht verfällt.
Im Oberdorf sind die alten Häuser rar geworden. Viele hat man abgerissen. In der Klosterstraße gibt es noch welche. In einem wohnt der Küster, Berni, ohne den unser Dorf nicht vollständig gewesen wäre. In einem anderen hauste Zeitungshanni, der vorzeiten in aller Frühe, einen schwarzen Sack auf dem Rücken, von Tür zu Tür zog und die Trierische Zeitung verteilte.
Die alten Häuser, die mit Scheunen und Ställen, hatten Namen: Pannen, Backes, Pittisch, Schmette, Lue. Es ist nicht lange her, da dampften vor den Ställen die Misthaufen. Längst sind aus den Ställen Garagen geworden und aus den Misthaufen Vorgärten.
Die Schule war zweiklassig mit einem großen Schulhof. Zwei und zwei eintreten, zwei und zwei in die Bänke. Aufstehen, wenn der Lehrer hereinkam. Dann beten. Die Bänke waren eng, das Holz glatt von all den Händen, die darauf geschrieben, gerechnet und geschwitzt hatten. Buchstaben waren eingeritzt oder Zahlen. Auf meiner Bank hatte jemand ein Herz eingekerbt. Aber nein, das war ich nicht.
Die Hauptstraße ist die Prümer Straße, die sich früher an einem Lebensmittelladen vorbei durch das Dorf schlängelte, bis eine Umgehungsstraße gebaut wurde. Die anderen Straßen sind kürzer und enden noch im Dorf. Manche sind nur Wege. Der kleinste, ein steiles Pfädchen, führt, wenn man vom Oberdorf herunter kommt, zur Kirche oder zur Schule, an ein paar steilen Gärten vorbei und endet an einem Spritzenhäuschen, in dem ein Feuerwehrwagen untergebracht ist.
Ganz in der Nähe liegt der Sportplatz, daneben, am Dreesbach, ein Spielplatz mit einer Rutschbahn und einer Schaukel, mit der man sich eindrehen und die Kette so hochzwirbeln kann, dass man vom Boden abhebt, um sich dann wieder herumwirbeln zu lassen. Hinter dem Spielplatz befindet sich ein Schützenhäuschen mit einem Schießstand, grün gestrichen, in dem sonntags mit Luftgewehren auf Schießkarten aus Karton geschossen wurde. Vor Jahren hingen dort Ehren- und Königsscheiben aus Holz an den Wänden; eine Theke mit Spülbecken gab es, ein paar Barhocker, ansonsten roch es nach abgestandenem Bier.
Wir wohnten im Oberdorf. Uns gegenüber, in einem sehr alten Haus, in dessen Giebel eine Eule ihr Nest gebaut hatte, lebte ein ebenso alter Mann, krumm und schief geworden mit der Zeit. Er stützte sich auf einen Gehstock, den er regelmäßig uns Kindern hinterher warf, wenn wir etwas taten, was ihm nicht gefiel. Immer, wenn er den Stock warf, war es eine Riesengaudi. Nicht nur, weil er nicht traf, sondern weil er ohne Stock hilflos war. Wir neckten ihn, forderten ihn heraus. Er ließ sich von uns necken. Denn er konnte nicht ohne uns und wir nicht ohne ihn. Um Wasser zu sparen, pinkelte er in seinen Garten. Er trug immer die gleiche Jacke und kaufte seine Zigaretten einzeln.
Sein altes Haus existiert lange nicht mehr. Die Eule musste sich ein anderes Gemäuer suchen. Ich sah sie manchmal, wenn sie gegen Abend im Birnbaum unserer Nachbarn saß. Wenn ich versuchte, näher zu kommen, reckte sie den Hals, sträubte die weißen Nackenfedern und riss die Augen auf. Manchmal sah ich sie auch schlafend, mit halbgeschlossenen Augen in ihrem herzförmigen schleierhaften Gesicht. Ganz schmal war der Schlitz zwischen den Lidern. Wenn sie sich aufschwang, hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Wo die Eule wohl sein mag?
In Winternächten höre ich manchmal noch in der Ferne ihren verlorenen Schrei.