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Der neue Staat

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Die Zeit schritt zügig voran. Die Erleichterung, dass Augustus so knapp dem Tod entronnen war, war allenthalben zu spüren. Noch waren die Iden des März gegenwärtig, blühte die Erinnerung an Proskription und Philippi, und der böse Geist von Perusia spukte noch in den römischen Köpfen. Das große Volk der Römer hatte im göttlichen Auftrag, wie ihm immer wieder vorgebetet wurde, eine halbe Welt unterworfen, war aber am Übermut jahrhundertelanger Erfolge beinahe zu Grunde gegangen. Hatte sich nicht gerade wieder während Augustus’ Krankheit gezeigt, wie schemenhaft und zerbrechlich Frieden und Ordnung waren, wie bedroht der bescheidene Wohlstand? War denn der anscheinend unvermeidliche Untergang nur aufgeschoben? Besorgt äußerten sich die Dichter: „Welchen der Sterblichen soll das Volk für das sinkende Reich zu Hilfe holen?“, fragte Horaz in seinen Oden.4 Und nicht zuversichtlicher beschrieb Livius im Vorwort seines großen Geschichtswerks die Sorge um die Zukunft des Römertums. Musste man nicht froh und dankbar sein, dass Augustus trotz düsterster Vorhersagen der Ärzte genas? Wem, wenn nicht ihm, dem stabilisierenden Faktor römischer Politik, sollte man weitere Ämter übertragen, wessen Macht noch stärken, wenn nicht die seine, die allein den Bestand Roms und seines Reiches gewährleistete? Stimmen erhoben sich und forderten, ihn zum Diktator zu ernennen. Aber er begnügte sich mit der höchsten Autorität des imperium proconsulare maius, der Amtsgewalt, die die Grundlage der künftigen Machtstellung auch der Augustus folgenden Kaiser in allen Provinzen bildete (23 v. Chr.).

Ein jeder war davon überzeugt, man habe den Princeps zu Recht noch einmal derart erhöht. Die Römer zeigten sich dankbar und ließen ihn gewähren. Gelassen sahen sie zu, wie der Erste die Einrichtungen des Staates nach und nach an sich zog und nach seinen eigenen Vorstellungen umgestaltete.

In das Jahr 23 v. Chr. datieren namhafte Historiker den eigentlichen Beginn der augusteischen Alleinherrschaft. „Nur 21 Jahre waren vergangen seit der Beseitigung eines Diktators und der Wiedergeburt der libertas, einundzwanzig Jahre seit dem ersten coup d‘état des Erben Cäsars. Die Freiheit war untergegangen. Die Revolution hatte triumphiert und eine Regierung hervorgebracht, das Principat gewann Form und Gestalt. Wenn man in diesem geschichtlichen Ablauf, der eine kontinuierliche Entwicklung, keine Aneinanderreihung von Ereignissen ist, unbedingt ein genaues Datum festlegen will, so kann man die Schaffung des Imperiums am besten von diesem Jahr an datieren …“5 So einer von Augustus’ neuzeitlichen Biografen.

Trotz vielfacher Sympathiebekundungen entging dem Princeps nicht, auf welch unsicheren Beinen seine Herrschaft noch immer stand. Mochte der Großteil der Römer, auch solcher der einstigen Führungsschicht, mit ihm auch zufrieden sein und die Verhältnisse hinnehmen, wie sie nun einmal waren, es gab, wie bereits erwähnt, zumindest in den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit auch Unzufriedene und solche, die sich der in Jahrhunderten bewährten res publica noch verpflichtet fühlten. Auch Tiberius trauerte den vergangenen Zeiten nach. Augustus war ein vorsichtiger und ängstlicher Mensch. Durch das Schicksal seines leichtsinnigen Adoptivvaters gewarnt, vermied er jeglichen Leichtsinn. Sooft er sich zu Sitzungen in den Senat begab, schützte er sich durch einen Brustpanzer, den er unter der Toga verborgen trug. Türsteher hatten den Auftrag, jeden, der die Kurie betreten wollte, nach Waffen zu durchsuchen. Und seinen Sitz umgaben nur Senatoren, deren Loyalität er sich sicher sein konnte und die sich darüber hinaus besonderer Körperkraft erfreuten. Für alle Fälle stand auch noch die Prätorianergarde bereit, die er, wie erwähnt, einige Jahre zuvor aufgestellt hatte.

