Читать книгу Unfassbar traurig - Ute Dombrowski - Страница 10

8

Оглавление

Am späten Nachmittag hatte Riva noch einmal bei Bianca ins Büro geschaut, um sich zu verabschieden.

„Feierabend, meine Liebe. Sag mal, warst du eigentlich schon am Rhein?“

„Nein, ich hatte noch keine Zeit.“

„Dass ich nicht lache. Du kneifst! Bianca, du hast es mir versprochen und seine Versprechen muss man halten.“

Bianca seufzte und zuckte mit den Schultern.

„Ja, ich weiß. Aber ich kämpfe jeden Tag mit mir. Und dann schaffe ich es doch nicht.“

„Heute Abend! Ich weiß, dass du es kannst. Du musst dir nur einen Ruck geben. Einfach nur mal langlaufen und dich für einen Moment auf eine Bank setzen.“

„Ich versuche es“, sagte Bianca leise.

Nun kam Riva näher, denn sie hatte gesehen, dass ihre Kollegin Tränen in den Augen hatte. Sie zog sie von ihrem Sessel hoch und hielt sie an den Schultern fest.

„Süße, schau mich an!“

Bianca hob den Kopf.

„Bitte mach Feierabend und geh eine halbe Stunde am Rhein spazieren. Und genau da, wo du jeden Abend mit Michael gelaufen bist. Heute. Jetzt sofort.“

Bianca nickte und schluckte.

„Gut. Ich werde es tun. Heute werde ich es tun.“

Riva küsste sie auf die Wange und verließ den Raum. Bianca blieb zitternd vor Aufregung zurück. Sie wusste, dass ihre Kollegin recht hatte und heute würde sie sich dem Ganzen stellen. Sie konnte den Spaziergang ja immer noch abbrechen.

Als das Telefon klingelte, sah sie es an, zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte jetzt nicht drangehen, denn es war bestimmt etwas, das sie von ihrem Vorhaben abbringen würde. Das musste jetzt warten.

Ohne noch an einem Supermarkt zu halten, fuhr Bianca nach Eltville, stellte ihr Auto vor dem Haus ab und wollte schon nach oben gehen. Nein, dachte sie dann jedoch, ich muss sofort loslaufen, wenn ich erst in meiner Wohnung bin, schaffe ich es nicht mehr. Sie legte die Handtasche in den Kofferraum, schloss ab und steckte den Autoschlüssel in die Hosentasche. Schritt für Schritt kam sie dem Rhein näher und ihr Mund wurde immer trockener. Das Atmen wurde immer schwerer. Die feuchten Hände wischte sie sich an der Hose ab. Sie bekam kaum noch Luft. An der letzten Hausecke, die den Blick auf den Fluss verdeckte, blieb sie stehen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen und ihre Knie waren weich. Sie hielt sich an der rauen Mauer, die die Wärme des Sommers aus­strahlte, fest und versuchte tief und gleichmäßig zu atmen. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Sie schloss die Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen.

Plötzlich lag der Rhein ruhig und unschuldig vor ihr. Er schien sich nicht verändert zu haben, das Wasser floss noch in dieselbe Richtung, der Weg war immer noch bevölkert von Touristen, die Bänke besetzt wie vor drei Jahren.

„Was habe ich denn erwartet?“, flüsterte sie heiser.

Endlich fasste sie Mut und lief das letzte Stück hinunter bis zur Promenade. Dort reihte sie sich in den Menschenstrom ein, der den Abend bei angenehmen Temperaturen genoss. Sie konnte den Blick nicht vom dahinziehenden Wasser lassen, das behäbig und sanft seinen Weg nahm. Auf der Bank unter den Platanen saß nur eine einzelne Frau. Dorthin setzte sich auch Bianca und sah nach links und rechts. Niemand starrte sie an. Niemand würde kommen und mit ihr reden.

