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Kapitel 4

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Der Mensch, wenn er ins Leben tritt,

ist weich und schwach,

und wenn er stirbt,

so ist er hart und stark.

Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten,

sind weich und zart,

und wenn sie sterben,

sind sie dürr und starr.

Darum sind die Harten und Starken

Gesellen des Todes,

die Weichen und Schwachen

Gesellen des Lebens.

(Lao Tse)

Nach der Landung in München am nächsten Morgen war ich direkt nach Bozen weiter gefahren. Ich hatte dort seit ein paar Monaten unter dem Deckmantel einer Luxemburger Holding ein Büro angemietet. Ein dreiviertel Jahr nach meiner Entlassung hatte ich meinen Ex-Cheftrader und meinen ehemaligen Prokuristen angerufen. Der Grund war, dass ich begriffen hatte, dass meine Ehe gescheitert war und ich mir eine Beschäftigung suchen wollte, um der disharmonischen Stimmung in meinem Zuhause zu entgehen. Beide waren sofort bereit gewesen, mich zu treffen. Sie arbeiteten inzwischen mit einem anderen ehemaligen Angestellten von uns zusammen, der sich selbstständig gemacht hatte. Aber sie waren nicht glücklich mit ihm. Ich bot ihnen an, eine neue Firma zu gründen und sie einzustellen. Sie waren einverstanden. Mein Cheftrader war mit einer Südtirolerin liiert. Er schlug vor, das Büro in Bozen zu domizilieren. Seine Lebensgefährtin kenne alle wichtigen Leute dort. Sie würde uns Kunden bringen. Ich sagte mir, vertraue in Kairos und mach es.

So kam es, dass ich ein gemütliches Büro unter den Lauben angemietet hatte, von dessen Fenstern aus ich einen Blick auf den Bozner Obstmarkt hatte. Geschäftlich lief es nicht schlecht. Tatsächlich brachte uns die Freundin die ersten Interessenten ins Haus. Die Südtiroler waren ausgesprochen misstrauische Gesellen, aber gierig. Sie stellten viele intelligente Fragen und es war spannend, sie zu überzeugen.

Nach den ersten Meetings hatte ich wieder Blut geleckt. Ich hatte mir als Investitionsmodell einen Zinsspread ausgedacht, mit dem man auf sinkende Zinsen in den USA und steigende in Deutschland spekulieren konnte. Oder vice versa. Ich wusste, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Kunde bei uns einzahlen würde.

Ich sollte Recht behalten. Nach ein paar Wochen verwalteten wir bereits eine Million US Dollar. Das bedeutete einen Tagesumsatz von 1000 US$ für uns. Also mehr als genug, um die Bürokosten und unsere Gehälter zu zahlen. Der Zinsspread ging auf und wir erzielten Gewinne. Einer unserer zufriedenen Kunden empfahl uns einem Fondsmanager mit Sitz in Lugano. Er wollte mich kennenlernen. Also warf ich mich in einen dunkelblauen Edelzwirn, wählte aus meinem Fuhrpark, der inzwischen wieder aus einem Jaguar, einem Range Rover und einem Porsche bestand, die englische Edellimousine und fuhr zu ihm. Herr S. war ein Portugiese, der sich als ein echter Gentleman entpuppte. Wir verstanden uns vom ersten Augenblick an. Bei der Rückfahrt hatte ich einen Vertrag über 4 Millionen US$ in der Tasche, die er uns zur Verwaltung zur Verfügung stellte. Unglaublich. Nach noch nicht einmal einem halben Jahr verwalteten wir 5 Mio. US$. Nur für Commodities. Bei 1000 gehandelten Kontrakten waren das 5.000 US Dollar Umsatz. Täglich.

