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Er hatte das Messer in den Rhein geworfen und sich auf den Heimweg gemacht.

„Ich muss mich zusammenreißen“, sagte er zu seinem Spiegelbild im Flur.

Die junge Frau war völlig überrascht gewesen, als sie ihren Blick vom Handy hob und in sein verzerrtes Gesicht schaute. Dann weiteten sich ihre Augen vor Angst und sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber dazu kam sie nicht mehr, denn wie in Raserei stach er auf sie ein. Nachdem er seine blutigen Hände und das Messer wahrgenommen hatte, war er wieder klar im Kopf geworden. Gegen Morgen war er an den Rhein gelaufen, um das Messer verschwinden zu lassen. Er sah dazu zwei Gründe: Zum einen wollte er die Tatwaffe aus dem Haus haben, zum anderen hoffte er, nicht noch einmal außer Kontrolle zu geraten.

Es tat immer noch weh und wenn er an sie dachte, dann schaltete sich sein Hirn aus, sodass er Dinge tat, von denen er nie gedacht hatte, dass er dazu fähig war. Irgendetwas machte „Klick“ und er musste handeln. Er hatte es sich nicht so leicht vorgestellt, einen Menschen zu töten, aber das Gefühl der Genugtuung, das ihn hinterher erfüllt hatte, ließ ihn glauben, das Richtige zu tun. Am Tag danach schien es ihm, als hätte ein anderer die Frau getötet.

Er hatte in der neugierigen Menschenmenge gestanden und ehrliches Erstaunen gefühlt, dass hier ein harmloser Jogger getötet worden war.

Die Leute um ihn herum hatten getuschelt: „Wer weiß, was das für einer war, wenn man den so hingerichtet hat.“

„Tja, er hat das bestimmt verdient“, sagte eine junge Frau mit Kinderwagen. „Ein Triebtäter oder ein Pädophiler. Man hört ja oft sowas.“

„Und wenn er nur ein Jogger war, dessen Nase einem nicht gefallen hat?“, fragte ein Mann mit Bart.

„Ach was!“, rief ein alter Mann mit Hut auf dem Kopf und Zeitung in der Hand. „Man richtet keinen hin, der nichts getan hat. Was denken Sie denn?“

Er war zusammenguckt, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass man ihn ansprach.

„Ich … ich weiß nicht.“

Der alte Mann hatte ihn naserümpfend angeschaut und sich wieder dem geschäftigen Treiben am Tatort zugewendet. Er war noch eine Weile geblieben und dann nach Hause gegangen. Dort hatte er vor ihrem Foto gesessen und geweint.

Die Genugtuung war schnell wieder verschwunden und eine große Leere blieb in seinem Herzen zurück. Er erinnerte sich an ihr Lächeln, die schmale Zahnlücke, die Grübchen und wenn sie zusammen lachten, dann waren sie glücklich.

„Du fehlst mir!“, sagte er jeden Tag zu ihrem Foto.

Nach ein paar Tagen in Traurigkeit und Wut war er erneut durch die Stadt gelaufen, getrieben, unruhig und mit der Hand in der Jackentasche, wo er den schweren Griff des Messers gefühlt hatte. Das Messer, das ihm Halt gab und das ihm Hoffnung machte, seinen Schmerz loszuwerden. Als die Kleine so dalag, hatte ihn ganz kurz der Gedanke durchzuckt, dass es unrecht war, aber dann dachte er daran, wie sie arglos auf ihn zugekommen war, vollkommen abwesend und ins Handy vertieft. Das grünliche Licht das Displays war auf ihr Gesicht gefallen. Sie hatte ihn erst wahrgenommen, als er direkt vor ihr stand und war, das Telefon immer noch fest umklammernd, gestorben.

