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Der Lokführer rieb sich die müden Augen. Was war das? Hatte dort jemand gestanden? War etwas passiert? Was war das für ein Geräusch gewesen? Achim war müde und eine Erkältung hatte ihn gepackt. Er hustete schon den ganzen Tag und wäre gerne zuhause geblieben, aber es waren schon viele Kollegen krank. Als er niesen musste, hielt er sich beide Hände vor das Gesicht und schüttelte sich. Plötzlich nahm er im Licht der Lokomotive eine Bewegung wahr.

Zuerst dachte er, er hätte sich das alles nur eingebildet, aber das mulmige Gefühl ließ ihm keine Ruhe. Eine halbe Stunde später rief er den Fahrdienstleiter an, während er in Wiesbaden auf die Ablösung wartete.

„Hier ist Achim Pschingel vom Zug Nummer 56712, ich weiß es nicht genau, aber irgendwie hatte ich vorhin in Eltville das Gefühl, dass jemand direkt an den Gleisen stand und dann ...“

„Was heißt das genau?“

„Ich war mir nicht sicher. Ich habe jetzt Feierabend.“

„Wir kümmern uns. Bleiben Sie ruhig, vielleicht war es ein Tier.“

„Danke, Mann, es war ein Scheißgefühl. Oh Mann, da war ganz sicher etwas.“

Weinend sackte er zusammen.

Die Frau in der Fahrdienstleitung veranlasste die Sperrung der Bahnstrecke, nachdem sie die Bundespolizei informiert hatte. Die große Maschinerie lief an.

Es war weit nach Mitternacht und der diensthabende Polizist im Polizeipräsidium Eltville saß müde am Schreibtisch, als der Staatsanwalt anrief. Dr. Rosenschuh erklärte kurz, was passiert war, dann schnaufte er.

„Die Bundespolizei ist zuständig, aber es gibt einen Großeinsatz in Frankfurt, da sind nicht genug Leute abkömmlich. Holen Sie Frau Bonnét und die beiden anderen aus dem Bett. Es kann sein, dass wir einen Fall haben. Der Lokführer ist traumatisiert, aber er besteht darauf, dass da einer vor seinen Zug geschubst wurde. Die drei sollen sich beeilen und am Bahnhof melden. Ich bin vor Ort.“

Eine halbe Stunde später betraten Michael und Benedikt den Bahnsteig, wo die Kollegen der Spurensicherung eben dabei waren, Lampen aufzubauen und um den Bahnhof herum sperrten die Kollegen von der Bundespolizei das Gebiet weiträumig ab. Männer in weißen Anzügen stellten kleine Schilder mit Nummern neben die Einzelteile aus menschlichem Körper. Benedikt musste schlucken, so unangenehm war ihm der Gedanke, dass dort ein Mensch in Stücke zerrissen worden war.

Michael trat zu Jürgen, der bei einem Mann in Schutzkleidung stand, und begrüßte ihn. Auch ihn hatte man geweckt. Bianca war ins Büro gefahren.

„Warum müssen wir denn bei Selbstmord anrücken?“, fragte Jürgen Michael.

„Das sagt der Staatsanwalt! Der Lokführer wurde schon befragt und hatte ein merkwürdiges Gefühl. Er ist fertig mit der Welt, aber seine Aussage war undurchsichtig. Er hat etwas gestammelt von wegen Stoß und zwei Leute. Irgendwie ist ihm das Bild, dass er gesehen hat, erst später bewusst geworden. Also kann es sein, dass es ein Verbrechen war.“

Jürgen runzelte die Stirn und fragte: „Aber wenn es bei der Bahn passiert ist, sind wir doch gar nicht zuständig? Es ist jedenfalls eine junge Frau und das eine Stück von ihr lag im Schatten des Bahnsteigs, darum haben die Lokführer, die danach noch durchgefahren sind, nichts gesehen. Sie war außerdem schwarz gekleidet. Sie ist wohl durchtrennt worden. Gut, dass es nur drei Züge waren.“

„Die von der Bundespolizei haben gerade viel Stress, denn es ist irgendwas los in Frankfurt. Großeinsatz. Darum hat der Staatsanwalt uns hier antanzen lassen.“

Jürgen verschwand mit dem Mann im weißen Schutzanzug. Michael trat zu Benedikt, der sich gegen die Wand gelehnt hatte.