Alles schien also bestens zu laufen. Doch natürlich bleibt die Börse ein tückisches, unberechenbares Element. Als ich nach meiner Ankunft aus New York mit meinen beiden Angestellten beim Mittagessen saß, erzählten sie mir deprimiert, dass der Börsenhandel am Vortag eine Katastrophe gewesen wäre, weil die Bundesbank mit einer lancierten Falschmeldung die Kurse manipuliert hätte. Während ich in der Maschine von New York nach München über dem Atlantik vor mich hindämmerte war uns ein offener Verlust entstanden, der etwa eine Million US Dollar betrug. Wir diskutierten intensiv, ob wir ihn realisieren sollten oder ob die Kurse sich wieder erholen würden. Den ganzen Nachmittag saßen wir vor den Bildschirmen, aber es ließ sich kein klarer Trend erkennen. Die Kurse bewegten sich nach dem Absturz von gestern auf der Stelle.

Wir besprachen uns mit unseren Brokern, aber die hatten auch keinen Plan. Sie rieten uns, abzuwarten. Also machten wir gar nichts, außer dass ich Herrn S. über die Situation informierte.

Der nahm den offenen Verlust gelassen. Er hatte gerade mit den Kursanstiegen seines Aktiendepots über 5 Millionen realisiert, was unseren Verlust in den Commodities mehr als kompensierte. Aber an seiner Stimme hatte ich gemerkt, dass er uns den Vertrag kündigen würde. Er mochte mich, aber letztendlich zählte nur der Erfolg unserer Anlagestrategie. Und die war wegen übler Machenschaften der Bundesbank gerade gefloppt.

Das alles regte mich ungeheuer auf. Ich steckte wieder mittendrin und war erneut zum Spielball der Gier und der Macht geworden. Meine im Knast gewonnenen Erkenntnisse drohten sich in Luft aufzulösen und meine alten Verhaltensmuster, in die ich zurückgefallen war, hatten mir altbekannte Probleme beschert.

Es ging auf Mitternacht zu, als ich mich schließlich von meinen beiden Jungs verabschiedete, um zu Maria in unseren Bauernhof oberhalb von Garmisch zu fahren. Die Autobahn war leer. Frustriert darüber, dass ich Trottel mich schon wieder mit offenen Verlusten an der Börse herumschlagen musste und erneut abhängig von unkontrollierbaren Ereignissen an den Finanzmärkten dieses Globus war, gab ich Vollgas und ließ die 328 PS des Porsches ihre Kraft entfalten. Auf einem geraden Streckenabschnitt näherte sich die Tachonadel gerade der 300er Marke, als weit vor mir rote Rücklichter auftauchten. Intuitiv bremste ich ab. Trotz der reduzierten Geschwindigkeit schloss ich wenig später auf das vor mir fahrende Fahrzeug auf.

Meine Vorahnung hatte mich nicht getäuscht: Es war ein blauweißer Alfa Romeo der Carabinieri. Ich bremste erneut und reihte mich hinter ihnen ein. Ein Blick auf meinen Tacho zeigte mir, dass die Jungs genau 100 km/h fuhren, obwohl 110 km/h erlaubt waren. Nach kurzer Zeit des Dahinschleichens reichte es mir. Ich scherte aus und fuhr mit exakt 110 km/h langsam an ihnen vorbei. Kaum hatte ich sie überholt, schalteten sie ihr Blaulicht ein und passierten mich.

„Follow me, Polizia“ knallte es mir in einem grellen Rot durch ihre Heckscheibe entgegen. Sie lotsten mich mit 100 km/h zum nächsten Parkplatz, der gut 15 km entfernt war. Das Schneckentempo war eine Zumutung für meinen spritzigen Wagen und meine Nerven. Während ich hinter ihnen her schlich, dachte ich wütend, dass ich schon wieder von der Justiz ausgebremst wurde.

Plötzlich hatte ich eine Idee. Warum denn nicht? Wie sehr fehlten mir die angeregten Gespräche, die Authentizität, der Humor und die Schlagfertigkeit von einigen meiner Knastbrüder. Wenn ich ehrlich war, fehlte mir in Wirklichkeit die ganze Situation: das geregelte Leben, die Geborgenheit und die innere Freiheit. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und mich wieder einsperren lassen. Von italienischen Knästen und speziell dem in Bozen hatte ich nur Gutes gehört. Dort gab es täglich einen Liter Wein, die Zellen waren den ganzen Tag offen und man konnte immer in den Gefängnishof zum Joggen, Spazierengehen oder um sich zu sonnen. Besuch war jederzeit möglich und die Besucher durften auch Lebensmittel aller Art für die Gefangenen mitbringen.