Um seine Gesundheit völlig wiederherzustellen, beschloss er, nach Griechenland zu reisen, wo selbst ein Kaiser wie ein wenig beachteter Privatmann zu leben vermochte. Tiberius war ausersehen, ihn zu begleiten. Die illustre Gesellschaft gelangte zunächst nach Sizilien, als sie Nachrichten über eine neuerliche Rom drohende Hungersnot erreichten. Es hatte offensichtlich Schwierigkeiten in der Getreidezufuhr gegeben. Hatte man früher das wichtigste Grundnahrungsmittel aus Sizilien importiert, so waren seit der Annektierung Ägyptens die fruchtbaren Ufer des Nils die bevorzugte Kornkammer des Reiches und besonders seiner Hauptstadt geworden. Aber Ägypten lag von Rom viele Tagesreisen entfernt, und so war es nicht immer einfach, rechtzeitig für Nachschub zu sorgen. Doch das Problem war bald gelöst, nachdem Augustus seine Reise unterbrochen hatte und gemeinsam mit seinem Stiefsohn für kurze Zeit nach Hause zurückgekehrt war.

Sparta, wo sich die Claudier noch immer großer Beliebtheit erfreuten, und Athen standen auf dem Programm. Der Winter wurde auf der Insel Samos verbracht, die für ihr mildes Klima bekannt war.

Noch keine 22 Jahre war Tiberius alt – er befand sich also in einem Alter, in dem man bei uns zwar nicht mehr die Schulbank drückt, aber doch noch auf den Universitäten den Ergüssen der Professoren lauscht –, als ihm sein Stiefvater Aufgaben übertrug, die manchen neuzeitlichen Menschen fortgeschrittener Jahre überforderten. Es war eine große Verantwortung, die dem jungen Mann auf seine noch unerfahrenen Schultern gelegt wurde, und es könnte fast der Eindruck entstehen, Augustus, der seinen Stiefsohn bisher so offensichtlich übergangen und sich damit Livias Unmut zugezogen hatte, hoffte, durch die Übertragung dieser schier unlösbaren Aufgabe Tiberius vor aller Welt zu diskreditieren und damit seine, des Princeps eigene kürzlich getroffene Entscheidungen zu rechtfertigen. Aber zu jedermanns Erstaunen kehrte Tiberius sieg- und erfolgreich nach Rom zurück.

Allerdings waren die Verträge, die er mit dem Parthern ausgehandelt hatte, ebenso brüchig wie die Stellung Armeniens unsicher war, jenes Landes, das Rom im dritten Mithradatischen Krieg unter seinem König Tigranes I. unterlegen war. Aber das war nicht Tiberius’ Schuld. Der am Oberlauf von Euphrat und Tigris gelegene Landstrich gehörte zu den von Rom eroberten Gebieten, deren Bewohner und Herrscher als leicht entflammbar und allzu unzuverlässig galten. Zudem hatte das frühere Königreich auch schon lange die Begehrlichkeit der Parther geweckt. Der unvergessene Pompeius Magnus, der seinerzeit den Feldzug gegen die Armenier geleitet hatte, hatte den Euphrat als Ostgrenze des Römerreiches festgelegt, und Augustus war dieser Entscheidung bereitwillig gefolgt. Tiberius war nun aufgerufen, die Verhältnisse zu klären, die Parther aus Armenien zu vertreiben und vor allem die bei der Niederlage des Licinius Crassus bei Carrhae leichtfertig an diese verlorenen römischen Feldzeichen zurückzuholen.

Jeden anderen in Tiberius’ Alter hätte diese gigantische Aufgabe überfordert. Denn es galt nicht nur, einen fruchtbaren Landstrich für Rom endgültig zu sichern, sondern in erster Linie, die Schmach einer militärischen Niederlage auszuwetzen. Tiberius entledigte sich gerade dieses Auftrags mit Bravour. Ihm kam entgegen, dass der armenische Thron soeben verwaist war und romfreundliche Kräfte des Landes den Senat gebeten hatten, einen neuen König zu bestimmen.

