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Bianca war an der Ostsee angekommen und hatte ein winziges Zimmer in einer kleinen Pension gefunden. Ein junges Pärchen hatte abgesagt. Die Kommissarin stellte die Reisetasche auf ihr Bett und sah aus dem Fenster. Vor ihr lagen der Strand und die von Wellenbergen durchzogene Ostsee. Rasch zog sie sich eine Jacke an und machte sich auf den Weg ans Wasser.

„Das muss Schicksal sein“, flüsterte sie. „Das Wasser direkt vor der Nase, der Wind, die Sonne … Michael, ich wünschte, du wärst hier.“

Langsam ging sie am Rande der Wellen, die auf den Strand rollten, entlang. Sie bückte sich nach dem einen oder anderen Stein und steckte ihn in die Jackentasche. Sie würde sich im Archiv eine Schale mit Erinnerungsstücken vom Urlaub hinstellen, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Sie wollte hier leben, an der Ostsee, wo die Trauer und der Schmerz weit weg waren.

Wenn sie geahnt hätte, dass in der Heimat ein Mord geschehen war, der die Polizei noch für eine lange Zeit in Atem halten würde, wäre sie vielleicht sofort zurückgefahren. Aber sie wollte nicht mehr auf Menschen treffen, die böse sind, die andere Menschen verletzen oder gar töten, nein, sie suchte nach dem inneren Frieden und wollte das Leid vergessen.

Am Abend ging sie in ein Restaurant, in dem frischer Fisch angepriesen wurde. Es schmeckte herrlich, aber die totale Entspannung wollte sich nicht einstellen. Nach dem Essen schlenderte Bianca durch den Ort, der auch um diese Uhrzeit von Touristen überfüllt war. Hier, inmitten der fröhlichen Urlauber, schlich sich plötzlich ein Gedanke in ihren Kopf: Ich gehöre hier nicht her!

Unzufrieden schloss sie die Tür des kleinen Zimmers hinter sich und setzte sich auf den Sessel, der neben einem Bett, einem quadratischen, Tisch, einem Nachtschrank und einem Sideboard das Zimmer völlig ausfüllte. Die Enge kam ihr jetzt bedrückend vor. Bianca begann zu bezweifeln, ob der Urlaub wirklich eine so gute Idee gewesen war.

„Egal“, sagte sie zu sich selbst, „ich musste nur mal raus. Und wenn es mir wenigstens hilft, dass ich jetzt weiß, dass ich aus meiner Heimat nicht weg kann, dann hat es doch auch etwas Gutes.“

Sie führte diese Selbstgespräche oft, denn außer Riva im Archiv gab es kaum jemanden, mit dem sie sprechen konnte und wollte.

Riva Minettoz war eine aufregend schöne Frau, die sie ein wenig an Fabienne erinnerte, trotz ihrer vierunddreißig Jahren sah sie jedoch aus wie ein junges Mädchen. Sie besaß Feuer und Charisma und hätte jeden Tag einen neuen Liebhaber haben können. Aber es gab seit der Schulzeit nur einen Mann, den sie abgöttisch liebte. Er war ihr Lehrer gewesen, als sie am Gymnasium war. Schon vom ersten Tag an gefiel ihr der kluge, gutaussehende Mann und als sie ihr Abitur in der Tasche hatte, gestand sie ihm ihre Liebe.

Ein paar verrückte und aufregende Monate später waren sie ein Paar. Er hatte sich von seiner Frau getrennt, denn auch er spürte diese eigentümliche Anziehungskraft. Riva hatte Verehrer wie ein Fisch Schuppen, aber für sie gab es seitdem nur diesen einen Mann.

„Du musst mal wieder unter Leute, Bianca“, sagte sie beinahe jeden Tag.

Ebenso oft antwortete Bianca: „Nein, ich bin zufrieden, wie es ist. Ich mag keine Menschen in meiner Nähe.“

Kurz entschlossen wählte sie Rivas Nummer. Die Kollegin meldete sich verschlafen.

„Sag mal, weißt du nicht, wie spät es ist? Was ist passiert?“

„Ich bin an der Ostsee und mache Urlaub.“

„Davon habe ich schon gehört und ich freue mich! Endlich kommst du mal raus aus deinem Schneckenhaus.“

„Es ist furchtbar hier.“

„Oh.“

Riva setzte sich im Bett auf und machte sich auf ein längeres Telefonat gefasst.