Daraus zauberten die inhaftierten Köche dann täglich Menüs, die es mit denen in den feinsten Restaurants aufnehmen konnten.

Jeden Abend wurde getafelt, gelacht und getrunken. Das klang echt verheißungsvoll. Sicher würde ich dort wieder auf einige außergewöhnliche Figuren treffen, die sich deutlich von den „grauen Mäusen“ abhoben, mit denen ich mich gerade täglich herumärgern musste. Sie hielten mir gnadenlos den Spiegel meiner eigenen Unzulänglichkeit vor und verdeutlichten mir jede Sekunde, was für ein sinnloser Rückfall es gewesen war, wieder in das Money-Business eingestiegen zu sei. Und meine neuen Erkenntnisse und meine mir im Knast angeeignete Ethik verraten zu haben.

Die beiden Polizisten vor mir kamen mir also gerade recht. Warum sollte ich ihnen nicht eine Lektion erteilen?

„Ich bringe euch das Schwert, denn der Krieg ist der Vater aller Dinge“, hat der wahre Jesus gesagt. Die Starken kämpfen und töten, die Schwachen betrügen. Nie wieder wollte ich zu den Letzteren gehören. Schlagen nicht sogar friedliebende buddhistische Lehrer hart mit dem Zen-Stab zu, wenn ein Schüler während der Meditation wegdämmert? Also warum nicht auch ich? Wenn mein Plan funktionierte, kam ich gut aus der Situation heraus. Wenn nicht, würde ich für einige Zeit im Knast in Bozen landen.

Verlockende Vorstellung.

Kaum hatten wir den Parkplatz erreicht, traten sie wie erwartet an meinen Wagen. Der Schlankere von ihnen beugte sich zu meinem geöffneten Fenster herab und verlangte barsch meine Fahrzeugpapiere und meinen Führerschein. Es waren zwei junge arrogante Beamte, die sich anscheinend ihren kargen Sold aufbessern wollten und mich für das ideale Opfer hielten. Ein gut gekleideter deutscher Spießer in einem Luxusauto, mit dem ihm anerzogenen Respekt vor der Obrigkeit. Besonders, wenn sie in einer Uniform steckte und martialisch auftrat. Eine leichte Beute. Dachten sie. Sie irrten sich gewaltig. Ihre überheblichen Mienen verrieten mir, dass sie insgeheim die Aktion bereits als erfolgreich abgehakt hatten und sich schon überlegten, was sie mit meiner Kohle machen würden.

Normalerweise hätte ich für ihr Verhalten sogar Verständnis gehabt. Aber heute hatte ich wegen des offenen Verlustes, meines gescheiterten Lebenskonstrukts und des sich langsam bemerkbar machenden Jetlags extrem schlechte Laune.

Ich schälte mich aus dem Sportsitz des Porsches und gab die Papiere dem Sprecher der Beiden. Es war kalt und mich fröstelte etwas, was mich noch wütender machte.

Der Carabinieri warf nur einen flüchtigen Blick auf meine Papiere.

„Sie haben uns mit 170 km/h überholt. Erlaubt waren 110. Das macht 1.000,- DM Strafe, ersatzweise 20 Tage Haft“, sagte er dreist. Wohl wissend, was das für ein Unsinn war, sah er mich herausfordernd an.

„Haft!“ Das Zauberwort war Musik in meinen Ohren.

„170 km/h also. Interessant. Womit habt Ihr mich denn gemessen?“ fragte ich ruhig und trat einen Schritt vor, um die richtige Distanz zu ihnen für meinen Angriff zu haben.

„Brauchen wir nicht. Wir sind zu zweit und werden es jederzeit beeiden. Wenn Sie nicht zahlen wollen oder können, beschlagnahmen wir Ihr Fahrzeug und nehmen Sie fest“, drohte mir mein Gegenüber.