Jetzt saß er zuhause und das gute Gefühl war abermals verschwunden. Er hatte das Messer entsorgt, um nicht mehr zu töten, doch die Unruhe war übermächtig und trieb ihn am Mittag aus dem Haus. Er war noch krankgeschrieben, um sich auszuruhen und den Fragen aus dem Weg zu gehen, die wohl oder übel kommen würden, aber er wollte kein Mitleid, keine Fragen, keine Blicke.

Er lief am Rhein entlang, setzte sich auf eine Bank und starrte auf das Wasser. Niemand beachtete ihn. Eine Stunde später taumelte er weiter, den Kopf voller Erinnerungen und ohne Orientierung, bis er sich plötzlich am alten Güterbahnhof wiederfand und stehenblieb, weil er laute Stimmen hörte. Ein schwarzer Transporter stand an der von Unkraut und Müll bedeckten Rampe. Die Türen waren weit offen, der Schlüssel steckte. Die Stimmen gehörten zu zwei düster aussehenden Männern mittleren Alters, die sich in drohender Haltung in der Halle gegenüberstanden.

Ein Schauer überlief ihn, denn er erinnerte sich daran, dass hier mal einer erschlagen worden war. Später hatte er in der Zeitung gelesen, dass der Kerl seinen eigenen Sohn totgeprügelt hatte. Der Typ hatte seinen Tod bestimmt mehr als verdient.

Er wollte nicht, dass die beiden Männer ihn sahen, aber trotzdem ließ ihn die Neugier näher heranschleichen. Verdeckt von dem Auto belauschte er das Streitgespräch. Es ging um Geld und Ware, mehr verstand er nicht, denn sein Blick blieb an der Pistole hängen, die im Fußraum des Wagens auf der Beifahrerseite lag. In dem Karton daneben schienen Patronen zu sein. Sein Mund war trocken, als er sich ins Fahrzeug hineinbeugte, nach der Waffe griff und sie rasch in seine Jackentasche steckte. Nach einem weiteren Blick durch das Auto, das mit der Fahrerseite zum Ausgang der Halle stand, packte er den Karton und schob ihn unter die Jacke. Dann duckte er sich und verließ das Gelände in Richtung Altstadt.

Zuhause angekommen legte er Waffe und Patronen auf den Küchentisch. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als sein Blick auf das Foto fiel, das auf dem Fensterbrett stand.

„Ich kann nicht aufhören, die Welt ist schlecht und ich werde sie verbessern. Das schwöre ich dir!“

Er lud die Pistole und zielte auf den Kühlschrank.

„Pffff“, machte er leise.

Dann versteckte er alles in der Speisekammer hinter den Dosen mit Erbsen und Möhren. Er setzte sich an den Tisch und starrte auf das Foto. So saß er immer noch, als sein Kopf müde auf seine Arme sackte. Er schlief, bis der Rückenschmerz ihn weckte.

Hatte er geträumt oder lag wirklich eine Pistole im Regal hinter den Dosen versteckt?

Er war sich nicht sicher und betrat zitternd die Speisekammer, um sich davon zu überzeugen. Die Waffe in der Hand gingen ihm tausend Fragen durch den Kopf: Was waren das für Männer? Warum hatten sie eine Waffe im Auto? Hatten sie deren Verschwinden schon bemerkt? Hatte ihn jemand dort gesehen?

Jetzt musste er schlucken. Er hatte sich umgeschaut, als er gegangen war und niemanden bemerkt. Sie würden ihn sonst sicher suchen und für den Diebstahl bestrafen, vielleicht würden sie ihn auch anzeigen.

„Nein“, murmelte er, „das sind Verbrecher, die auf keinen Fall zur Polizei gehen.“

Er hatte davon gehört, dass sich im alten Güterbahnhof nur zwielichtige Typen herumdrückten, auch Penner schliefen manchmal dort. Es hieß, der alte Güterbahnhof sei ein Umschlagplatz für Drogen.

Niemand hatte ihn gesehen, sonst wären sie schon längst gekommen. Zufrieden schnaufte er und ging ins Bett.

Anhaltender Schmerz

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