„Erzähl!“, forderte sie Bianca auf.

„Ich dachte, es ist eine gute Idee und ich wollte sehen, ob ich vielleicht hier auch leben kann. Aber …“

Bianca zögerte.

„Aber?“

„Ich fühle mich hier wie ein Fremdkörper. All diese gut gelaunten Touristen und die lauten Kinder, das geht mir jetzt schon auf die Nerven.“

„Dann schlaf dich aus und komm heim.“

Heim, dachte Bianca, ja, es war richtig, im Rheingau war sie zuhause, dort hatte sie ihre Wurzeln und wer sagt denn, dass die Erinnerungen nicht irgendwann gut würden?

„Danke, Riva. Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Ich komme morgen wieder zurück und werde ein neues Leben beginnen.“

Riva lächelte vor sich hin und streckte sich wieder aus, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihre große Liebe Peter hatte von dem Telefonat nichts mitbekommen, denn in ihrer Nähe konnte er sich so gut entspannen, dass er schlief wie ein Stein. Sie rutschte zu ihm hinüber und kuschelte sich an seinen warmen Körper. Mit einem entspannten Seufzer kam der Schlaf zurück.

Bianca fühlte sich nach dem Gespräch irgendwie erleichtert. Es war, als bräuchte sie gar keine Entschuldigung dafür, dass der Urlaub eine Schnapsidee war. Sie legte sich ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Am nächsten Morgen gab sie das Zimmer auf, bezahlte und machte sich auf den Weg in den Ort zu einem ausgiebigen Frühstück. Noch ein letztes Mal lief sie an den Strand. Heute war es sonnig und Unmengen von Leuten hatten sich hier für den Tag eingerichtet. Sie saßen in Strandkörben, lagen auf Decken oder räkelten sich in mitgebrachten Liegestühlen und ließen sich in der Sonne braten. Das Gebrodel der Stimmen, die sonnenölgetränkten Körper, der Müll, der zwischen den Menschen lag, all das trug dazu bei, dass sie wusste, wo sie hingehörte.

Sie wendete dem Getümmel den Rücken zu und machte sich auf den Heimweg.

„Michael, ich komme nach Hause. Verzeih mir, dass ich dachte, ich könnte ohne dich leben.“

Am Abend rollte sie in die Einfahrt des Hauses und blieb noch einen Moment im Auto sitzen, bevor sie in ihre Wohnung ging. Sie legte den Kopf auf die Hände, die sie fest um das Lenkrad geschlossen hatte und weinte.

Es war zwar eine wichtige Erkenntnis gewesen, dass sie nicht von hier weggehen konnte, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie den Schmerz in den Griff bekommen sollte.

„Wenn wir doch ein Kind gehabt hätten“, murmelte sie und stieg aus.

Am kommenden Tag ging sie wieder zur Arbeit. Riva kam ihr im Keller entgegen und nahm sie wortlos in den Arm.

„He, du bist ja noch weiß wie ein Käse. Ich denke, du warst an der Ostsee?“, scherzte sie später.

Bianca kannte ihren Humor und lächelte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es ist wieder zuhause zu sein. Können wir heute Abend essen gehen? Ich muss mal reden.“

„Natürlich. Ich rufe Peter an und dann machen wir einen drauf. Wenn du magst, darfst du dich betrinken. Ich kann dich ja heimbringen.“

„Mal sehen. Ich freue mich. Was gibt es Neues?“

„Wenig, die alten Fälle sind immer noch genauso ungelöst wie vor deinem wahnsinnig langen Urlaub.“

„Dann ist es ja gut. Sonst hätte ich jetzt nichts zu tun. Danke für alles.“

Die Frauen drückten sich nochmal und rasch verschwand Bianca in ihrem kargen Büro. Sie fuhr den Computer hoch und wieder lächelte ihr das kleine blonde Mädchen entgegen.

Nachdem sie auch heute wieder stundenlang die Fakten des Falles durchging und doch zu keinem Ergebnis kam, machte sie Feierabend und suchte nach Riva.

Die Kollegin stand in der Toilette vor dem Spiegel und zog sich die vollen Lippen nach, dann schüttelte sie die schwarzen Locken und lächelte ihrem Spiegelbild zu.

