Читать книгу Sonnig mit heiteren Abschnitten - V. A. Swamp - Страница 5
Gängelei und Brutalität
ОглавлениеMir geht es nicht schlecht, ich kann SCHÖNSTE HÄNDE ausgiebig betrachten. Sie sieht toll aus. Sie ist ganz in Blau gekleidet. Das ist ein schöner Kontrast zu ihren blonden Haaren. Ich frage mich, wie sie mit ihrer natürlichen Haarfarbe aussehen mag. Ich bevorzuge brünette oder dunkelblonde Mädchen. Ich mag den Geruch von naturblonden Mädchen nicht. Das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe, war naturblond. Sie roch und schmeckte nach Baby, ein wenig schleimig und säuerlich.
Strawinsky fragt mich, ob ich einen Lieblingswitz habe. Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Ich überlege und komme zu dem Schluss, dass ein unanständiger Witz vielleicht nicht angebracht ist. Also erzähle ich ihm den jüdischen Witz mit dem Butterbrot. Das fällt runter und landet nicht auf der Butterseite. Das löst große Verwunderung und Verwirrung aus. Auch die philosophischen Betrachtungen des Rabbis können die Sache nicht aufklären. Erst der Ober-Rabbi findet die Lösung: Das Brot wurde auf der falschen Seite geschmiert. Ich weiß, das ist kein Brüller, aber Strawinsky lächelt. Wahrscheinlich aus Höflichkeit. Ich habe den Witz einmal im Kreis von ein paar Mädchen erzählt. Keine von denen hat gelacht. Nicht einmal gelächelt. Ich lege mich auf die Liege.
Ich würde gerne etwas mehr über Ihren Vater erfahren.
Das war genau die Frage, die ich hatte vermeiden wollen. Und wo soll ich anfangen?
Mein Vater war ein Arschloch.
Können Sie das erläutern?
Wie viel Zeit haben wir?
Fangen Sie bitte an.
Ich weiß wenig von dem, warum mein Vater so war, wie er war. Seine Eltern waren einfache Leute. Die Mutter kam vom Bauernhof irgendwo in Westfalen. Da war es Usus, dass die Mädchen eine anständige Mitgift bekamen, wenn sie den Hof verließen. Davon konnte mein Großvater ein Mietshaus bauen, in dem sie dann alle lebten. Dann bekamen sie diesen Wunderknaben, meinen Vater. Meine Großeltern hatten eine einfache Schulbildung. Ich glaube über die Volksschule sind die nicht hinausgekommen. Ihr Sohn aber erhielt eine Empfehlung fürs Gymnasium. Und dann machte der auch noch das beste Abitur seines Jahrgangs. Auch entpuppte er sich als herausragender Leichtathlet. Auf der Universität gehörte er ebenfalls zu den Besten und seine Professoren sahen in ihm den kommenden führenden Sportwissenschaftler. Dass er damals schon nervenkrank war, passte nicht zum Bild dieses Vorzeigemenschen. Deshalb wurden seine nervliche Probleme einfach unter den Teppich gekehrt und allen anderen, auch meiner Mutter, verheimlicht.
Nervliche Probleme?
Ach zum Teufel, ich weiß nicht, welche Krankheit das war. Am Anfang war das wohl nur ein leichter Tremolo, oder die Unfähigkeit, an manchen Tagen seine Hände koordiniert einzusetzen. Das versuchte mein Vater immer, mit festem Willen zu überspielen. Erst die Kriegszeit und vor allem die Gefangenschaft ließen wahrscheinlich die Krankheit voll aufbrechen.
Haben Sie die nervlichen Probleme beobachtet?
Ich habe mich schon gewundert, dass ich nie sah, dass er auch nur eine einzige Zeile schrieb. Alles Schriftliche musste meine Mutter erledigen. Seine Unterschrift kritzelte er wie ein Analphabet. Deswegen konnte er auch seine Doktorarbeit nicht zu Ende zu bringen. Auch ans Klavier setzte er sich nie, obwohl es hieß, dass er vor dem Krieg ein exzellenter Klavierspieler gewesen sei. Selbst telefonieren fiel ihm schwer. Er legte den Hörer zur Seite, nahm einen Stift und betätigte damit ungelenk die Wählscheibe. Dann führte er den Hörer unter großen Anstrengungen ans Ohr. Als ich diese Dinge beobachtete, habe ich mir weiter nichts dabei gedacht. Ich bin sowieso meinem Vater, wann immer möglich, aus dem Weg gegangen.