In diesem Augenblick bog ein Pulk von Motorradfahrern in den Parkplatz ein. Als sie den geparkten Polizeiwagen erblickten, dessen rotes Blinklicht mich und die beiden Carabinieri wie in einem Hollywoodfilm in Szene setzte, fuhren sie direkt auf uns zu und stellten ihre Maschinen ab. Sie stiegen ab, kamen auf uns zu und umringten uns.

„Was wollen die Pappnasen von dir, Uwe?“, fragte mich eine Stimme, die mir vertraut vorkam. Einer der Biker grinste mich an und ich erkannte einen ehemaligen Mithäftling.

Oh wundersame Fügung!

„Sie wollen mich abzocken“, erwiderte ich und grinste zurück. „Ich soll ihnen 1.000 DM geben, dann lassen sie mich weiterfahren.“

Mein Knastbruder nickte seinen Freunden zu. Die bildeten einen Kreis um mich und die beiden Polizisten. Langsam zogen sie den Ring um die beiden Carabinieri enger. Meinen beiden Angreifern wurde sichtlich mulmig zumute und der etwas dickliche Kollege griff sich ostentativ an seine Pistole.

Diese Geste gab den Ausschlag. Blitzschnell sprang mein Bikerfreund hoch und setzte den völlig überraschten adipösen Beamten mit einem Kick gegen seinen Kopf außer Gefecht. Bevor sein schlaffer Körper den Boden erreichte, wirbelte er herum und platzierte einen knallharten rechten Haken auf die Kinnspitze des völlig verblüfften Hageren. Lautlos sackte auch der zusammen und fiel neben seinen Kollegen.

Ohne sich weiter um sie zu kümmern, lief mein Ex-Mithäftling zu ihrem offen stehenden Wagen. Mit einem kräftigen Ruck riss er den Hörer ihrer Funkanlage aus seiner Verankerung und zog den Autoschlüssel ab. Inzwischen hatten seine Freunde die Bewusstlosen gefilzt. Die Beamten hatten zwei Handys dabei, die sie an sich nahmen. Unglücklicherweise für die beiden Bewusstlosen fanden sie auch noch Handschellen. Sie wälzten sie mit ein paar Fußtritten so auf ihre Seiten, dass sie Rücken an Rücken aneinander gefesselt werden konnten.

Schadenfroh beobachtete ich die Szene und stellte mir vor, wie mühsam es für sie sein würde, über die Felder neben der Autobahn zum nächsten Dorf zu laufen.

Mein Ex-Mithäftling kam auf mich zu und umarmte mich.

„So, und jetzt machen wir uns alle schnell vom Acker.“

„Danke“, erwiderte ich und gab ihm meine Visitenkarte. „Hier hast du meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn du in meiner Nähe bist. Ich schulde dir ein gutes Essen.“

„Du schuldest mir gar nichts. Es war uns das reine Vergnügen, dir zu helfen und diese Typen zu maßregeln.“

Zufrieden ging ich zurück zu meinem Porsche und stieg ein. Ich sah gerade noch, wie mein Freund den beiden am Boden Liegenden einen Kick in ihre Spaßbereiche versetzte. Anscheinend wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Vertretern der Justiz in die Eier zu treten. Mit einem satten Geräusch fiel meine Tür ins Schloss.

Ich startete und gab Gas. Der Bolide beschleunigte in ein paar Sekunden auf 100 km/h. Ich musste aber sofort wieder bremsen, weil ich die Mautstation von Brixen vor mir auftauchen sah. Das bedeutete, dass ich bis zum Brenner noch maximal eine halbe Stunde brauchen würde. Der Vorsprung sollte reichen, bevor die beiden gescheiterten uniformierten Wegelagerer den nächsten Ort erreichten und alle Grenzposten alarmieren konnten. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob sie sich nicht meine Autonummer notiert hatten.

Mir lief das Wasser in Strömen am Körper herunter, als ich nach einer aberwitzigen Kurvenfahrt, bei der ich alles aus dem Wagen herausholte, knapp 20 Minuten später am Brenner auf die Grenze nach Österreich zurollte.

Doch der italienische Zöllner winkte mich nur lässig durch und sein müder österreichischer Kollege hatte auch kein Interesse, mich zu kontrollieren. Ich schnaufte einmal tief ein. Dann gab ich wieder Vollgas.