„Gehst du so mit mir?“, fragte sie Bianca, die sich neben der großen, schlanken Schönheit wie eine graue Maus vorkam.

„Ich gehe auch im Jogginganzug mit dir. Wo wollen wir denn essen?“

„Lass uns in deine Richtung fahren, ich habe Lust auf ein Glas Wein und eine riesige Portion Spundekäs.“

Bianca spürte einen kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief. Seit drei Jahren war sie nicht mehr im Rheingau eingekehrt und sie überlegte in diesem Augenblick schon, wie sie Riva davon überzeugen konnte, in Wiesbaden zu bleiben.

Die las die Gedanken ihrer Kollegin und sagte streng: „Wir fahren in den Rheingau oder ich gehe heim.“

Bianca knabberte an ihrer Unterlippe, aber sie nickte. Es fiel ihr schwer, die Vergangenheit auszublenden. Schweigend gingen sie zu den Autos und Riva fuhr voraus. Bianca hängte sich dran und bald sah sie, dass Riva zum Kloster Eberbach unterwegs war.

Die beiden Frauen stiegen aus und liefen durch den schönen Garten. Blumen blühten, der Rasen war trotz der Hitze grün und die riesigen Bäume warfen lange Schatten. Das alte Kloster lag still in der Abendsonne. Es waren nur noch wenige Menschen unterwegs und Bianca atmete tief durch. Auf der anderen Seite angekommen stiegen sie die Stufen zur Klosterschänke hoch und fanden einen Platz an einem der Tische auf der Terrasse.

Die Bedienung trug eine Tracht und fragte höflich nach ihren Wünschen. Bianca schloss sich Rivas Bestellung an und so warteten sie auf die doppelte Portion Spundekäs mit dem frischen Brot, das hier im Kloster gebacken wurde.

„Warst du mal zum Konzert hier?“, fragte Riva.

„Nein, wir wollten das immer mal machen, aber irgendwie hatten wir nie Zeit. Du?“

„Ja, ich war zum Mozart-Requiem und es war der Hammer. Ich saß zwar weit hinten, aber direkt am Gang, da war die Akustik der Wahnsinn. Irgendwie hatten diese Musiker etwas Mystisches. Die haben ja nicht nur das Requiem gesungen, aber das war der Höhepunkt. Ich fand es nur bescheuert, dass manche Leute nicht mal abwarten konnten, bis wir zu Ende geklatscht haben und einfach schon rausgegangen sind.“

„Was? Das darf nicht wahr sein. Sie sind einfach aufgestanden und rausgegangen?“

„Ja, aber die Strafe haben sie direkt bekommen. Ich habe geklatscht wie verrückt und stand an meinem Platz und plötzlich wurde es ganz ruhig und sie haben eine Zugabe gebracht. Also hat sich mein gutes Benehmen ausgezahlt. Ich denke aber nicht, dass wir den Abend lang über mich reden wollen, oder?“

Das Essen kam, dazu schenkte ihnen die Bedienung Wein aus dem Kloster ein und ging mit einem Lächeln fort. Bianca nippte am Wein und nickte.

„Jede Ablenkung ist willkommen. Glaub mir, ich dachte wirklich, ich packe meine Sachen und ziehe an die Ostsee. Ich war mir so sicher, dass es eine richtige Entscheidung war und dann habe ich es nicht mal für einen Kurzurlaub dort ausgehalten.“

„Ich bin darüber nicht sehr unzufrieden. Mensch, du kannst doch nicht einfach abhauen. Und ich denke, dem Kummer kannst du selbst an der Ostsee nicht entkommen.“

„Das ist mir dann auch klar geworden. Ich möchte ja gerne wieder richtig leben, aber es ist, als wäre es gestern gewesen. Weißt du, dass ich seit drei Jahren nicht mehr am Rheinufer in Eltville war?“

Riva sah Bianca erschrocken und ungläubig an.