Nahezu ohne Blutvergießen rückte der Römer in die armenische Hauptstadt Artaxata ein und setzte Tigranes II. auf den Thron. Die Parther, die längst ein Auge auf das Nachbarland geworfen hatten, waren von diesem klugen Schachzug derart überrascht, dass sie die von den Römern zurückgeforderten Feldzeichen, die einen hohen Symbolwert hatten, freiwillig herausgaben und obendrein noch Legionsadler, die Marcus Antonius preisgegeben hatte, die aber gar nicht zurückverlangt worden waren. Denn in Rom hatte man diesen Verlust bewusst geheim gehalten. Als die Parther unter ihrem König Phraates auch noch dem von Rom vorgeschlagenen Grenzverlauf zustimmten, zog Tiberius triumphierend ab. Auch sein Stiefvater konnte zufrieden sein, würden doch die Verdienste des Stiefsohnes ihm, dem Princeps, zugerechnet werden. Doch beide Männer mochten ahnen, dass gerade die Königreiche im vorderen Asien Rom immer wieder herausfordern würden und die Geschichte dieser Beziehungen noch lange nicht zu Ende geschrieben war.

Der mit großem Aufwand einem wichtigen Staatsakt gleich gefeierten Hochzeit Agrippas mit Julia war Tiberius fern geblieben und ebenso sein Stiefvater. Die genauen Gründe hierfür sind nicht bekannt. Ob sich Tiberius je selbst Hoffnungen gemacht hatte, Marcellus’ Nachfolge in Julias Bett anzutreten, ist ungewiss. Selbst wenn er mit dieser Möglichkeit geliebäugelt hätte, wäre ihm doch kaum entgangen, dass er und Augustus’ Tochter schlecht zu einander gepasst hätten. Er, der ernsthafte Jüngling, der nie wirklich jung gewesen war, und die lebenslustige Frau, die, wenn wir antiken Überlieferungen glauben dürfen, es selbst mit der ehelichen Treue nicht allzu genau nahm. Allerdings ist gerade hier Vorsicht geboten. Denn bewiesen ist nichts, und die Berichte über ihren angeblich so leichtfertigen Lebenswandel wurden erst verfasst, nachdem sie bei ihrem Vater in Ungnade gefallen und auf die Insel Pandateria verbannt worden war. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass das negative Urteil, das Zeitgenossen über sie fällten und das ungeprüft an kommende Jahrhunderte weitergegeben wurde, bewusst übertrieben ausfiel, um einem erzürnten und unversöhnlichen Vater Recht zu geben. Allen Verdächtigungen zum Trotz: Julia schenkte ihrem zweiten Gatten fünf Kinder, zwei Töchter und drei Söhne, von denen der jüngste, Agrippa Postumus, erst nach dem Tod des Vaters zur Welt kam, wie sein Name schon sagt. Soweit wir wissen, hat Marcus Vipsanius Agrippa seine Vaterschaft nie angezweifelt. Und die zahlreichen Schwangerschaften bis zum Tod ihres Mannes nur neun Jahre nach der Heirat werden der Kaisertochter kaum Zeit für größere Ausschweifungen gelassen haben, zumal sich auch ständig aller Augen auf sie gerichtet haben dürften.

Pünktlich neun Monate nach der Aufsehen erregenden Hochzeit wurde Gaius Caesar geboren, und Augustus schmolz vor Großvaterglück nur so dahin. Was die Natur ihm selbst verwehrt hatte, war nun doch mittels seiner Tochter in Erfüllung gegangen. Die Dynastie der Julier würde also nicht aussterben, sondern in seinem Enkel fortleben. Aber noch durfte man sich nicht gelassen zurücklehnen. Die Kindersterblichkeit war hoch im alten Rom, und niemand war vor den Launen des Schicksals gefeit. Als nach einer Tochter ein zweiter Enkel, Lucius Caesar, das Licht der Welt erblickte – 17 v. Chr. –, sah die Sache schon anders aus. Das Glück des alternden Princeps schien nun vollkommen. Zu Recht befürchtete Tiberius, dass er künftig allenfalls eine untergeordnete Rolle im Staatswesen spielen und die Stelle eines Platzhalters für Augustus’ eigene Brut ausfüllen müsste. Und für viele Jahre hatte es tatsächlich den Anschein, als hätten sich alle günstigen Vorzeichen, die ihm einst eine große Machtfülle verheißen hatten, geirrt. Aber das Schicksal verfolgt seinen eigenen Weg, und kein Mensch hat sich ihm je erfolgreich entgegen gestellt. Dennoch: Tiberius’ Schicksal hieß vor allem Livia, die Mittel und Wege fand, ihrem Erstgeborenen zu seinem vermeintlichen Recht zu verhelfen.