Konnte Ihr Vater arbeiten?
Selbstbestimmt schon. Er besaß einen starken Willen und große Überzeugungskraft. Er sah immer sehr gepflegt aus und sprach ein exzellentes Deutsch. Er war damit den meisten Männern deutlich überlegen. Er konnte zwar die Angebote seiner Studien- und Korporationsfreunde, die alle nach dem Krieg Karriere im Schuldienst machten, nicht annehmen. Aber sein enormes Wissen befähigte ihn, Nachhilfe in Schule und Erwachsenenbildung zu geben. Sein Arbeitszimmer und teilweise unser Esszimmer waren jeden Tag proppenvoll mit Schülern, Studenten und anderen Erwachsenen, denen er half, Lücken zu stopfen. Ich glaube, das machte er wirklich gut. Wir wären ja auch sonst verhungert. Meine Mutter hat nach dem Krieg nicht mehr gearbeitet.
Wie lange hat er sein Arbeitsleben durchgehalten?
Exakt bis zu seinem 65. Lebensjahr. Dann bekam er Rente und zeitgleich brachen schwere Depressionen auf. Er hatte bis dahin immer Stärke propagiert. Als er erfuhr, dass sich sowohl der zweite Mann meiner ersten Ehefrau, als auch der Mann meiner dritten Ehefrau umgebracht hatten, zeigte er dafür keinerlei Verständnis. Selbstmörder waren für ihn schwache, lebensunfähige Gestalten. Das passte wahrscheinlich nur so in sein nationalsozialistisches Weltbild von den starken, lebenstüchtigen Ariern. Auf einmal war das alles vergessen, und er versuchte sich mehrmals selbst das Leben zu nehmen. Ich habe das einmal beobachtet, als er an den blanken Drähten einer abmontierten Deckenleuchte in der Waschküche rumfummelte. Er war handwerklich eine hundertprozentige Niete und auch in seinen Selbstmordversuchen zeigte sich sein gesamtes Ungeschick. Ich hatte jedenfalls Zweifel, ob man das wirklich ernst nehmen konnte. Er kam dann in ärztliche Behandlung und ich habe ihn kurze Zeit vor seinem Tode noch einmal in den Heilstädten; in denen er letztlich verstarb, besucht. Aus ihm war eine jämmerliche Gestalt geworden, die nichts mehr mit dem hagestolzen, herrischen Mann, der einmal mein Vater war, zu tun hatte.
Ich mache eine Pause, um Strawinsky Gelegenheit für eine Frage zu geben. Aber er schweigt. Wahrscheinlich ist er eingeschlafen. Ist ja auch keine spannende Geschichte, die ich ihm da erzähle. Nach dem Tod meines Vaters begann das große Reinemachen. Meine Mutter und meine Großmutter entsorgten mithilfe meines Bruders die wissenschaftlichen Unterlagen meines Vaters. Es waren Hunderte von Büchern und Tausende von Zeitschriften aus der Sportwissenschaft. Ich war zu dieser Zeit schon zwei Jahrzehnte in Berlin. Mein Bruder fand im Nachlass meines Vaters die von ihm vor dem Krieg begonnene Doktorarbeit. Er übergab mir die verstaubte, vergammelte Ledermappe und ich hob sie auf, bis ich selbst in Rente ging. Als ich die Mappe dann öffnete, sah ich, dass irgendwer nach dem Krieg seine Manuskripte sauber abgetippt hatte. Die Arbeit war gut lesbar. Er hatte sie immer wie einen besonderen Schatz gehütet. Ich weiß, dass er mehrfach von Wissenschaftlern um Einsicht in die Arbeit gebeten wurde. Er hat sich stets geweigert. Ich weiß nicht, ob er meinem Handeln zugestimmt hätte, wahrscheinlich eher nicht. Ich habe mir die Arbeit vorgenommen, diese überarbeitet, fehlende Texte ergänzt und posthum unter seinem Namen veröffentlicht. Damit ist mein Vater dann doch noch in die Sportgeschichte eingegangen. Das muss ich Strawinsky aber nicht unbedingt erzählen.
