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ОглавлениеDie Zeit nach Freds Tod war für Alexander schwer zu ertragen, aber er versuchte sich mit seinen Plänen für das neue Leben abzulenken. In zwei Tagen wollte er sich mit dem Vermieter der kleinen Wohnung treffen und weitere zwei Tage später hatte er ein Vorstellungsgespräch in der Apotheke in Geisenheim, mit deren Besitzer sein Vater befreundet war. Endlich konnte sein neuer Lebensabschnitt beginnen.
Um sich zu belohnen und so lange wie möglich nicht nach Hause zu müssen, streunte Alexander wie immer durch die Stadt und am Rhein entlang. Er kaufte sich kurz vor Ladenschluss beim Bäcker etwas zu essen. Das Brötchen war zäh und trocken, sicherlich hatte es schon den ganzen Tag im offenen Brotkorb gelegen. Lustlos kaute er darauf herum. Alexander war es egal und er trank einen Schluck Wasser aus der Flasche in seinem Rucksack.
Es war schon fast zehn Uhr abends, als er vor dem Schaufenster eines Babyausstatters jemanden am Boden knien sah. Er blieb stehen und schaute genauer hin. Die Person kam ihm bekannt vor und er trat näher. Niemand war weit und breit zu sehen, bei dem ungemütlichen Wetter mit Regen und Wind war kein Mensch mehr unterwegs. Hinter den Fenstern brannte freundliches Licht, auch das Schaufenster des Ladens war hell erleuchtet.
„Birte?“, fragte er sanft und die Person zuckte zusammen.
Hastig wollte sie aufstehen und weglaufen, aber sie taumelte, fiel rückwärts und blieb auf dem Boden sitzen.
„Birte! Wir sind uns Silvester begegnet. Erinnerst du dich? Ich bin Alexander.“
„Was willst du?“, lallte die Angesprochene. „Geh weg!“
Mühsam raffte sie sich auf und es gelang ihr zu stehen. Sie hielt sich an der Straßenlaterne fest und weinte immer noch herzzerreißend. Alexander tat sie leid, denn sicher weinte sie um ihr Baby, das sie abgetrieben hatte.
Er ging einen Schritt auf sie zu und legte einen Arm um sie. Eine Alkoholfahne wehte ihm entgegen und Alexander hielt die Luft an. Egal, dachte er, ich muss ihr helfen.
„Komm, wir gehen ein Stück und du erzählst mir die ganze Geschichte.“
Am Rhein angekommen hatte es aufgehört zu regnen. Alexander wischte die Tropfen von der Bank und sie setzten sich. Birte weinte noch immer und nun brach alles aus ihr heraus.
„Er hieß Gunnar und sah super gut aus. Seine langen blonden Haare hatte er immer mit einem Band zusammengebunden. Ich hatte ihn schon ein paar Mal in der Bar gesehen. Eines Abends kam er auf mich zu und stellte ein Glas Sekt vor mich hin.“
„Das klingt aber nett.“
Birte schluchzte.
„Ja, natürlich klingt das nett. Und dann hat er mich geküsst und wir sind zusammen in meine Wohnung gefahren. Er hat sich so gut angefühlt und sein Duft war unschlagbar. Ich wollte ihn unbedingt und dachte, wir könnten eine Beziehung haben.“
„Aber?“, fragte Alexander mitfühlend und legte wieder den Arm um die schmalen Schultern der Frau.
„Am nächsten Morgen war er weg. Einfach so. Ich wollte nicht wahrhaben, dass es nur Spaß für eine Nacht war. Dieser Arsch hat sich einfach verpisst.“
Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert und mit der aufsteigenden Wut straffte sich ihr Körper. Sie sah Alexander an und stand plötzlich auf. Am Wegrand zog sie sich die Jacke aus, ließ sie auf den Boden fallen und gab den Blick auf eine aufregende Figur frei.
