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ОглавлениеMichael hatte nicht geantwortet, denn er dachte noch gar nichts, der letzte Fall hatte ihn gelehrt, alle Seiten im Blick zu behalten. Er würde sich zuerst ein Urteil über die Pflegerin und die anderen Menschen im Umfeld des Opfers bilden. Nach dem Essen sah er erneut auf die Uhr und dann machten sie sich auf den Rückweg zur Villa, wo Jürgen noch arbeitete. Der Leichenwagen hatte den Toten in die Gerichtsmedizin gebracht. Gernot war nach Hause gegangen.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Benedikt und hielt Jürgen den Becher mit Kaffee hin, den er unterwegs gekauft hatte.
„Oh, womit habe ich denn das verdient? Danke. Ich muss euch sagen, wenn das Opfer den Mörder nicht selbst ins Haus gelassen hat, dann hatte der einen Schlüssel.“
„Da kommen ja nicht allzu viele Leute infrage: Gernot, der Neffe, und die Pflegerin wird auch einen haben. Dieser Fall ist sicher schnell zu den Akten gelegt.“
„Ach ja, na dann viel Erfolg“, sagte Michael, der Benedikt mit einem Grinsen zugehört hatte. „Brauchst du mich noch oder hast du den Fall schon gelöst?“
Es klopfte zaghaft an die Tür und eine kleine, dürre Frau mit dünnen grauen Haaren stand plötzlich im Zimmer.
„Wo ist Fred? Was machen Sie hier?“
„Sind Sie Jutta Kücklitz?“, fragte Michael und hielt der Frau seine Hand hin. „Ich bin Kommissar Verskoff und das ist mein Kollege Kommissar Mayfardt.“
„Ja, ich bin Jutta Kücklitz, was ist denn passiert?“
„Herr Drekelt ist tot.“
Er beobachtete aufmerksam die Reaktion der Frau, die nun die Mundwinkel hängenließ und auf den Stuhl neben dem Bett sank. Sie seufzte.
„Der Arme, nun ist sein Leiden zu Ende. Aber dass es so schnell ging … ich verstehe nicht … was macht denn die Polizei hier?“
„Herr Drekelt ist nicht eines natürlichen Todes gestorben. Jemand hat ihm eine Überdosis Narkosemittel injiziert. Können Sie sich vorstellen, wer das getan hat?“
Sie schüttelte vehement den Kopf und stand wieder auf. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab.
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll: Fred hat in der letzten Zeit starke Schmerzen gehabt, aber er wollte es nicht zugeben. Immer öfter hat er über seinen Tod geredet und mir erklärt, wie er sich das alles vorstellte.“
Michael sah sie fragend an.
„Wie meinen Sie das?“
„Er wollte gerne sterben, aber nicht in einem Krankenhaus und nicht ohne Plan, nicht einfach so, verstehen Sie? Er wollte die Kontrolle behalten bis zu seinem Tod.“
„Ah!“, rief Benedikt nun aus dem Hintergrund. „Sie denken an Sterbehilfe? Das ist aber illegal. Hat er Sie gebeten, ihm beim Sterben zu helfen?“
„Nein, das hat er nicht“, erwiderte die Frau nun pikiert. „Sie meinen, ich habe ihm geholfen und dafür kassiert? Glauben Sie mir, er hat mich richtig gut bezahlt, einfach nur dafür, dass ich immer da war und ihn versorgt habe. Ohne Hintergedanken. Es war schon fast eine Freundschaft.“
„Aber er war doch schon uralt? Wie geht das denn?“
„Er war noch nicht mal sechzig, Herr Kommissar, nur hat ihn der Krebs gezeichnet. Ich kannte seine Frau, die bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und dann habe ich hier gearbeitet. Ich verstehe mich auch gut mit Gernot, aber alles war rein freundschaftlich.“
„Was haben Sie denn verdient?“, wollte Michael wissen.
„Jeden Monat hat er mir zweitausend Euro gegeben und dann ab und zu mal eine kleine Prämie, wenn es ihm besonders gut ging. Und darum wäre ich doch schön blöd, wenn ich seinen Tod herbeigeführt hätte, oder?“
Michael nickte, denn was die Frau sagte, hörte sich durchaus plausibel an. Er sah zu Benedikt, der mit den Schultern zuckte, anschließend fuhr er mit der Befragung fort.
„Wer hatte einen Schlüssel? Der Täter hat nichts aufgebrochen und die Fenster und Terrassentüren waren geschlossen.“
Jutta Kücklitz überlegte und entgegnete langsam: „Der Gernot und ich. Sonst weiß ich niemanden. Sind Sie mal auf die Idee gekommen, dass er jemanden hereingelassen hat?“
„Ich dachte, er war bettlägerig und konnte nicht aufstehen?“
„Nein! Er ist immer um elf Uhr aufgestanden und hat in seinem Sessel gesessen. Zur Tür konnte er auf alle Fälle gehen, auch auf die Toilette. Er trug ein Korsett, sogar beim Schlafen. Es hat immer ein bisschen gedauert, aber er ist meistens schon im Sessel gewesen, wenn ich kam. Dann haben wir zusammen gefrühstückt und den Tag geplant. Manchmal waren wir auch spazieren, natürlich in der kalten Jahreszeit nicht mehr. Er hat immer betont, dass er in Bewegung bleiben wollte.“
„Wenn das so ist, verstehe ich aber seinen Wunsch zu sterben nicht“, unterbrach sie Benedikt. „Einmal sagen Sie, er wollte sterben, jetzt sagen Sie, er wollte aktiv bleiben. Das ist ja wohl ein Widerspruch.“
„Ist es nicht! Aber anscheinend kann ich hier sagen, was ich will, es ist falsch. Dann sage ich jetzt gar nichts mehr.“
Na prima, dachte Michael, nun ist sie eingeschnappt. Er winkte Benedikt und bat Jutta Kücklitz, am kommenden Morgen für das Protokoll auf die Dienststelle zu kommen.
