Читать книгу Sonnig mit heiteren Abschnitten - V. A. Swamp - Страница 7
Wärme, Zärtlichkeit und erste Leidenschaft
ОглавлениеWo ist SCHÖNSTE HÄNDE? Ich würde mich gerne an ihren Beinen erfreuen, falls sie einen Rock tragen würde. Strawinsky kommt gleich zur Sache.
Waren Sie ein guter Schüler?
Du kannst Witze machen, Strawinsky, denke ich, aber ich verkneife mir jede unpassende Bemerkung.
Die Volksschule durchlief ich ohne besondere Vorkommnisse. Das änderte sich dann auf dem Gymnasium. Mein Vater steckte mich in ein altsprachliches Gymnasium. Ich glaube, er besuchte auch so eine antiquierte Schule. Mit Latein konnte ich mich noch anfreunden, weil ich Schwammborns Fünfminutenwalzer unbeschadet überleben wollte.
Schwammborns Fünfminutenwalzer?
Schwammborn war unser Lateinlehrer. In meiner Erinnerung war er ein großer, vierschrötiger Mann. Er versuchte, trotz seines bulligen Körpers, sich immer leichtfüßig und tänzelnd durch das Klassenzimmer zu bewegen. Das fanden wir alle sehr komisch, aber in seiner Gegenwart trauten wir uns nie, darüber unsere Witze zu machen. Man erzählte sich, dass er nach dem Krieg zunächst als Boxer gearbeitet hatte. Dann spülte ihn die akute Lehrernot in den Schuldienst. Wir mussten damals noch samstags in die Schule gehen. In der letzten Stunde hatten wir Schwammborn. Die meisten von uns hatten sich gedanklich schon ins Wochenende geflüchtet. Das war Schwammborn ein Dorn im Auge. Deshalb praktizierte er seinen Fünfminutenwalzer. Er suchte sich aus unseren Reihen einen Delinquenten aus und der musste sich in militärischer Haltung neben sein Pult stellen. Dann begann der Walzer. Schwammborn schaute auf seine Armbanduhr. Jetzt galt es, die nächsten fünf Minuten zu überstehen. Er rief Vokabeln auf, wahllos in Deutsch oder Latein, und wir mussten ihm das entsprechende Pendent laut und deutlich entgegen rufen. Schwammborn machte Notizen. Versagte der Prüfling nach seiner Meinung zu oft, tänzelte ihm Schwammborn entgegen. Half die nahende Gefahr immer noch nicht dem Gedächtnis des Prüflings auf die Sprünge, nahm Schwammborn das Ohr des Delinquenten in seine fleischigen Finger und drehte dies langsam im Uhrzeigersinn. Es gelang ihm meines Wissens nie, ein Ohr abzudrehen oder einzureißen. Aber der Schmerz genügte auch so, um uns davon zu überzeugen, bei dem Vokabelstudium nicht allzu nachlässig zu sein.
Ich hasste Schwammborn, aber ich muss zugeben, dass meine Lateinkenntnisse aus Schwammborns Zeit bis heute gehalten haben.
In der Untertertia kriegten wir zu meinem Unglück auch noch Griechisch. Wieder bei Schwammborn. Ich sah nicht ein, dass ich zunächst ein mir völlig unbekanntes Alphabet lernen musste, um mich dann mit einer nutzlosen Sprache zu beschäftigen. In der zweiten Hälfte des Schuljahres war klar, dass meine Versetzung wegen unzureichender Leistungen in Griechisch, aber auch in Chemie und Physik ernstlich in Gefahr war. Mein Vater rastete aus aufgrund dieser Schwächen. Hinzu kam dann noch mein aufsässiges Verhalten in der Schule.
Haben Sie ihm das erzählt?