„Bin ich so hässlich? Kann man sich in eine wie mich nicht verlieben?“
Alexander trat zu ihr, hob die Jacke auf und legte diese um Birtes bebende Schultern. Dann zog er die junge Frau zurück auf die Bank.
„Du bist wunderschön!“
Sie schüttelte resigniert den Kopf und sackte wieder in sich zusammen. Der Tränenstrom lief unermüdlich über ihre Wangen. Alexander reichte ihr ein Taschentuch und schwieg.
„Gunnar und ich sind uns ein paar Tage später wieder begegnet und er hat so getan, als würde er mich nicht kennen. Es war so erniedrigend. Dann hat er eine Blondine abgeschleppt. Ich bin heim und habe mir die Augen aus dem Kopf geheult. Aber das war alles noch nicht das Schlimmste.“
Sie schwieg einen Moment.
Alexander flüsterte: „Du warst schwanger.“
„Ja! Ja, verdammt, ich war schwanger. Das habe ich erst gar nicht wahrhaben wollen, aber dann dachte ich, es ist die Chance, Gunnar an mich zu binden. Ich war so blind und blöd.“
„Was ist passiert?“
„Ich habe ihn in der Bar gefragt, ob wir mal kurz reden könnten und er kam mit vor die Tür. Als ich ihm gesagt habe, dass wir ein Kind erwarten, ist er ganz blass geworden, aber plötzlich begann er mich zu beschimpfen. Schlampe, Nutte, Hure … ach, es waren viele böse Worte und ich habe ihn nicht mehr wiedererkannt. Ich habe ihm gesagt, dass ich seinen Frust verstehe wegen der Überraschung, aber wir könnten uns ja ein anderes Mal treffen und unsere Zukunft als Familie planen. Da hat er mich geschlagen. Er hat mich sogar in den Bauch geboxt und gegrinst. Es tat weh, nicht nur körperlich, wenn du verstehst.“
„So ein mieses Schwein!“, rief Alexander und war ehrlich empört.
„Ja, er war ein Schwein. Drei Tage später stand er vor meiner Tür. Ich dachte, jetzt hat er begriffen, dass wir Eltern werden. Aber ich hatte mich geirrt. Er hat mir fünftausend Euro angeboten, wenn ich mein Kind abtreiben lasse.“
„Du hast es angenommen?“
„Ach, was denkst du denn? Nein. Ich wollte es nicht, aber er hat es auf den Tisch geworfen und gesagt: Lass es wegmachen, sonst wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Es lag tagelang auf dem Tisch und ich habe mich nicht getraut es anzufassen. Ich hätte es gut gebrauchen können, denn ich war schwanger, arbeitslos und hatte schon zwei Monate keine Miete bezahlt. Und dann …“
Wieder schüttelte sie ein Weinkrampf und sie konnte nicht mehr weiterreden.
„Du hast es angenommen und abgetrieben.“
Nach endlosen Minuten voller Tränen hob sie den Kopf und sah Alexander an. Ihr Blick war auf einmal vollkommen klar.
„Ja, ich habe das Geld genommen, die Miete bezahlt und mein Kind getötet. Ich bin eine Mörderin. Auf meinen Schultern lastet die Schuld und sie wird nie wieder weggehen.“
„Birte, es tut mir so leid, ich wünschte, ich könnte etwas sagen, was dich tröstet.“
Birte lehnte sich an Alexander und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass er der einzige Mensch war, dem sie vertrauen konnte.
Leise flüsterte sie: „Ich wünschte, ich wäre auch tot. Dann würde meine Seele zur Ruhe kommen.“
In diesem Moment wusste Alexander, dass für ihn hier die Chance war, seinen eigenen Frieden zu finden.