Der Stiefsohn war nach der erfolgreichen Armenienmission nach Rom zurückgekehrt. Vor vielen Jahren schon war ihm Vipsania als Gattin zugedacht worden, und er fand bei seiner Heimkehr eine reizende junge Frau vor, die ihm sofort gefiel. Mit Genugtuung stellte er fest, dass seine Braut glücklicherweise wenig von dem vierschrötigen Aussehen ihres Vaters geerbt hatte, sondern mit ihren fein geschnittenen Gesichtszügen mehr ihrer Mutter glich, Pomponia, der Tochter des Cicero-Freundes Atticus, mit der Marcus Vipsanius Agrippa in früherer Ehe verheiratet gewesen war. Beruhigt wird Tiberius auch festgestellt haben, dass Vipsania über Geistesgaben verfügte, die bei einer Römerin, selbst einer gehobenen Standes, keineswegs selbstverständlich waren. Die Voraussetzungen für das Gelingen dieser Ehe waren also günstig, und tatsächlich entwickelte sich zwischen den beiden Brautleuten eine tiefe Zuneigung, die bei gestifteten Verbindungen in Rom ansonsten eher selten war. Die Hochzeit ließ allerdings auf sich warten. Erst 16 v. Chr. war es soweit. Augustus plante damals einen Ausflug nach Gallien, wohin ihn Tiberius begleiten sollte. Es galt, die Provinz neu zu organisieren, und Vipsania sollte nicht als unverheiratete Frau in Rom zurückbleiben. Der Bräutigam war inzwischen 25 Jahre alt, seine Braut 18. Nach römischen Vorstellungen hätten sie längst verheiratet sein dürfen. Im Allgemeinen lag das Heiratsalter von Mädchen bei 12 Jahren. Jungen galten in der Regel mit 14 als ehefähig.

In den drei Jahren seit Tiberius’ Heimkehr von Armenien hatten sich in Rom die Ereignisse fast überschlagen. Wie bereits erwähnt, war im September 19 v. Chr. Roms womöglich größter Dichter Vergil auf der Heimreise in Brundisium (heute Brindisi) seinem schweren Leben erlegen. Zuvor hatte er Augustus noch gebeten, sein größtes Werk, das er für unvollendet, ja stümperhaft hielt, nach seinem Tod zu vernichten. Aber der Princeps mochte den Wert der Arbeit für Rom und die Nachwelt erkannt haben und hielt sich nicht an den letzten Willen des Dichterfürsten, den gerade seine Aeneis unsterblich machen sollte. Auch Tibull, der Schöpfer der weltberühmten Elegien, scheint in diesem Jahr verstorben zu sein. Sein Tod könnte nach Ansicht mancher Historiker aber auch erst 17 v. Chr. eingetreten sein.

Ein knappes Jahr nach Vergils Tod erblickte Julias gleichnamige Tochter das Licht der Welt. Wie ihre Mutter sollte auch sie der Überlieferung böswilliger Schreiberlinge anheimfallen. Fest steht indes nur, dass sie von Augustus ebenfalls verbannt wurde und fern ihrer Heimat einsam starb. Auch die ihr zur Last gelegten Verfehlungen, die sie in die Verbannung getrieben haben, sind nie bewiesen worden, und es gab in Rom darüber die wildesten Gerüchte.

Augustus, der sich selbst in moralischer Hinsicht nie irgendwelchen Bräuchen beugte oder auch nur die geringsten Beschränkungen auferlegte, hatte bereits im Todesjahr seines Freundes Vergil das erste Sittengesetz erlassen, die Lex Iulia, die jeden Römer und hauptsächlich jede Römerin zu einem sittlich einwandfreien Lebenswandel verpflichtete. Sie beinhaltete vor allem das Verbot standeswidriger Ehen (… de maritandis ordinibus). Ein Jahr später verpflichtete eine weitere Verordnung Senatoren und Ritter zur Heirat. Die Römer waren ehemüde geworden, eine negative Begleiterscheinung ihres Wohllebens. Das Aufziehen von Kindern galt als vermeidbare Last. Und der allgegenwärtige Reichtum zumindest der gehobenen Schicht verhinderte, dass man das Alter alleine und hilflos zubringen musste. Es fanden sich stets genügend „Kinder“, die nur allzu bereit waren, alte Herrschaften zu betreuen – und zu beerben. Die Bevölkerungszahl ging zurück. Vorausblickend wollte Augustus diesem Zustand entgegenwirken. Viel erreicht hatte er indes nicht. Scheinehen wurden geschlossen und nach kurzer Zeit wieder aufgelöst, Verlobungen eingegangen, doch die Hochzeit ließ oft Jahre auf sich warten oder fand überhaupt nicht statt. Die Römer zeigten sich überaus erfinderisch, wenn es darum ging, die strengen Sittengesetze ihres Obersten zu umgehen.