„Das wäre wirklich Mist, wenn die einer gestoßen hat. Aber mit wem gehe ich so nahe an die Bahnsteigkante?“, fragte Benedikt leise.

„Es muss einer sein, dem ich vertraue.“

„Du sagst es. Das hier ist genauso wie bei dem alten Drekelt. Er muss auch jemanden ins Haus gelassen haben, dem er vertraut hat.“

„Du willst aber jetzt nicht sagen, dass die beiden Fälle zusammenhängen?“

Benedikt sah Michael offen an.

„Wer weiß? Nach dem letzten Fall denke ich immer: Es ist alles möglich.“

„Es kann ja auch sein, dass sie jemand gegen ihren Willen an den Rand gezerrt hat.“

„Möglich, ich glaube aber nicht, dass wir hier ermitteln dürfen, die lassen sich das doch nicht aus den Händen nehmen.“

Bianca fuhr am Nachmittag mit Michael ins Krankenhaus zum Lokführer. Der Staatsanwalt hatte durchgesetzt, dass die Kommissare die Befragung durchführen konnten und der Arzt hatte mit grimmigem Blick zugestimmt.

„Aber bitte nur kurz und mit viel Einfühlungsvermögen, der Mann ist hochgradig traumatisiert, weil die Geschichte erst langsam in seinem Kopf ankommt.“

Achim Pschingel lag blass in seinem Kissen und starrte zur Decke. Draußen zog die Dunkelheit herauf und eine kleine Lampe warf grelles Licht auf das Kopfende des Bettes. Er riss sich von dem unsichtbaren Punkt an der Zimmerdecke los und sah in Biancas warme Augen. Sie setzte sich auf die Bettkante und Michael stellte sich ans Fenster.

„Herr Pschingel, ich bin Kommissarin Bonnét, das ist mein Kollege Kommissar Verskoff. Wie geht es Ihnen? Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Ich bin mir sicher“, platzte es aus dem Mann heraus, „da standen zwei Leute. Es ging alles so schnell, ich habe das erst gar nicht registriert, weil ich so erkältet bin. Nach dem Niesen war die Bewegung da.“

Er hatte sich aufgesetzt und schob nun seine Hände abrupt nach vorne, als wolle er jemanden von sich stoßen. Diese Bewegung wiederholte er etwa zehnmal, dann sank sein Kopf zurück auf das Kissen.

„Wie hell war es denn? Brannte eine Lampe auf dem Bahnsteig?“, fragte Michael.

„Da standen zwei Leute, ich bin mir zu hundert Prozent sicher. Und dann war da so eine Bewegung.“

Bianca legte die Hand auf den Arm des verwirrten Mannes.

Er sah sie wieder an und sagte: „Es ging so schnell. Da standen zwei Leute.“

„Herr Pschingel, ich weiß, wie furchtbar das für Sie ist. Können Sie sich erinnern, ob der Bahnsteig beleuchtet war?“

In diesem Moment schien der Lokführer wie aus einem Traum zu erwachen und er begann zu weinen.

„Ich habe sie überfahren.“

„Woher wissen Sie, dass es eine Frau ist?“

Bianca lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Achim Pschingel legte die Hände vor das Gesicht.

„Wie kann ein Mensch so etwas tun? Man stößt doch einen anderen nicht vor einen Zug! Frau Kommissarin, ich habe die beiden wirklich nur ganz kurz gesehen und ich habe nicht bemerkt, dass ich sie erwischt habe. Da standen zwei Leute, glauben Sie mir. Da war diese Bewegung.“

Er ahmte den Stoß erneut nach, dieses Mal im Liegen. Seine Handflächen zitterten, als er sie in die Luft stieß. Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln.

„Ich habe das erst viel später begriffen! Erst viel später, zu spät! Ich hätte doch gebremst, glauben Sie mir!“

Bianca entgegnete sanft: „Das wissen wir, Herr Pschingel. Der, der die Frau gestoßen hat, der ist schuldig. Sie haben alles richtig gemacht. Sie haben doch nur gearbeitet. Eine Frage habe ich noch: Können Sie sich an Einzelheiten der Personen erinnern?“

Achim schüttelte den Kopf und flüsterte noch einmal, dass es so schnell gegangen war. Danach schloss er die Augen und der Arzt betrat das Krankenzimmer. Er schickte die Besucher hinaus. Bianca bedankte sich, dass sie den armen Mann befragen durften und verließ mit Michael das Krankenhaus.

Freundlicher Tod

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