Natürlich nicht. Ich sprach zuhause nie über die Schule und das trieb meinen Vater zur Weißglut. Er hat sich aber in der Untertertia gewundert, dass wir so wenig Arbeiten schrieben. Ich habe ihm die schlechten Noten nicht mehr gezeigt. Das ging nicht lange gut. Einige Lehrer waren in der gleichen Studentenverbindung wie mein Vater. Die alten Herren trafen sich einmal vierteljährlich. Nach diesem Treffen wurde es meist ungemütlich für mich. Mein Vater zerrte mich nachts aus dem Bett und brüllte seinen Ärger raus, dass die Wände wackelten. Da haben sich die Nachbarn beschwert und von da an nahm mich mein Vater bei solchen Ereignissen mit in den Keller in die Waschküche. Da konnte er dann ungehört brüllen und prügeln. Ich war immer ziemlich verstockt und reagierte äußerlich nicht. Innerlich sah das natürlich anders aus. Aber das bemerkte mein Vater nicht. Deshalb schlug er mir mehrmals kräftig ins Gesicht, um eine Reaktion bei mir hervorzurufen. Je mehr er mich schlug, umso verstockter wurde ich.
Was sagte Ihre Mutter dazu?
Nichts. Zum einen hatte sie Angst vor ihrem gewalttätigen Mann. Zum anderen hatte sie auch kein besseres Rezept, um mich auf Linie zu bringen. Wahrscheinlich dachte sie wie mein Vater, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.
Waren Sie ein grober Klotz?
Nein, innerlich war ich weich und empfindsam. Aber von meinem Vater hatte ich gelernt, meine Gefühle zu verbergen. Ich wollte nicht, dass er mich schwach sah.
Wie ging es weiter?
Mein Vater löste das Problem, indem er mich auf eine andere Schule schickte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, mich die Klasse wiederholen zu lassen. Für meinen Vater kam ich als Sitzenbleiber nicht infrage. Eine solche Schande wollte er nicht ertragen. Nach dem altsprachlichen schickte er mich auf ein naturwissenschaftliches Gymnasium. Da war ich natürlich mit meinen Lateinkenntnissen König, aber nun hatte ich in den naturwissenschaftlichen Fächern beträchtliche Lücken. Im nächsten Schuljahr drohte dann wieder ein Sitzenbleiben. Das veranlasste meinen Vater erneut, meine Schule zu wechseln. Das war nicht mein letzter Schulwechsel. Bis zur zwölften Klasse habe ich noch zweimal Gelegenheit bekommen, mich auf anderen Gymnasien zu bewähren. Jedes Mal, um drohendem Sitzenbleiben zu entgehen. Dann hatte ich die Schnauze voll.
Sie haben die Schule ohne Abschluss verlassen?
Nun die Mittlere Reife hatte ich so nebenbei erreicht, aber das Abitur habe ich nicht gemacht. Das ist richtig.
Für was haben Sie sich anstelle der Schule interessiert?
Mit fünfzehn ging das mit den Mädchen los. Eigentlich schon früher, wenn ich das recht überlege. Mit dreizehn gehörten Rummelbesuche zu meiner liebsten Freizeitbeschäftigung. Besonders die Abenteuer in der Raupe.
In der Raupe?
Strawinsky klingt neugierig.
Das war für knapp drei Jahre für mich der schönste Platz auf der Erde. Die Raupenbahn ist eine Berg- und Tal-Bahn, auf der ich Stunden verbrachte. Zum einen spielten sie dort die tollste Musik in jener Zeit. Die hämmerten sie uns aus Monsterlautsprechern in Mark und Bein. Wir hatten zuhause außer einem Klavier, das aber nur zu Weihnachten von meiner Mutter dazu benutzt wurde, „Oh Tannenbaum“ und ähnliches Zeugs zu klimpern, keine Musik. Wir besaßen weder ein Radio noch einen Plattenspieler. Na gut, jetzt fällt es mir ein. Wir hatten doch einen Plattenspieler. So einen schwarzen Kasten mit Kurbel, auf dem wir 78er Schellackplatten hätten spielen können. Allerdings besaßen wir kaum 78er Platten.
Ihre Musik hörten Sie demnach auf dem Rummel?