Die nervigen Erlebnisse dieses Tages waren einer der Tropfen, die das Fass, das durch verschiedene Entwicklungen während der vergangenen Monate randvoll war, bei mir zum Überlaufen brachten. Endgültig war ich dazu bereit, meine Aktivitäten auf den Marktplätzen dieser Welt zu beenden und mich alleine auf einen Berg zurückzuziehen. Getreu dem Motto Sun Tzus „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft“ hatte ich erkannt, dass jede Konfrontation eine Energieverschwendung war, die mich unnötig schwächte. Weder durch Schläge mit dem Zen-Stab noch durch gute Ratschläge konnte ich den Weg eines Menschen abkürzen. Nur sie ein bisschen an die Hand zu nehmen und sie ein Stück ihres Weges zu begleiten war eventuell möglich, aber mir viel zu mühsam geworden. Dennoch sollte ich schon bald wieder damit konfrontiert werden und das war dann tatsächlich jenes allerletzte Quäntchen, dass mein geistiges Fass zum Überlaufen brachte.

Nach dem erfolglosen Versuch, zurückgezogen mit einer geliebten Frau in einem luxuriösen, exquisit und liebevoll gestalteten Ambiente in den Bergen zu leben, war ich wütend und frustriert zurück in mein altes Leben gekehrt. Wenn es mir unter solchen außergewöhnlichen Umständen, bei denen das materielle Äußere perfekt war und ich mit einer scheinbaren „Traumfrau“ zusammenlebte, nicht gelang, glücklich zu werden, stimmte irgendetwas nicht mit mir. Und schon steckte ich wieder bis zum Hals in Abhängigkeiten, die ich nie wieder erleben wollte. Ich saß auf meiner Terrasse und wusste nicht mehr, wie es weiter gehen sollte. Da fiel mir eine Person aus meiner Vergangenheit ein und ich beschloss, sie in mein Leben zurückzuholen: Einen drittklassigen Sänger und Musikproduzenten namens Jamie, der uns wegen seiner Zugehörigkeit zur Müchner „Schicki-Micky-Szene“ in unserer alten Firma immer wieder Kontakte zu sehr vermögenden Anlegern vermittelt und dadurch einen wesentlichen Anteil an dem Erfolg unseres Investmenthauses gehabt hatte.

Ich stellte mir vor, dass er als Kundenbetreuer mitarbeiten und mir alle Kundenkontakte abnehmen könnte. Ich würde ihm ein gutes Gehalt anbieten und war sicher, dass er es annehmen würde, denn seine Musikerkarriere lief nicht mehr besonders wie ich den Zeitungsberichten über ihn entnommen hatte. Also ließ ich meinen Trader bei Jamie anrufen. Ich wollte auch erfahren, wie er auf mich reagieren würde und wie er sich während meiner Haft entwickelt hatte. Und wie viele von unseren ehemaligen Kunden aus seinem Umfeld bereit waren, wieder mit mir Geschäfte zu machen.

Ich dachte, dass sie mir noch was schuldeten. Schließlich hatte ich ihnen geholfen, einen Großteil ihrer Gelder zurück zu erhalten, die sie bei uns investiert hatten. Nach meiner Haftentlassung hatte ich mich mit Angelo getroffen und ihm eine Kopie unseres Kooperationsvertrages mit dem Chicagoer Brokerhaus verschafft, der merkwürdigerweise in den Wirren nach unserer Flucht verschwunden war. Damit konnte er es im Namen aller noch nicht befriedigten Anleger verklagen. Gemäß dieses Vertrages waren sie unsere Partner und hafteten. Es kam zu einem Vergleich, nach dem die Chicagoer 90 % der bei uns investierten Gelder auszahlten. Ihnen machte das nichts aus. Sie gehörten zu einem der fünfzig größten Konzerne der USA, der den Betrag steuerlich absetzen konnte. Mit diesem Ergebnis im Rücken fand ich es spannend, wie Phoenix aus der Asche vor Jamie zu stehen.