„Da ist Silvester!“
„Aber noch nicht am Vormittag.“
Im Büro angekommen telefonierte Michael mit Bianca und bat sie nach unten. Sie brachte eine Kanne frischen Kaffee mit und setzte sich. Nun fasste Michael das zusammen, was sie zusammengetragen hatten.
„War sie es?“, fragte Bianca. „Dann bin ich gespannt, was sie für ein Motiv hat.“
„Mein Instinkt sagt nein, aber irgendwie kann ich auch nicht glauben, dass es der Neffe war. Benedikt, du guckst dir am besten mal die Vermögensverhältnisse der beiden an und ich knöpfe mir Gernot nochmal vor. Der alte Mann war wohl immer noch Herr seiner Sinne, obwohl er unter starken Schmerzmitteln stand. Der Doktor hat gesagt, er hätte sehr lange so weiterleben können.“
Bianca sah nachdenklich aus dem Fenster. Das Thema Sterben machte ihr immer eine Gänsehaut und obwohl sie in ihrem Job sehr oft tote Menschen sah, war es jedes Mal ein Schlag in die Magengegend. Und der Gedanke, dass jemand freiwillig sterben wollte, machte ihr Angst. Wie groß muss bei so einem Menschen der Leidensdruck sein, dass er aufhörte zu kämpfen?
„Denkst du, er wollte sterben?“
„Ich weiß nicht, er lag so friedlich da, es war, als wäre er aufgebahrt.“
Nun weiteten sich Michaels Augen und in seinem Kopf glühte ein Gedanke auf.
„Wenn er seinen Tod geplant hatte, musste er schon vorher alles geregelt haben, also müssen wir seinen Notar finden und nach einem Brief suchen. Einer, der seinen Tod so akribisch plant, wird doch wohl ein paar Zeilen als Erklärung hinterlassen.“
„Es ist aber nun einmal in Deutschland verboten und der Helfer geht dafür auf jeden Fall hinter Gitter. Würdest du mir helfen zu sterben, wenn ich unheilbar krank wäre?“
Biancas Frage schwang unheilvoll durch den Raum. Benedikt nahm seine Jacke und verließ das Büro, Michael stellte sich zu Bianca ans Fenster und legte einen Arm um sie.
„Erstens bist und wirst du niemals unheilbar krank werden. Zweitens finde ich den Gedanken daran unendlich verwirrend und drittens ist das eine Frage, die mir Angst macht. Also hör auf, an so etwas zu denken. Vielleicht magst du mitkommen zu dem Neffen? Er wohnt in einer kleinen Wohnung in Erbach.“
„Entschuldige, aber es kam mir einfach in den Sinn. Natürlich lebe ich ewig, mein Schatz, erst recht mit dir an meiner Seite.“
„Das ist aber sehr kitschig.“
„Ich hole meine Jacke und komme mit. Geh schon mal vor.“
Michael nickte und lief auf den Parkplatz, wo er sich schnell ins Auto setzte, denn es hatte zu regnen begonnen. Er dachte: Ich muss diese Frau von so düsteren Gedanken ablenken, sie hat mir das Leben gerettet. Also nahm er sich vor, sie an Silvester zu überraschen.
Sie fuhren nach Erbach und befragten Gernot, aber irgendwie war auch dieses Gespräch sehr unbefriedigend. Also machten sie sich auf den Rückweg nach Eltville, wo Benedikt schon wartete.
„Die beiden haben keinen Grund, die Frau hat die Wahrheit gesagt und fast nichts von dem vielen Geld ausgegeben. Und Gernot bekam jeden Monat eine großzügige Unterstützung. Ich war gleich noch im Altenheim, wo er neben dem Studium arbeitet. Der ist da beliebt und eine Omi nannte ihn sogar Engel. Vielleicht hatte Fred Drekelt Besuch.“
„Heute kommen wir eh nicht weiter, also lass uns heimgehen“, schlug Bianca vor.
„Ja, Schatz, fahr schon mal voraus, ich plane schnell mit Benedikt, was wir im neuen Jahr machen und komme dann nach.“
Bianca erklärte, dass sie noch zum Einkaufen fahren würde und küsste Michael.
„Bis morgen, Benedikt. Ich freue mich.“
„Ich mich auch. Und danach die Party wird geil.“
Als sie aus der Tür war, erläuterte Michael seinen Plan für den nächsten Abend und fragte seinen Kollegen und Freund, was er davon hielt. Der grinste über das ganze Gesicht.
„Alter Mann, das ist eine geile Idee. Bis morgen Abend. Aber mach es erst, wenn ich weg bin.“
„Was dachtest du denn?“