Ebenfalls im Jahr 18 v. Chr. fand auch eine große Säuberung in den Reihen der Senatorenschaft statt. Als Augustus die Mitgliederzahl des traditionsreichen Gremiums um die Hälfte reduzieren wollte, stieß er auf heftigen Widerstand, der schließlich die Verminderung der Senatorenzahl erschwerte. Es gelang ihm jedoch, die durchschnittliche Verjüngung der Versammlung der eingeschriebenen Väter durchzusetzen, da er Söhnen von Rittern des zweiten römischen Standes in der strengen Gesellschaftshierarchie die Möglichkeit eröffnete, das Senatorenrecht zu erlangen. Die Ritterschaft hat es ihm gedankt. Denn Roms Nobilität sah oft allzu arrogant auf sie herab, die doch oft wesentlich wohlhabender war als die erste Schicht, aber kaum je eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs bekam. Wie sehr Augustus die Rechte des römischen Adels einschränkte, mag die Tatsache verdeutlichen, dass allein in den Jahren 25 bis 19 v. Chr. acht Konsuln Familien entstammten, die bislang in der römischen Politik nicht in Erscheinung getreten waren. Nur fünf kamen aus dem alten Adel. So schmälerte der Princeps für alle deutlich Macht und Ansehen des einst höchsten Staatsamts der römischen Republik, und selbst dem am politischen Geschehen wenig Interessierten musste spätestens jetzt aufgehen, dass eine neue Zeit angebrochen war.

Trotz aller Neurungen, die mehr oder weniger offenkundig waren, hielt der neue Staatsführer zumindest nach außen hin an Traditionen und der mos maiorum fest, der alten Vätersitte. Im Jahr 17 v. Chr. standen Säkularfeiern an, für die Horaz bereits eine Ode dichtete. Die Spiele, die Roms Wohlfahrt und Gedeihen für ein weiteres Jahrhundert beschwören sollten, sind für das Jahr 249 v. Chr. zum ersten Mal verbürgt. Ihr Ursprung liegt allerdings im Dunkeln. Möglicherweise waren sie aus Sühneriten des sabinischen Geschlechts der Valerier entstanden oder sie entstammten einem etruskischen Brauch. Es handelte sich jedenfalls zunächst um einen Privatkult, der vom Staat übernommen wurde und 146 v. Chr. zum zweiten Mal stattfand. Doch hundert Jahre später tobte der Bürgerkrieg, und so wurden die Friedensspiele verschoben, bis sich Augustus des althergebrachten Festes besann. Aber unter seiner Herrschaft sollten nicht nur Sühnespiele zu Ehren der Unterweltsgötter Dis und Proserpina abgehalten werden, wenn die nächtlichen Opfer für begangene Vergehen auch beibehalten wurden. Nicht weniger sollte Roms Wohlergehen für die Zukunft gewährleistet werden. Und so wurde auch den Fruchtbarkeitsgöttern gehuldigt und all jenen, die zur Größe Roms beigetragen hatten, der Mutter Erde etwa, Jupiter und Juno als Schutzgottheiten des Reiches und natürlich Apollo und Diana, denen Augustus besonders zugetan war. All diesen Himmlischen zur Ehre sangen 27 junge Männer und 27 Jungfrauen das carmen saeculare, das, wie erwähnt, Horaz verfasst hatte. Zur Unterhaltung des Volkes wurden im Zirkus Spiele und Wagenrennen veranstaltet.

Das dreitägige Fest sollte nun endgültig demonstrieren, dass auf der Grundlage des Althergebrachten eine neue Zeit angebrochen war, eine Ära des Friedens, des Wohlstands und des Glücks, und dass die römische Welt dies alles einem Einzigen verdankte: Octavian Augustus, der sich anschickte, Rom und sein Volk in ein wahrhaft goldenes Zeitalter zu führen.