„Wie kann das denn sein? Du wohnst doch nur ein paar Schritte entfernt und du lebst da. Einkaufen musst du doch auch. Wo machst du das denn?“

„Ich kaufe in Wiesbaden ein, fahre heim in meine Wohnung und schließe hinter mir die Tür. Am nächsten Morgen fahre ich wieder in die Stadt.“

„Und am Wochenende?“

„Schließe ich mich ein und lese.“

„Du hast recht!“, rief Riva. „So kann das nicht weitergehen. Aber eines sage ich dir noch: Du musst es schaffen alleine rauszugehen. Es nützt nichts, wenn du immer mit mir kommst und ich dich zwingen muss.“

„Ich weiß das, aber es ist verdammt schwer. Es hat mir unterwegs hierher schon fast die Kehle zugeschnürt.“

„Ach Bianca, es tut mir so leid, dass es dir schlecht geht. Könnte ich doch nur etwas für dich tun!“

„Es ist schon sehr gut, dass du mir zuhörst, ohne mich therapieren zu wollen. Und Mitleid will ich auch nicht. Danke, dass du für mich da bist.“

„Das ist in Ordnung. Ich mag dich wirklich gerne. Mach dir doch einen Plan. Zum Beispiel: Montag – zum Anleger gehen. Dienstag – zum Bäcker in der Einkaufsstraße. Und so weiter. Weißt du, jeden Tag ein paar Schritte weiter.“

„Das hört sich ganz sinnvoll an. Vielleicht mache ich das mal. Danke für deinen Tipp.“

„Aber nun musst du mir mal etwas erklären“, sagte Riva und grinste, „wie kann man sich denn am Meer nicht wohlfühlen?“

„Es war einfach nur beklemmend. Ich bin nach meiner Ankunft an den Strand gegangen, da war es kühl und es waren nur wenige Menschen unterwegs. Aber schon im Restaurant war mir alles zu viel. Vor allem gab es nur Touristen, niemand hat sich für mich interessiert.“

„Aber das wolltest du doch auch gar nicht.“

„Ja, aber ich kam mir so unnütz und fehl am Platz vor. Vor allem, weil alle Menschen so verdammt glücklich waren. Wieso auch nicht, die hatten ja Urlaub. Ich eigentlich auch, aber ich wollte meine Flucht planen. Nun bin ich gescheitert. Ich kann hier nicht weg. Es geht nicht. Ich kann Michael nicht zurücklassen.“

„Und das ist gut so. Wann warst du denn das letzte Mal auf dem Friedhof?“

Nun senkte Bianca den Kopf. Sie schämte sich, denn sie war schon sehr lange nicht mehr zu Michael ans Grab gegangen. In der Nähe von seinem war das von Benedikt, dessen Familienangehörige im Testament gelesen hatten, dass er in Eltville begraben werden wollte, falls ihm mal etwas zustoßen würde. Es tat so weh und zerriss Bianca das Herz.

„Am letzten Jahrestag.“

„Das ist ja nicht lange her.“

„Im letzten Jahr. Dieses Jahr konnte ich nicht. Ich schäme mich so.“

Eine Träne tropfte auf Biancas Shirt und hinterließ einen dunklen Fleck.

„Oh nein, du musst dich nicht schämen! Ich verstehe das sehr gut. Friedhöfe sind furchtbar. Aber vielleicht musst du hingehen und dich dem stellen.“

Bianca wusste, dass Riva recht hatte. Sie musste lernen, mit dem Schmerz umzugehen.

„Weißt du, wenn wir ein Kind gehabt hätten, dann wäre es sicher leichter. Ich hätte etwas gehabt, was zu ihm gehört. Jetzt ist auch dafür alles zu spät.“

„Du kannst aber immer noch Kinder haben, allerdings bräuchtest du dazu einen Mann. Zumindest wäre das die preiswerte Variante. Und wenn du den Kerl dann noch lieben würdest, wäre alles perfekt. Du kannst dir natürlich auch einfach nur ein Kind machen lassen.“

„Bah, nein, hör auf. Ich werde mich nie wieder verlieben und ein Kind lasse ich mir auch nicht machen. Was soll es denn mit so einer Mutter, wie ich eine bin, anfangen?“

„Ich denke, du wärst eine tolle Mutter. Mit deinem besonderen Gespür würdest du immer wissen, was gut für dein Kind ist.“

Bianca musste lachen. Riva war manchmal so naiv, dass es schon lustig war, aber ihr war nicht nach Lachen zumute.

„Ich werde morgen an den Rhein gehen. Das ist schon mal ein Anfang.“

Unfassbar traurig

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