Warum bezeichnen Sie Ihren Vater als Arschloch?
Weil er von Kindererziehung nichts verstand und Liebe sowie Zuneigung für ihn Fremdworte waren. Weil er mir immer Angst einflößte. Weil er sich immer selbst zum Maßstab aller Dinge erhob und allen anderen, vor allem mir, die Luft zum Leben nahm.
Die Luft zum Leben?
Ich bin in einer freudlosen Familie aufgewachsen. Gefeiert wurde so gut wie nie. Feiertage wie Weihnachten waren immer eine Katastrophe, weil der Krach zwischen meinen Eltern meist schon einige Tage vorher begonnen hatte. Die Anlässe waren immer nichtig. Streit über die Auswahl der Geschenke zum Beispiel. Streit über die Art und Größe des Christbaumes, die Farbe der Tischdecke oder, wie meine Mutter zu sagen pflegte, über die Fliege an der Wand. Jeder Anlass war willkommen, um das Fest in einen Ort handfesten Familienkrachs zu verwandeln. Ich wäre gestorben, hätte ich nicht meine Großmutter gehabt.
Ihre Großmutter?
Meine Großmutter konnte meinen Vater nicht leiden, und da es ihr Haus war, in dem wir wohnten, konnte sie ihm gegenüber auch ihre Giftzähne ausfahren. Das hat sie oft auf subtile Weise gemacht.
Was tat sie?
Strawinsky klingt auf einmal sehr lebendig.
Indem sie mir zum Beispiel Weihnachtswünsche erfüllte, die mein Vater als unnötig, schädlich oder eben als reine Geldverschwendung betrachtete. Indem sie zum Beispiel mir später in ihren Räumen das Rauchen erlaubte, was mein Vater mir unter Androhung schwerster Strafen immer verboten hatte. Meine Großmutter war mein Refugium und ich verbrachte viele Nachmittage und Abende in ihrem völlig überheizten Wohnzimmer. Ich habe nicht oft in meinem Leben geweint, aber als sie starb, war das für mich einen Moment lang das Ende der Welt.
Viele Menschen haben ein Problem mit Weihnachten. Vielleicht wollte Ihr Vater lieber die Geburtstage feiern.
Ich muss mich zusammenreißen. Am liebsten würde ich laut losbrüllen, vor Lachen.
Mein Vater mochte weder Weihnachten noch Geburtstage. Die Geburtstage meiner Eltern wurden nie gefeiert, die von uns Kindern nur marginal. Deshalb war es für mich auch keine Überraschung, dass ich zu meinem zehnten Geburtstag außer dem obligatorischen Kuchen und ein paar Süßigkeiten nichts bekam. Das war für mich ohnehin angenehm, da musste ich mich nicht bedanken. Mein Vater war an diesem Tag wie üblich spät aufgestanden. 11 Uhr morgens war so seine normale Zeit. Danach hielt er sich mindestens zwei Stunden im Bad auf. Ich wusste nie den Grund für diesen ungewöhnlichen Tagesanfang, es war mir auch egal. Erst als Erwachsener erfuhr ich von meiner Mutter, dass das auch mit seiner Krankheit und mit seinen Händen zu tun hatte. Er konnte sie nur unter großen Mühen zur Pflege seines Körpers einsetzen.
Nachdem er an jenem Tag mit dem Bad fertig war, wies er mich an, mir ein Einkaufsnetz zu schnappen und ihm zu folgen. Das fand ich ungewöhnlich. Ich war bis dahin nie mit meinem Vater einkaufen gegangen. Er kaufte auch selbst niemals Lebensmittel ein. Dafür hatte er meine Mutter und später dann auch mich. Mein Bruder verstand es schon von klein auf, sich aus allem Familiären rauszuhalten. Ich konnte mir zunächst keinen Reim auf das Ganze machen. Ich stellte aber meinem Vater grundsätzlich keine Fragen. Entweder er dozierte oder er belehrte mich. Präzise Antworten auf meine Fragen hätte ich ohnehin nicht bekommen. Wir marschierten jedenfalls in die Stadt und ich fragte mich, was ich in das Einkaufsnetz hinein packen würde. Dann fand ich mich plötzlich in einem Fahrradladen wieder. Das Fahrrad war bereits fertig montiert und bezahlt und wartete nur noch auf das Geburtstagskind. Das war das einzige Mal, wo mein Vater sich Mühe gab, mich zu meinem Geburtstag zu überraschen.