Jamie, war sofort bereit, mich zu treffen. Wieder setzte ich mich in meinen Jaguar und fuhr zu ihm in seine neue Penthouse-Wohnung in Bogenhausen, die er sich während meiner Haft gekauft hatte. Vermutlich mit dem bei uns verdienten Geld. Ich war neugierig, wie er mich begrüßen würde.

„Warum hast du in den letzten Jahren nicht auf mich aufgepasst?“ schrie Jamie mich an, als ich seine Behausung betrat. Völlig verblüfft sah ich ihn an und war ein paar Sekunden sprachlos.

„Wie meinst du das? Was ist passiert?“ fragte ich ihn, nachdem ich meine Fassung wieder gewonnen hatte.

„Ich habe alles verloren. Mein gesamtes Vermögen. Meine Immobilien, mein Geld. Auch die Bude hier. Alles futsch.“

Dieser Auftakt hätte mich warnen sollen. Der Junge interessierte sich nicht im Geringsten dafür, wie es mir ergangen war. Es ging ihm ausschließlich um sich. Immer. Statt uns über meine Zeit im Knast und meinen Neustart zu unterhalten, waren wir sofort bei seinen aktuellen

Problemen. Wie sich herausstellte, hatte er auf Vermittlung seiner Bank für eine Möbelfirma in der ehemaligen DDR eine unbegrenzte persönliche Bürgschaft unterschrieben. Getreu dem hinterlistigen Slogan, mit denen Banken für ihre Kreditkarten werben: "Zahlen Sie mit Ihrem guten Namen!" Eine kaum glaubliche Dummheit. Oder war es etwa etwas Anderes?

Wieder übersah ich eine deutliche Warnung. In Wirklichkeit hatte Jamie durchaus die Leere und Hohlheit seiner Existenz begriffen. Er gehörte zu den Menschen, die nur dann anfingen, so etwas wie Leben in sich zu spüren, wenn es um Katastrophenmanagement oder irgendein Ereignis wie z.B. Bungee-Jumping ging, dass ihn Adrenalin produzieren ließ. Wenn alles im Lot war, langweilte er sich. Stille ließ ihn sofort unruhig werden. In sich hineinzuhorchen oder zu spüren war überhaupt nicht sein Ding. Er war der klassische Porschefahrer und Hubschrauberflieger. Das sind die Jungs, die es lieben, im Lärm einer dröhnenden Maschine durch bzw. über die Landschaft zu fliegen, deren Schönheit sie nicht im Geringsten interessiert. Ruhe und Harmonie machten ihn so nervös, dass er bewusst Katastrophen herbeizog, um wieder „aktiv“ sein zu können und sich bemitleiden zu lassen. Dass er sich auch mit Drogen immer wieder einen Kick versetze war nur logisch.

Als ich mich in seinem Penthouse umsah, bemerkte ich, dass er es mit seiner mir noch bestens bekannten Einrichtung aus seiner vorherigen Wohnung möbliert hatte. Das hätte mich ebenfalls warnen sollen. Bei ihm hatte sich nicht das Geringste verändert. Weder außen noch innen.

Mein sonst so gewitztes VERÄNDERTES ICH übersah das alarmrot leuchtende Paket dieses Getriebenen, weil mein weises WAHRES SELBST es so wollte. Es brauchte Jamie als Spiegel für mein sich gerade wieder aufmandelndes Ego, damit ich am Beispiel Jamies sah, wohin das führen könnte: nämlich unter anderem zu einem vollkommenen Kontrollverlust über sein Leben, der ihn zum Spielball anderer werden ließ.

Die Jungs von der Möbelfirma bedienten sich kräftig bei der Bank und reizten ihren durch Jamie abgesicherten Kreditrahmen voll aus. Dann gingen sie Pleite. Ihr offener Saldo betrug mehr als 2,5 Mio. DM, für die die Bank nun Jamie in Anspruch nahm. Ich wusste, dass er alles verlieren würde. Sein Einwand, die Bank hätte ihm das Geschäft empfohlen und müsse haften, würde nicht greifen.

Und ausgerechnet mit diesem völlig Zerrütteten sollte ich erneut zusammenarbeiten.