„Lass uns ein Stück gehen, Birte. Wir können uns ruhig ab und zu mal treffen und reden. Ich weiß, wie du dich fühlst, denn ich habe vor kurzem meine kleine Schwester verloren. Sie lag im Koma und starb an dem Tag, als meine Mutter mir die Verantwortung übertragen hatte. Ich fühle mich schuldig an ihrem Tod, obwohl ich gar nichts dafür kann.“
„Ja, Alexander, du verstehst mich. Danke, dass du mir zugehört hast. Ich fühle mich schuldig, wenn ich morgens die Augen öffne und ich fühle mich schuldig, wenn ich sie abends zumache. Erst wenn ich tot bin, werde ich frei sein. Das mit deiner Schwester tut mir leid.“
Sie schlenderten nun schweigend am Rhein entlang Richtung Altstadt. Birte hatte Alexanders Hand genommen und ihre Tränen waren versiegt. Irgendwann waren sie in der Nähe des Bahnhofs angekommen und Birte erklärte, dass sie hier in der Nachbarschaft wohnte. In dem Moment rauschte lautstark ein Güterzug vorbei und Alexander spürte die Erschütterung im ganzen Körper.
„Hier wohnst du? Wie hältst du das aus?“
„Man gewöhnt sich an alles, aber es ist schon sehr laut. Nachts fahren nicht so viele Züge, doch am Tage sitze ich manchmal hier und denke mir Reiseziele aus. Ich liebe Zugfahren. Du auch?“
„Nein, aber ich sitze gerne auf dem Bahnsteig und beobachte die Leute“, log Alexander, der einen Plan hatte.
„Komm, lass uns hinsetzen und die Waggons zählen“, rief Birte mit neuem Elan.
„Mitten in der Nacht?“
„Ja, komm, egal. Wir können auch noch ein bisschen reden. Einverstanden?“
Alexander nickte und war froh, dass seine Begleitung sich so bereitwillig in seine Hände begab. Sie fanden eine trockene Bank unter einem Vordach. Die Beleuchtung war kaputt und so saßen sie schweigend nebeneinander in völliger Dunkelheit. Birte lehnte an Alexander und er roch ihre Alkoholfahne, weil hier kein Wind war, der sie davontrug. Es muss schnell gehen, dachte er, dann tut es auch nicht weh. Als er ganz in der Ferne einen Zug kommen hörte, trat er nach vorne an den Bahnsteig und sah zu Birte.
„Komm hierher!“, forderte er sie auf. „Wir lassen uns den Fahrtwind um die Nase fliegen. Ich liebe es, wenn man keine Luft bekommt.“
Birte war zwar ein wenig ängstlich, aber als Alexander versprach, sie festzuhalten, vertraute sie ihm total. Nun schlang sie die Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Er musste fast würgen, aber er küsste sie zurück. Es würde ja das letzte Mal sein, dass sie Zärtlichkeiten spüren durfte.
„Tu es“, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf und er schaute zur Seite.
Alexander sah dort jemanden stehen, der ihm bekannt vorkam, aber er konnte die Erscheinung nicht einordnen.
Der Güterzug, der endlos lang war, raste in der schwarzen Nacht heran. Niemand konnte die beiden Figuren sehen, die viel zu nah an den Gleisen standen. Dann ging alles ganz schnell. Ehe Birte wusste, wie ihr geschah, hatte Alexander sie vor den einfahrenden Zug gestoßen. Er hörte bei dem Lärm, den der Zug machte, nicht einmal den Aufprall, aber er konnte sich den dumpfen Schlag gut vorstellen.
Mit einem zufriedenen Lächeln verließ er den Bahnhof, nachdem wieder absolute Stille herrschte. Alexander fühlte sich gut, er wusste, dass er Birte von ihrer Schuld erlöst hatte und war sich sicher, dass auch er nun Frieden finden würde.
„Gut gemacht“, flüsterte die Stimme.
Jetzt erkannte Alexander ihn: Es war Stefan, den er in der Schule sehr verehrt hatte. Der Junge, der ihm ähnlich sah, war sein großes Vorbild gewesen. Wann immer jemand in Not war, hatte sich Stefan eingemischt und die Welt wieder gerade gerückt.
„Ja, ich weiß“, sagte er in die schwarze Nacht, „danke, dass du mit mir gehst.“