Im Jahr der Säkularfeiern konnte Tiberius einen weiteren Erfolg für sich verbuchen. Er wurde zum Prätor ernannt, ein wichtiger Schritt auf der noch immer begehrten Ämterlaufbahn. Hatten sich früher die acht Prätoren vor allem Aufgaben der Gerichtsbarkeit geteilt, sind ihre Befugnisse ab der Regierungszeit des Augustus, unter dem die Zahl auf zehn bis sechszehn erhöht wurde, stark eingeschränkt worden. Zwar behielten sie noch einen gewissen Einfluss auf das Gerichtswesen und konnten weiterhin Edikte erlassen, aber bald bestand ihre Hauptaufgabe in der Ausrichtung von Spielen, sodass das Amt immer mehr zur finanziellen Last geriet. Denn der Veranstalter der Volksunterhaltung musste auch die Kosten dafür tragen. Besonders diese Aufgabe des Prätors wird Tiberius kaum gefallen haben, lehnte er doch noch als Kaiser derartiges Volksvergnügen ab. Immerhin blieb die Prätur Voraussetzung für die Betrauung mit weiteren wichtigen Staatsämtern.

In seinem Privatleben mag er, zu dem seine Braut Vipsania bewundernd aufblickte, zu den vielleicht glücklichsten Menschen jener Tage gehört haben. Der ansonsten so finstere Claudier hatte zu der stillen, zurückhaltenden jungen Frau eine tiefe Zuneigung gefasst, die weit über flüchtige körperliche Beziehungen hinausging. Zwischen den Brautleuten bestand ein tiefes Einverständnis, ja eine unerschütterliche Kameradschaft. Während der Säkularfeiern wurde das hohe Paar der Öffentlichkeit als verlobt vorgestellt. Im Jahr darauf würde die Hochzeit stattfinden, und Tiberius und Vipsania hatten allen Grund, sich auf die gemeinsame Zukunft zu freuen. Sie ahnten nicht, als wie vergänglich sich ihr Glück erweisen sollte und dass die Tage ihres unbeschwerten Beisammenseins bereits gezählt waren.

Es war sicherlich kein Zufall, dass auch Tiberius’ Bruder Drusus im Jahr 16 v. Chr. heiratete. Ihm hatte man Antonia Minor zugedacht, die jüngere Tochter Octavias aus deren kurzer Ehe mit Marcus Antonius.

Die strenge körperliche Ertüchtigung, der Tiberius in Jugendjahren unterzogen worden war, hatte ihre Spuren hinterlassen und aus dem einst schmächtigen linkischen Jüngling einen ansehnlichen Mann gemacht. „Sein Körperbau war fest und stark“, bemerkt sein antiker Biograf, „seine Figur über Mittelgröße. Schultern und Brust waren breit, und auch die übrigen Gliedmaßen bis hinunter zu den Füßen ebenmäßig und gut proportioniert.“ Auch davon, dass Tiberius über große Kraft verfügte, weiß Suetonius zu berichten. Mit seinem weißen Teint und den edlen Zügen war er eine sicherlich auffällige Erscheinung, auf die Vipsania durchaus stolz sein konnte. Die früher erwähnten Eiterpusteln, die oft sein Gesicht verunstalteten, dürften Ausdruck einer gequälten Seele gewesen und in glücklichen Augenblicken verschwunden sein.

„Er schritt mit steifem, zurückgebogenen Nacken“, heißt es weiter, „meist mit ernstem Gesicht, fast immer schweigend, denn er pflegte sogar mit seiner engsten Umgebung nicht oder nur sehr selten zu sprechen …“ Bedächtig habe er sich stets geäußert und dabei seine Finger geziert bewegt. Sein Stiefvater entschuldigte sich gelegentlich für Tiberius’ Eigenarten bei Volk und Senat, gab aber zu bedenken, dass es sich dabei um äußere Fehler handelte, die nichts mit dem wahren Wesen seines Stiefsohns zu tun hätten.6

Wenn wir den antiken Biografen glauben dürfen, erfreute sich unser Protagonist bis ins hohe Alter einer robusten Gesundheit, die ärztlichen Rat überflüssig machte. Auch gab er nicht allzu viel auf die Gunst der Götter, sondern ergab sich ganz der Astrologie und war fest davon überzeugt, dass im Leben ohnehin alles vorherbestimmt sei. Er war nicht frei von Aberglauben und vertraute Vorhersagen, ganz im Einklang mit den Gepflogenheiten seiner Zeit. Besonders fürchtete er sich vor Gewittern, darin seinem Stiefvater nicht unähnlich, und er setzte sich, sobald sich der Himmel bedeckte, einen Lorbeerkranz auf den Kopf. Hieß es doch, dass diese Blätter Blitze fern hielten. So mag Tiberius schon in jungen Jahren ein wenig schrullig angemutet haben.