Genau, die Klänge habe ich noch heute im Ohr CINDY, OH CINDY, DEIN HERZ MUSS TRAURIG SEIN oder ROCK AROUND THE CLOCK und so ein Zeug. Die Raupe selbst verfügte über zwei Besonderheiten. Die eine war, dass sie ein Verdeck besaß, welches sich während der Fahrt über den Kabinen schloss. Dann saß man im Dunkeln in der Kabine. Die zweite Besonderheit war, dass eine Menge Mädchen mit der Raupe fuhren. Die liebten wahrscheinlich dieses Berg- und Talfahren bei hoher Geschwindigkeit wegen des schönen Kribbelns im Bauch. Außerdem wollten die Mädchen auf dem Rummel Jungs treffen. Ich habe mir zunächst das Ganze genau angeschaut und dann wusste ich, wie es funktioniert. Ich wartete, bis sich die Raupe in Bewegung gesetzt hatte. Sie fuhr immer langsam an und steigerte dann ihre Geschwindigkeit. Ich hatte schon vorher ausgemacht, in welchem Wagen das Mädchen meiner Wahl saß. Ich sprang dann blitzschnell zu dem Mädchen in den Wagen, und als sich das Verdeck geschlossen hatte, ging es los.
Strawinsky unterbricht mich.
Was ging los?
Na, die Knutscherei und Fummelei, solange das Verdeck geschlossen war.
Kannten Sie die Mädchen?
Nein, das war ja gerade der Reiz des Ganzen. Man konnte verschiedene Geschmacksrichtungen und Körbchengrößen ausprobieren, ganz ohne Risiko. Das war wie Weinprobe ohne Wein. Und glückstrunken war man hinterher auch, ganz ohne Alkohol. Das war eine sehr schöne Erfahrung.
Als Dreizehnjähriger?
Ich sagte mit dreizehn ging das los, ab vierzehn war ich dann ein erfahrener Raupenfahrer und kannte alle Tricks, um die besten Mädchen zu bekommen. Als ich dann fünfzehn wurde, ließ mein Interesse langsam nach. Da bin ich dann auch nicht mehr so gern auf den Rummel gegangen.
Wo haben sie dann nach Mädchen gesucht?
Meine Mutter fand, dass es Zeit war, Tanzen zu lernen. Sie schickte mich in eine Tanzschule. Das fand ich öde, weil ich mir von den Mädchen mehr versprochen hatte. Die sahen damals schrecklich aus mit ihren hochtoupierten Betonfrisuren und ihren Petticoats. Ich habe das aber durchgezogen. Nach dem Abschlussball hat mich die Tanzlehrerin gefragt, ob ich nicht anschließend noch den nächsten Kurs belegen wolle. In dem Kurs hatten sie einen gewaltigen Mädchenüberschuss. Da das mich nichts kostete, bin ich nochmals in die Tanzstunde gegangen.. Das hat sich aber auch nicht gelohnt, die Mädchen waren noch hässlicher als im ersten Kurs. Immerhin habe ich leidlich tanzen gelernt, und wenn die Musik stimmt, mache ich das heute noch gerne mit Mona.
Waren Ihre Freunde mit von der Partie?
Nein, meine Freunde hatten zu jener Zeit keine Lust auf so was. Tanzschule war denen viel zu spießig. Die wollten Abenteuer. Die haben mich dann zu einer Fahrradtour nach Holland überredet. Wir waren damals erfahrene Radfahrer, in Wuppertal mit seinen vielen Hügeln lernt man das. Wir sind dann in zwei Tagen von Wuppertal zum Abschlussdeich geradelt. Das war eine gute Leistung.
Zum Abschlussdeich?
Ja, ich glaube das Ding ist über dreißig Kilometer lang und schützt Holland vorm Absaufen. Da oben haben wir dann eine Menge neugieriger Mädchen getroffen.
Worauf waren die denn neugierig?
Na auf uns deutsche Jungs. Wir waren doch die, vor denen ihre Eltern sie immer gewarnt hatten. Die Deutschen haben übel im Krieg in Holland gewütet, aber das interessierte die Mädchen nicht, sondern nur noch deren Eltern. Die Mädchen hatten die gleichen Interessen wie wir. Wir wollten alle zusammen Spaß haben. Wir haben dann mit den Holländerinnen kräftig geknutscht und gefummelt. Das war sehr schön.
Wie ging es dann weiter?
Nach einigen Tagen machten wir uns auf in Richtung Amsterdam. Das war der Höhepunkt der Reise. Eine solche Stadt hatten wir bis dahin nicht erlebt. Abends in der Jugendherberge erfuhren wir dann vom Kloveniersburgwal.