Hier hatte sie oft mit Michael gesessen. Die großen Platanen spendeten Schatten. Hier im Wasser hatte der Obdachlose gelegen, den Alexander von seinem Leid erlöst hatte. Beim Gedanken an Alexander kam das Zittern zurück und ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. Alexander war wahnsinnig und in seinem kranken Kopf davon überzeugt, es wäre für jeden Menschen viel besser tot zu sein, als irgendwelche Probleme zu haben. Er hatte getötet und viel Leid über die Hinterbliebenen gebracht.

„Warum können die Leute nicht einfach mal vernünftig über ihre Sorgen reden?“

Sie meinte, sie hätte dieses Satz nur gedacht, aber anscheinend hatte sie ihn laut ausgesprochen, denn jetzt wandte die Frau, die am anderen Ende der Bank saß, ihr mit einem Lächeln das Gesicht zu. Sie hatte lange blonde Haare und schien in Biancas Alter zu sein. Ihre blauen Augen blickten die Kommissarin wach und freundlich an.

„Die Menschen haben verlernt, über ihre Sorgen und Probleme zu reden“, sagte sie mit einer samtweichen Stimme, durch deren Klang sich Bianca sofort angezogen fühlte.

„Entschuldigung, ich war der Meinung, dass ich das nur gedacht habe.“

„Das geht mir auch manchmal so. Ich führe oft Selbstgespräche. Das ist normal, wenn man viel allein ist.“

„Sind Sie viel allein?“, fragte Bianca. „Haben Sie schon einmal den wichtigsten Menschen in Ihrem Leben verloren?“

„Ja“, sagte die Frau leise, „ich habe das verloren, was mir am meisten bedeutet hat. Es ist schon sehr lange her. Eine Ewigkeit.“

„Hört der Schmerz irgendwann auf?“

Die Frau schien zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Niemals. Er hört niemals auf. Man muss lernen, ihn zu ertragen, sonst geht man kaputt.“

„Wie haben Sie das geschafft?“

„Mit viel Geduld habe ich immer wieder versucht, mein Leben neu zu gestalten. Ich bin schon oft an meine Grenzen gestoßen und hätte so manches anders gemacht, aber ich denke, ich habe einen guten Weg gefunden. Wen vermissen Sie denn?“

„Meinen Mann. Und unseren besten Freund. Sie sind vor drei Jahren ums Leben gekommen. Ich war schon ein Jahr lang nicht mehr auf dem Friedhof, weil ich einfach nicht dorthin gehen konnte. Denken Sie, er wird mir verzeihen?“

„Ich denke schon. Gehen Sie zu ihm und erklären Sie ihm, warum Sie nicht kommen konnten. Seien Sie froh, dass Sie wenigstens ein Grab zum Trauern haben. Ich muss jetzt gehen. Danke für das Gespräch. Es wird nie aufhören, aber es wird leiser. Glauben Sie mir.“

Sie nickte und ging davon. Bianca saß noch eine Weile dort, dann lenkte sie ihre Schritte nach Hause. Es hatte sie nicht umgehauen, am Rhein zu laufen. Sie musste nicht weinen. Im Gegenteil, es hatte sich nach den Worten der fremden Frau gut angefühlt, dort unten zu sitzen und zu reden. Michael wäre stolz auf sie.

Das Bild auf dem Nachtschrank lächelte sie zufrieden an. Bianca nahm es in die Hand und küsste es. Sie atmete ruhig.

„Gute Nacht, Schatz, morgen gehe ich auf den Friedhof, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich so lange nicht da war. Ich werde dir Blumen kaufen und mal schauen, wie dein Ruheplatz aussieht. Wünsch mir eine traumlose Nacht!“

Sie stellte das Bild zurück und rollte sich auf die Seite. Ich muss auch Benedikts Grab pflegen, dachte sie, er ist ja ganz allein. Man hatte die beiden Männer zwar auf dem gleichen Friedhof, aber nicht nebeneinander beerdigt. Bianca hatte sich darüber geärgert, denn sie dachte immer, dass den beiden die Nähe gutgetan hätte.

„Danke, du unbekannte, friedvolle Frau, dass ich mit dir reden durfte.“

Sie würde sich freuen, ihr mal wieder zu begegnen.

Unfassbar traurig

Подняться наверх