Es gab in jener Zeit für Rom auch Misserfolge. Der Sommer des Jahres 16 v. Chr., des Hochzeitsjahres von Tiberius und Agrippina, bescherte dem Reich eine vernichtende Niederlage, von der es sich so schnell nicht erholen sollte.

Fünf Jahre zuvor hatte Augustus einen seiner Anhänger zum Konsul ernannt, Marcus Lollius, einen homo novus, der bereits 25 v. Chr. Statthalter Galatiens gewesen war. Er hatte auch bei den Säkularfeiern des Jahres 17 v. Chr. eine aktive Rolle gespielt und fungierte danach als Verwalter der Provinz Gallia Comata (17 und 16 v. Chr.). Als die germanischen Stämme der Sugambrer, Usipeter und Tenkterer den Rhein überschritten und die römische Besatzung angriffen, musste Rom eine verheerende Niederlage hinnehmen, für die Lollius nie zur Verantwortung gezogen wurde. Im Gegenteil. Ihm stand noch eine glänzende Karriere bevor, als er von Augustus fünfzehn Jahre später zum Begleiter und offiziellen Ratgeber des Kaiserenkels Gaius Caesar ernannt wurde und mit diesem in den Orient aufbrechen durfte. Zeitlebens war er Tiberius feindlich gesinnt, intrigierte gegen ihn und versuchte, den kaiserlichen Enkel und Adoptivsohn gegen den Stiefsohn aufzuhetzen, bis er endlich bei Gaius in Ungnade fiel und 2 n. Chr. sein Leben selbst beendete. Weshalb er bei Augustus in so hoher Gunst stand, ist nicht bekannt. Unterschiedlich beurteilen ihn die Zeitgenossen. Horaz bewunderte ihn als „rechtschaffenen“ Mann. Velleius Paterculus, der berühmte Geschichtsschreiber, der in seinem Werk dem zweiten Princeps uneingeschränktes Lob zollt, charakterisiert Lollius hingegen als habgierig, bestechlich und heuchlerisch. Er hatte genügend Gelegenheit, den Kritisierten aus nächster Nähe zu beobachten. Denn auch er gehörte zu den Männern, die den jungen Caesar in den Osten begleiteten.

Die Niederlage des Lollius hatte zwar nicht die Ausmaße derjenigen, die Quinctilius Varus Jahre später in Germanien widerfuhr, aber sie zeigte doch, dass es auch für die erfolgsverwöhnte Weltmacht Grenzen gab.

Pünktlich wurde Tiberius ein Jahr nach der Hochzeit ein Sohn geboren, Drusus, benannt nach dem Bruder, dem der junge Vater trotz aller Unterschiede ihrer Charaktere besonders zugetan war. Dieser Sohn sollte sein einziges legitimes Kind bleiben. Großmutter Livia dürfte sich über den Kindersegen gefreut haben. Als sie einst mit Tiberius schwanger gewesen war, hatte sie – abwechselnd mit einer Amme – ein Ei ausgebrütet, um vom Geschlecht des geschlüpften Kükens auf das Geschlecht des Kindes zu schließen, das sie erwartete. Ob sie auch diesmal ihre Neugier nicht zügeln konnte? Es wäre denkbar. Verbürgt ist es allerdings nicht.

Auch Bruder Drusus wurde in diesem Jahr stolzer Vater eines Jungen. Die jüngere Antonia schenkte ihm Germanicus – ein kühner Name, der an den kürzlich erzielten Erfolg des claudischen Brüderpaares im Alpenvorland erinnern sollte. Beide, Sohn und Neffe, sollten im Leben des späteren Kaisers eine wichtige Rolle spielen und für manche Enttäuschung verantwortlich sein.

4 Horaz. Oden. 1,2,25 ff.

5 Syme, Ronald. Die römische Revolution. München. o.J., S. 312.

6 Suet. Tib. 68.

Tiberius. Grausamer Kaiser - tragischer Mensch

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