Читать книгу Unfassbar traurig - Ute Dombrowski - Страница 8

6

Оглавление

Bianca überlegte, ob sie schon Feierabend machen sollte, aber was wollte sie zuhause? Kurz entschlossen zog sie noch einmal die Akte von Karoline zu sich heran. Sie legte ihr Bild neben das von der unbekannten Toten. Die Ähnlichkeit war stark, aber auch wieder nicht.

Alle hatten vor zwei Jahren fieberhaft nach Angehörigen der jungen Frau gesucht, aber ohne Erfolg. Niemand schien sie vermisst zu haben. Karoline lebte jetzt in einem Pflegeheim und saß den lieben langen Tag schweigend in ihrem Zimmer. Man führte sie immer wieder in den Garten, aber kurze Zeit später lief sie zurück ins Haus. Die Psychologin vermutete, dass sie für eine lange Zeit, wenn nicht ihr ganzes vorheriges Leben, irgendwo eingesperrt gewesen war, jedoch war rätselhaft, warum sie keinen Drang verspürte, aus dem Haus zu gehen. Es war, als würde ihr die kleine Welt ihres Zimmers reichen.

Das Telefon klingelte.

„Ja, schicken Sie ihn herunter. Nein, Riva ist schon weg. Sie hat einen Zahnarzttermin.“

Ferdinand Waldhöft war oben und hatte gefragt, ob er noch einmal mit Bianca reden könne. Der Mann war ihr sehr angenehm, denn er schien nicht so aufdringlich und besserwisserisch zu sein wie andere. Außerdem kannte er Nicola. Das fand Bianca eigenartig.

„Hallo, Frau Verskoff“, sagte er, als er den Kopf durch die Tür steckte.

„Kommen Sie herein, Herr Waldhöft“, forderte Bianca ihn auf und bot ihm einen Kaffee an.

„Gerne. Wir haben den Täter, aber der liebe Staatsanwalt will, dass wir den Fall zu den Akten legen.“

„Ohne zu wissen, wer das Opfer ist? Der spinnt wohl?“, platzte es aus Bianca heraus.

Ferdinand lachte und winkte ab.

„Sie kennen ihn doch. Er hat den Fall gelöst, den Täter verhört und weil der ein Geständnis abgelegt hat, ist für ihn alles andere erledigt. Er pfeift auf das Opfer.“

„Ich kenne ihn viel zu gut. So ein Wichser.“

Ferdinand war erstaunt, dass solche Worte aus dem Mund dieser sanften Frau kamen. Der Schmerz in ihren Augen war auch heute wieder sehr präsent und er spürte Schwingungen: Verzweiflung und Resignation. Bianca Verskoff hatte sich hier versteckt, ihren Kampfgeist hatte sie tief in sich vergraben.

„Was denken Sie, woher das Mädchen kam? Der Täter sagte, sie stand einfach nur da. Er war auf einer Party und als er auf den Hof kam, war sie dort. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie hat wohl kein einziges Wort gesagt und ist mit ihm in die Weinberge gegangen. Dort wollte er was von ihr und sie ist ausgeflippt. Da hat er sie erwürgt und anschließend vergewaltigt.“

„Er hat sie missbraucht, als sie schon tot war?“

„Ja, das ist besonders abartig. Er ist vorbestraft und als geheilt aus der Therapie entlassen worden, aber jetzt hat er sich doch wieder an einer Frau vergangen.“

„So ein mieses Schwein. Er hätte einfach nur vor Schreck weglaufen sollen, dann wäre es als Affekttat durchgegangen, weil sie so geschrien hat, aber so … ich hoffe, er kriegt lebenslang.“

„Das wird er. Aber ich kann den Fall nicht zu den Akten legen, wenn ich nicht weiß, wer das Mädchen ist.“

„Ich muss immer an Nicola denken“, sagte die Kommissarin plötzlich.

Ferdinand lächelte.