Dafür hassten Sie Ihren Vater?
Dafür sicher nicht. Aber für seinen Absolutheitsanspruch, den er ständig versuchte, bei mir durchzusetzen.
Absolutheitsanspruch?
Mein Vater legte stets großen Wert auf sein Äußeres. Aber jedwede Modetrends gingen an ihm spurlos vorbei, und er dachte auch nicht daran, diese bei uns Kindern zuzulassen. Er hatte, was Art und Farbe seiner Klamotten anging, ganz spezielle Kriterien, die allerdings niemand außer ihm kannte. Einzig sein Markenzeichen am Strand war relativ leicht zu entschlüsseln. Seine Badehose kannte nur eine Farbe, gelb. Er besaß mehrere davon, sodass er nicht Gefahr lief, einmal auf eine andere Farbe ausweichen zu müssen. Ansonsten zeichnete er sich dadurch aus, dass er grundsätzlich den Geschmack anderer Leute, also auch unseren und jedweden Zeitgeschmack, kritisierte und ablehnte. Er bestritt, dass überhaupt jemand außer ihm über Geschmack verfügte. Er hat auch niemals ein Geschenk behalten, sondern immer zeitnah umgetauscht. Meistens bekam er nicht das Geld zurück, sondern einen Gutschein. Ich glaube er hatte eine ganze Sammlung davon, weil es meistens vergaß, die Gutscheine einzulösen.
Ihr Vater bestimmte demnach, wie Sie sich anzuziehen hatten?
Als bereits unsere halbe Klasse Jeans trugen, war mir das nicht gestattet, weil nach Meinung meines Vaters Jeans kein geeignetes Beinkleid für mich waren, sondern ausschließlich irgendwelchen Proleten vorbehalten waren. Das war keine ihm ebenbürtige Klasse. Ich schaffte es natürlich, mir eine Jeans zu besorgen und diese im Keller in der Waschküche zu verstecken. Aber die Nutzung dieser Jeans war ganz schön kompliziert. Ich verließ zunächst die Wohnung im oberen Stockwerk des Hauses in meiner unmodischen Hose, ließ unten zum Schein die Haustüre laut zufallen und schlich mich anschließend in den Keller. Dort tauschte ich die Hosen und verließ konspirativ das Haus über die äußere Kellertreppe. Danach bestand immer noch die Gefahr, von meinem Vater bei diesem „Verbrechen“ entdeckt zu werden. Er hatte sein Arbeitszimmer, in dem er auch seinen Unterricht abhielt, zur Straße, und er liebte es im Stehen zu dozieren und dabei gelegentlich nach draußen auf die Straße zu schauen. Ich musste deshalb zunächst über den Zaun des Nachbargrundstückes steigen und mich dann seitlich an den Häuserwänden vorbeidrücken, bis ich sicheres Terrain erreichte. Bei diesen Kletterstücken waren natürlich Jeans von Vorteil.
Ihr Vater kannte demnach bei Ihrer Kleidung kein Pardon?
Nicht nur bei der Kleidung. Haare gehörten zum Beispiel auch dazu.
Ich fühle förmlich, wie Strawinsky sich Mühe gibt, meinen etwas wirr erscheinenden Ausführungen zu folgen. Aber er sagt nichts.