Das war der zweite Riesenfehler, den ich nach meiner Entlassung machte. Wie mit Maria holte ich mir ein Relikt aus meiner Vergangenheit und des kleinkarierten Bürgertums in mein Leben, das nicht mehr mit meiner Lust auf Freiheit und absoluter Unabhängigkeit in Einklang zu bringen war. Das Universum nimmt es dir übel, wenn du freiwillig eine Klasse wiederholst, die du schon mit Erfolg absolviert hast. Ich aber dachte in meiner Naivität, dass ich dieselben Fehler nicht zweimal machen würde und gegen verderbliche Einflüsse gefeit wäre.

Jamie war ein krankhafter Egomane, der nie einen Bezug zu seinem wahren Selbst gefunden hatte. Ein typischer Narzisst. Im Alltagsverständnis ist ein Narzisst ein Mensch, der sich sehr auf sich selbst bezieht und dabei andere vernachlässigt. Auf der spirituellen Ebene ist ein Narzisst ein Mensch, der den Kontakt zum Sein und zu sich selbst verloren hat. Dieser Mensch ist in seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur wie in einem Gefängnis eingesperrt. Das Gefängnis wird jedoch oft erst offensichtlich, wenn die Sehnsucht nach dem „Sinn des Lebens“, nach dem „Wesentlichen“ und nach dem „Glück“ nicht verstummen will. Ein Narzisst wie Jamie besaß nur den Popanz eines Egos und hat nicht den Hauch einer Ahnung von seinem WAHREN SELBST. Vollkommen unfähig, sich in andere Menschen oder Situationen einzufühlen oder sie begreifen zu können, schätzte er pausenlos Situationen und Menschen falsch ein. So bildete er sich tatsächlich ein, er würde mir eine zweite Chance geben. Er begriff nicht, dass es umgekehrt war. Ihm stand das Wasser bis zum Hals, nicht mir. Er klammerte sich an mich als seinen letzten Strohhalm. Um mich zu ködern, behauptete er, mir zu vertrauen. Was für ein großes Wort aus seinem Munde. Er hatte keine Ahnung von Urvertrauen in die Existenz, das völlige Furchtlosigkeit voraussetzt.

Wie bei Myamoto Musashi, dem zu seiner Zeit unbesiegbaren Samurai, der dem japanischen Kaiser das Geheimnis seiner Schwertkunst offenbarte, indem er seinen neben ihm stehenden Schüler aufforderte, sofort Selbstmord zu begehen. Ohne eine Sekunde zu zögern, zog der Schüler sein Schwert, um es sich in den Leib zu rammen. In letzter Sekunde hielt Musashi seine Klinge dazwischen.

„Das Geheimnis meiner Schwertkunst ist, dass wir aus Stein sind. Wir kennen keine Angst. Nicht einmal vor dem Tod, so dass wir in jeder Sekunde bereit sind, zu sterben“, erklärte er lächelnd dem verblüfften Tenno.

Der angstbesetzte Jamie war meilenweit von diesem Zustand der Furchtlosigkeit entfernt. Vertrauen bedeutete für ihn bestenfalls eine kurzzeitige Verdrängung des Misstrauens. In Wirklichkeit war es nichts als dieses bedingte Vertrauen des typischen Feiglings. Ich vertraue dir, also verhalte dich gefälligst so, wie ich es von dir erwarte. Nichts von dem existenziellen Urvertrauen des Musashi und seines Schülers.

Der von Angst zerfressene Musikant erwartete Verlässlichkeit und an bürgerliche Moral angepasstes Verhalten. Ich aber hatte gerade gelernt, authentisch und wild zu sein. Wie Wasser, das sich jedem Gefäß anpasst, ohne seine Identität zu verlieren. Das bedeutete auch, das Recht zu haben, meine Meinungen und Ansichten ebenso ständig ändern zu können wie meine Wohnsitze und Beziehungen. Immer im Fluss und beweglich zu sein. Ein tanzender Gott, wie ihn sich Nietzsche vorstellt.

