Читать книгу Tiberius. Grausamer Kaiser - tragischer Mensch - Ute Schall - Страница 7
Eine Begegnung
ОглавлениеCapri, Sommer 1987. Er ist nicht allzu steil, der Weg, den ich trotz der hochsommerlichen Temperaturen emporgestürmt bin, führt aber doch stetig bergan. Es war die Neugier, die mich trieb. Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Aber diese alte Weisheit wurde erst viel später in Worte gefasst (oder auch nicht). Da stehe ich nun und schaue mich um. Und die Jahrhunderte gerinnen zum Augenblick.
Langsam beginne ich, ihn zu verstehen. Ihn: Tiberius Claudius Nero, der sich später Tiberius Iulius Caesar Augustus nannte. Nennen musste. Denn Augustus, der Erhabene, hatte ihn mangels anderer Kandidaten an Sohnes statt angenommen und zum Nachfolger bestimmt. Hatte wiederholt zerstörerisch in sein Leben eingegriffen und ihn damit zum „traurigsten Mann der Welt“ gemacht, wie Plinius zu berichten wusste … Doch dann wenigstens das: Von blaugrüner Farbe das Meer weit unter meinen Füßen, das auch er gesehen hat. Zerklüftet die Schroffen, die in die Tiefe stürzen. Überwölkt vom makellosen Azur des campanischen Himmels. Ich kann ihn verstehen. Ruhe, fast gespenstische Stille um mich herum. Nur ab und zu das Kreischen der Möwen. Kaum eines Menschen Fuß verirrt sich hierher. Zu steinig ist der Pfad, zu wenig ergiebig erscheint das Ziel. Reizvoll nur für den, der Augen und Ohren für die Magie dieses Ortes hat. Eine Weile stehe ich stumm, erfüllt von Ehrfurcht für den Palast, der dem Herrn des Himmels geweiht ist: das weitläufige Areal der Villa Jovis.
„Entschuldigen’S!“, werde ich aus meinen rückwärts gerichteten Gedanken gerissen. Ein wenig verstört drehe ich mich um. Nein, es ist nicht Jupiter, der mir an dieser fast magischen Stätte in den Trümmern des nach ihm benannten Landsitzes erscheint, wenngleich die Erscheinung auch graues, bis zu den Schultern wallendes Haar und ein weißer Rauschebart ziert, der immerhin fast bis zur fülligen Brust reicht. „’Tschuldigung!“, wiederholt der Fremde, und ich blicke einem Bayern auf Kulturtour ins Gesicht, der in eine etwas knappe, kurze Lederhose gepresst ist, einen gamsbartbewehrten Hut auf dem mächtigen Haupt trägt und einen prallen Rucksack von offensichtlich beachtlichem Gewicht auf dem Rücken. „Wo find i, bitt schön, dö Villa Jovis?“, will der Mann von mir wissen, und es hat ganz und gar nicht den Anschein, dass er sich über mich lustig macht. Er breitet eine Karte der doppelgipfligen Insel aus, die er ein wenig umständlich einnordet und eifrig zu studieren beginnt.
„Na, Sie stehen doch mitten drin!“, gebe ich bereitwillig Auskunft. Der Blick, der mich durchbohrt, drückt Erstaunen, nein, Misstrauen, ja sogar ein wenig Verachtung aus. Und er scheint sich zu fragen, ob er da einer Ignorantin oder gar einer Verrückten aufgesessen ist. Die Enttäuschung über das, was er nach doch recht mühsamem Aufstieg – er atmet immer noch schwer und der Schweiß steht ihm glänzend auf der Stirn – hier vorfand, ist ihm deutlich anzusehen. Aber er fasst sich schnell wieder. In sicherer Entfernung von mir lässt er sich auf einer Fundamentmauer nieder, schüttelt ungläubig sein schweres Haupt, nimmt seinen Rucksack ab, wischt sich mit einem karierten Taschentuch über die schweißnasse Stirn und beginnt, seine deftigen Schmankerln auszupacken. Mich würdigt er keines Blickes mehr …
Tiberius Claudius, wie er bei seiner Geburt hieß: Wer war er eigentlich, der dem Römerreich immerhin fast 23 Jahre vorstand, über den Zeitgenossen wie Nachgeborene die unterschiedlichsten Urteile fällten, an dem die meisten aber kein gutes Haar ließen und der, wenn wir Historikern und Vitenschreibern vertrauen können, seinen Untertanen verhasst war? So sehr verhasst, dass sie ihm Trunksucht und unvorstellbare sexuelle Ausschweifungen nachsagten, dass sie sogar die Entsorgung seiner Leiche in den Fluten des Tibers forderten: „Biberius“, nannten sie ihn, den Trinker, und der Pöbel auf der Straße skandierte, als er gestorben war: „Tiberium in Tiberim, Tiberium in Tiberim!“
Wer war er, dieser finstere, zu Melancholie und Schwermut neigende Mann, der um eines ungeliebten und von ihm nicht begehrten Thrones willen um sein Leben betrogen wurde? Wer war er, der dem Moloch Rom entfloh und auf der entlegenen Insel in aller Abgeschiedenheit die letzten elf Jahre seines vergeudeten Lebens verbrachte? Und ist es möglich, seiner gewiss zwiespältigen Persönlichkeit einigermaßen gerecht zu werden?
Einen Versuch ist es wert. So will ich mich denn an die Arbeit machen.