Mein Vater liebte es, seine Haare straff nach hinten und ziemlich gerade bis in den Nacken zu ziehen, sodass seine sich stetig vergrößernden Geheimratsecken und seine hohe Stirn gut sichtbar waren. Diese in seinen Augen akademische Frisur versuchte er auch bei mir durchzusetzen. Sie verstehen vielleicht, dass es unmöglich ist, den Haaren eines Teenagers beizubringen, dass sie sich exakt alle in die gleiche Richtung legen. Nachdem mein Vater gemerkt hatte, dass er nicht über genügend Spucke verfügte, um meine Haare in die gewünschte Richtung zu biegen, kaufte er Pomade. Ich erinnere mich gut. BRYLCREEM hieß das klebrige Zeug. Das roch zwar besser als seine Spucke, aber eklig war es trotzdem. Ich war immer froh, wenn Badetag war und ich das Zeug wieder aus den Haaren rauskriegte.
Irgendwann, ich glaube, ich war so um die vierzehn, hatte ich die Schnauze voll und war standhaft genug, um mich gegen diesen Brylcreem-Terror zu wehren. Seitdem habe ich mir nie mehr etwas ins Haar schmieren lassen. Ich benutze auch keinerlei Kämme oder Bürsten. Meine Haare lieben diese Freiheit. Deshalb sind die meisten bis heute bei mir geblieben.
Bitte erzählen Sie mir etwas Gutes über ihren Vater.
Oh, Strawinsky, das ist schwer, denke ich. Ist es das wirklich? Seine Liebe zur Sprache hat mich geprägt. Sie war mir eine große Hilfe bei meiner Entwicklung. Schlampigkeit war meinem Vater ohnehin ein Gräuel, aber bei der Sprache kannte er kein Pardon. So lernte ich schon früh den richtigen Gebrauch von Grammatik und Wortwahl. Fremdworte setzte mein Vater nur spärlich, dann aber immer zielgenau ein. Aber das interessiert Strawinsky bestimmt nicht.
Mein Vater war ein großer Liebhaber der Kunst des 20. Jahrhunderts. Ich glaube das einzige Mal, wo er sich gegenüber seinen Nazifreunden den Mund verbrannte war, als er denen seine Meinung über die Naziaktion ENTARTETE KUNST geigte. Er war damals nach München gereist und kehrte empört über dieses Fanal faschistischer Dummheit zurück. Eines Tages zeigte er mir den Katalog zu der Ausstellung, sein Ärger war auch Jahrzehnte nach seinem Ausstellungsbesuch noch nicht verflogen.
Schon früh schleppte er mich in das Wuppertaler VON DER HEYDT-MUSEUM. Das ist für mich auch heute noch eines der schönsten Kunstmuseen der Welt. Natürlich finden sich in Berlin, Paris, London, New York und so weiter viel bedeutendere Sammlungen. Ich habe sie fast alle gesehen. Aber nirgendwo findet man so viel Übersichtlichkeit und pädagogisch sowie künstlerisch gestaltete Harmonie. Mein Vater zeigte mir die Meisterwerke des Impressionismus, des Expressionismus und der klassischen Moderne. Der Mann kam regelrecht ins Schwärmen, wenn er versuchte, mir Bildaufbau oder Farbwahl oder andere Details nahe zu bringen. Wenn mein Vater mir ein Bild erklärte oder mir etwas über den Künstler erzählte, war er ein anderer Mensch. Dann war er nicht der strenge Pädagoge, der von seinen Schülern Höchstleistungen verlangte, sondern ein sanfter Vermittler, der die Leistungen von Künstlern gar nicht hoch genug einschätzen konnte.
Ich muss daran denken, wie mein Vater mich als Zehnjährigen mit nach Düsseldorf zur Messe „ALLE SOLLEN BESSER LEBEN“ mitnahm. Das war, glaube ich, die erste große bedeutende Wirtschaftsmesse, die nach dem Krieg in Deutschland stattfand. Ich erinnere mich an den GLÄSERNEN MENSCHEN im Eingangsbereich. Da konnte ich zum ersten Mal in meinen Körper schauen. Das fand ich ungemein faszinierend.
Ihr Vater hatte demnach auch positive Seiten?