Jamie aber wollte erneut den erstarrten englischen Gentleman, den er in Erinnerung hatte. Der nie ausfällig wird und stets perfekt gekleidet kluge Sachen von sich gibt. Aber ich war nicht bereit, noch einmal in dieses Kostüm zu steigen und seine oder irgendeines anderen Erwartungen zu erfüllen. Keine starren Ansichten und keine Programme mehr. Keine Maßanzüge, keine goldenen Uhren und sonstigen Luxus. Weg mit dem geistigen und materiellen Tand. Zurück zu den Notwendigkeiten.

„Look for the bare (bear) necessities, the simple bare necessities“, wie es in dem wunderbaren englischen Wortspiel in dem Song des Bären Baloo aus dem Dschungelbuch heißt.

Jamie entpuppte sich als eine ständige Energieabsaugstation. Jede Begegnung mit ihm kostete mich viel Kraft. Wie bei den meisten Künstlern ging es bei Gesprächen nur um ihn. Stundenlang schilderte er mir seine scheinbar so aussichtslose Lebenssituation. Am Rande des Ruins stehend, unglücklich in eine Berliner Göre verliebt, sah er keinen Sinn mehr, zu leben. Meine auf dem tantrischen Buddhismus beruhenden Ratschläge hörte er sich zwar an, konnte aber nicht das Geringste damit anfangen.

Eines Nachts rief er mich um 3 Uhr morgens an.

„Ollen, ich fahre gerade in meinem Porsche von Berlin nach München. Judy, - das war die Göre - will nichts von mir wissen. Ich habe es ein letztes Mal versucht. Ich rase jetzt gegen den nächsten Brückenpfeiler. Dann ist es vorbei.“

Blöderweise ließ ich mich auf sein Spiel ein und redete ihm den sowieso nicht ernst gemeinten Selbstmord aus. Von da an rief er jeden Morgen Punkt neun Uhr an. Jedes Gespräch begann er mit den Worten: „Ollen, mir geht´s so schlecht.“ Ich ging nebenbei ins Bad, rasierte mich, putzte mir die Zähne. Und lauschte mit halbem Ohr seinem Klagen und Jammern. Er legte erst auf, wenn er aus dem Haus musste. Schlief ich einmal länger, brachte Maria mir das Telefon an mein Bett.

„Hier, deine andere Ehefrau.“

Erst heute verstehe ich, dass ich den klassischen Entwicklungsprozess des Lebens eines Adepten durchmachte: erst das Ausleben der verantwortungslosen sexuellen Emotionen, dann die Entwicklung und falsche Kristallisierung eines Egos, anschließend die Zertrümmerung desselben und die ersten Schritte zur Selbstfindung auf dem Weg vom Narren zum Magier.

Jetzt kam in Gestalt Jamies die große Herausforderung: die Vernichtung eines Kyilkhors. In Wirklichkeit ist die ganze Welt mit all ihrer Finsternis nichts weiter als ein unbewusst aufgebauter Kyilkhor, der unsere Gedanken und Handlungen bestimmt. In der Magie ist das eine selbst geschaffene Tonfigur, die zum Leben erweckt und immer stärker wird, je mehr ihr Schöpfer sie fürchtet oder an sie denkt. Der Dämon beginnt zu leben, macht sich selbstständig und zwingt seinen Erschaffer zum Sklavendasein.

In der sogenannten Realität sah das etwas anders aus: Jamie schlich sich mit seinem steten Gejammer über seine angeblich verpfuschte Existenz immer mehr in meine Gedanken. Bald hatte ich den Schlüssel verloren, mit dem ich sie und damit ihn stilllegen konnte. Wie bei einem magisch erzeugten Kyilkhor wurde ich ihm untertan.

Meine immer noch vorhandene Sucht nach einem Leben auf der Überholspur hatten Bilder und Träume erzeugt, die sich manifestierten. Diese Schwäche und meine Unwissenheit hatten Jamie, den Phantom-Kyilkhor herbeigerufen. Wie ein echter saugte er das Rohmaterial meiner wertvollsten unbehüteten Schöpfungskräfte auf und verwendete sie als Waffe gegen den Menschen, der in die Falle geriet. Und das war ich.


Limit up - Sieben Jahre schwerelos

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