„Ich habe nach Vermissten gesucht, die blonde Haare haben, da kam ich ebenfalls auf Nicola. Sie ist ja noch nicht so lange weg, also waren die wichtigsten Informationen schon im Computer.“

„Sie ist auch blond.“

„Was denken Sie?“

„Wenn es ein Bild geben würde, auf dem sie Zöpfe mit blauen Samtschleifen hat, dann würde ich an­fangen zu denken. Aber ich traue mich nicht nachzuschauen. Wollen Sie das für mich tun?“

Ferdinand kam um den Tisch herum und ließ sich die Richtung des Regals zeigen, wo die Akte von Nicola stehen müsste. Er kam mit einem Ordner wieder an den Tisch.

„So, mal schauen“, sagte er und blätterte. „Das ist das Bild, was wir beide kennen. Hier!“

Aufgeregt zeigte er auf das dritte Bild, das die Mutter der Polizei gegeben hatte, als sie das Kind vermisst gemeldet hatte. Das Mädchen hatte einen Zopf nach vorne über der Schulter liegen und man konnte deutlich eine blaue Schleife erkennen. Es war nicht im Computer, weil diese blaue Schleife wohl nicht relevant dafür war das Mädchen zu finden.

„Oh Mann“, sagte Ferdinand, „Sie können anfangen zu denken.“

Bianca nickte und beide begannen, die Akte ausführlich zu studieren.

Am Ende sagte Ferdinand: „Sie müssen mitkommen und mich beim Staatsanwalt unterstützen. Er denkt, es gibt keinerlei Zusammenhänge.“

„Ich komme nicht mit. Sie schaffen das schon alleine, Herr Waldhöft. Und jetzt gehen wir nach Hause, es ist spät. Sie können sich ja melden, wenn Sie noch etwas erfahren haben.“

Biancas Haltung hatte sich schlagartig verändert, als er sie aufforderte ins Präsidium zu kommen. Ferdinand schluckte eine Bemerkung herunter. Für den Moment gab er sich zufrieden, aber er würde es weiter versuchen, die Frau aus diesem Keller zu holen.

Seufzend war er oben angekommen. Dort grinste der junge Polizist an der Anmeldung.

„Na, auf Granit gebissen?“

Ferdinand stützte sich auf dem Tresen ab und nickte.

„Wir haben einen Fall, bei dem sie uns echt helfen könnte, aber sie will hier nicht raus.“

„Eher friert die Hölle zu, Kollege, als dass diese Frau in ihr Präsidium zurückkehrt.“

„Das wollen wir doch mal sehen“, sagte der Kommissar und machte sich auf den Heimweg.

Auch Bianca räumte auf und fuhr heim. Weil ihr Kühlschrank leer war, holte sie sich eine Pizza und aß sie im Auto, während sie auf dem Parkplatz über Ferdinand Waldhöft nachdachte.

„Warum will er mich denn unbedingt ins Büro locken? Er kann das alles selbst lösen. Außerdem hat er doch eine Partnerin“, sagte sie in den Pizzakarton, aber der antwortete nicht.

Sie klappte ihn zu und legte ihn auf den Beifahrersitz, danach machte sie sich auf den Weg in ihre leere Wohnung, wo sie hinter sich zweimal den Schlüssel drehte.

Das Bild von Michael stand auf ihrem Nachtschrank und sie nahm es wie jeden Abend in die Hand. Mit Tränen in den Augen presste sie ihre Lippen auf das kühle Glas und strich mit dem Finger über sein lachendes Gesicht.

„Schatz, warum hast du mich von dem Haus weggeschickt? Ich könnte jetzt bei dir sein. Wie gerne wäre ich mit dir gestorben, dann müsste ich jetzt nicht ohne dich leben.“

Michael antwortete ebenso wenig wie der Pizzakarton, aber Bianca wusste, was er antworten würde: „Du sollst leben, mein Engel. Ich bin bei dir und wache über dich.“

Sie wollte Ferdinand Waldhöft gerne helfen, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Morgen, dachte sie, morgen schaue ich mir nochmal alle Vermisstenfälle an, bei denen Mädchen mit blonden Zöpfen abgebildet sind, egal, wie alt sie jetzt sein würden.

Unfassbar traurig

Подняться наверх