Warten Sie ab, ich erzähle Ihnen noch eine andere Geschichte. Mein Vater war der unpünktlichste Mensch, den ich mir vorstellen konnte. Er hat es zum Beispiel nie rechtzeitig zum Zug, mit dem wir jedes Jahr in die Ferien fuhren, geschafft. Meist kam er erst am nächsten Tag, manchmal auch Tage, einmal sogar zwei Wochen später. Seine Rentenmarken, die er eigentlich monatlich hätte kaufen müssen, kaufte er grundsätzlich en bloc erst am letzten Wochentag des Jahres und dann knapp vor Schalterschluss. Das geschah so jedes Jahr. Zu keiner Verabredung erschien er pünktlich. Ich weiß nicht, ob das etwas mit seiner Krankheit zu tun hatte. Es hat uns jedenfalls alle furchtbar genervt.
Als ich zwölf war, nahm mein Vater mich mit zu einer Messe in Essen. Es war der letzte Ausstellungstag und wir waren, wie üblich, viel zu spät mit dem Bus gestartet. Als wir endlich die Ausstellungshallen erreichten, hatten wir gerade noch anderthalb Stunden für den Messebesuch. Das sparte meinem Vater die Eintrittskosten, und immer, wenn er etwas sparen konnte, freute ihn das unbändig. Wir hetzten durch die Hallen wie die Blöden. Etwa eine halbe Stunde nach Ausstellungsschluss wurden wir per Lautsprecher letztmalig aufgefordert, die Messe zu verlassen. Mein Vater brachte mich zu einem der Ausgänge, befahl mir zu warten und versprach gleich wiederzukommen. Er wollte sich unbedingt noch etwas anschauen. Ich weiß nicht, was es war, aber es muss etwas sehr Bedeutendes gewesen sein.
Ich stand mir die Beine in den Bauch. Ich sah die Aussteller und ihre Gehilfen Exponate raus schleppen, es wurde dunkel. Wer nicht kam, war mein Vater. Ich wusste zwar meine Wohnadresse, hatte aber keinen Pfennig in der Tasche, weil mein Vater mich stets finanziell kurz hielt. Nach etwa zwei Stunden kam eine Frau vom Roten Kreuz und nahm mich mit in das Rote Kreuz Zelt, welches noch nicht abgebaut war. Ich hoffte, irgendwie nach Hause zu kommen. Kurz vor Mitternacht kam mein Vater. Er bedankte sich bei den „Rote Kreuz Leuten“ ohne diesen oder mir eine Erklärung für sein Verhalten anzubieten und wir fuhren mit dem letzten Bus nach Hause.
Meine Mutter war in heller Aufregung. Wenn wir damals ein Telefon gehabt hätten, sie hätte mit Sicherheit die Polizei verständigt. Aber mein Vater schwieg. Er glaubte immer, meiner Mutter keinerlei Rechenschaft schuldig zu sein. Er hat übrigens meines Wissens nie seine Frau oder meinen Bruder in Museen oder zu anderen Ausstellungen mitgenommen. Ich weiß nicht, warum ich es war, der unter seiner ständigen Beobachtung stand und den er meinte, besonders fördern zu müssen.
Ich bin ziemlich müde, aber eine Geschichte fällt mir noch ein.
Ich möchte Ihnen noch eine Geschichte erzählen, die mir gerade einfällt. Mein Vater hatte mich zu einem Spaziergang mitgenommen, um mit einem befreundeten Sportwissenschaftler irgendein Problem zu diskutieren. Ich wusste nicht, über was die beiden redeten, es war mir auch egal und ich trottete lustlos nebenher. Dann stockte das Gespräch der beiden. Mein Vater suchte krampfhaft nach dem Namen eines Wissenschaftlers, über den er sprechen wollte. Ich spuckte den Namen aus. Beiläufig und ohne nachzudenken. Ich hatte den Namen vorher noch nie bewusst gehört oder gelesen. Ich weiß nicht, wie ich in diesem Moment darauf kam. Mein Vater war ganz aus dem Häuschen. Er schwadronierte, dass sein Sohn eben sein Sohn sei und sich jetzt schon für seine Themen interessiere. Er glaubte tatsächlich, dass ich sein Medium sei. Wir hatten schon eine sehr merkwürdige Beziehung.
Ich fühle mich sehr schlapp und kraftlos. Wahrscheinlich liegt das an Strawinskys Liege oder an seinen Fragen …