Kloveniersburgwal?
Wir fuhren am nächsten Tag dorthin. Es war die Nuttengegend der Stadt. Ich hatte schon von einem Puff gehört, aber in Wuppertal fand sowas nicht vor unseren Augen statt. Hier am Kloveniersburgwal räkelten sich die Damen in ihren Schaufenstern. Das war einer der aufregendsten Schaufensterbummel meines Lebens. Ich wollte nur gucken, da schrie jemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite: “Hier Leute! Hier ist eine, die macht es für fünf Gulden.” Das waren, soweit ich mich erinnere, etwa fünf bis sechs Mark. Für ein solch ungewöhnliches Erlebnis, von dem wir bislang nicht einmal zu träumen gewagt hatten, keinesfalls zu viel.
Es sammelten sich sieben oder acht Jungs vor dem besagten Haus und die Nutte, ein schon etwas älteres Modell, stand in aufreizender Position im Türrahmen. Nachdem sie kassiert hatte führte sie uns in einen halbdunklen Raum. Die spärliche Möblierung bestand aus einer Art Pritsche, einer kleinen Konsole und einem Waschbecken. Die Dame göttlicher Freuden schaute uns an und fragte in ulkigem Deutsch, wer von uns dran sei. Wir waren irritiert. Sollten wir wirklich auf sie drauf steigen, während alle anderen zuschauten? Zunächst fand sich kein Freiwilliger und die Nutte wurde ungeduldig. Dann hob einer ängstlich, wie in der Schule, seinen Zeigefinger.
Mit dem Freiwilligen absolvierte die Nutte einen farblosen Quickie. Ich glaube, dem Typ ist es schon, bevor er in ihr drin war, vor Aufregung gekommen. Gesehen habe ich jedenfalls nicht viel. Ich war halb gelähmt vor Angst, aber jetzt sah ich das Unvermeidliche auf mich zukommen. Aber diese kurze Vorstellung war alles, was uns für unsere fünf Gulden zustand. Schließlich hatten wir uns freiwillig für die Zuschauerrolle entschieden. Ich war danach froh, dass dieser Kelch an mir vorbeigegangen war.
War es Ihr erstes sexuelles Erlebnis?
Ich sagte ja schon, ich wuchs in einer spießigen sexfeindlichen Umgebung auf. Es gab ja damals noch kein Pornozeug, was man heute praktisch an jeder Ecke bekommt. Und wenn es das gab, dann hatte ich keinen Zugang dazu. Mir blieb nur ein Buch meines Vaters, in welchem Sportler im FKK-Bereich gezeigt wurden. Auch der Neckermann-Katalog war interessant, weil da Mädchen in Unterwäsche abgebildet waren. Wuppertal gab sich schon immer einen frommen Anstrich. Es ist auch heute noch die Stadt der Sekten. Über neunzig sollen es sein. Auf meinem Schulweg kam ich täglich an einer katholischen, zwei evangelischen und einer Menge von Sekten betriebenen Häusern und Einrichtungen vorbei. Das Einzige, was mich allerdings interessierte, war die katholische Kirche.
Sind Sie katholisch?
Nein, es ging mir ja auch gar nicht um das Gotteshaus, das war mir egal. Wichtig war der Aushangkasten rechts neben dem Kircheneingang. Dort veröffentlichte jede Woche der KATHOLISCHE FILMDIENST seine Rezensionen über neu in die Kinos gekommene Filme. Man musste diese Bewertungen nicht im Einzelnen studieren. Es genügte, die als „nicht empfehlenswert“ eingestuften Kinoprodukte zur Kenntnis zu nehmen. Dann wusste man, welche Filme man unter allen Umständen sehen musste. Viele dieser Filme waren damals nur für Erwachsene zugelassen. Da ich sehr groß war, gelang es mir oft, mit den entsprechenden Verkleidungen ins Kino zu kommen. Aber vielfach war die Enttäuschung groß. Selbst in einem aufs Schärfste indizierten Film wie DAS SCHWEIGEN von Ingmar Bergmann war nicht das zu sehen, was ich erhofft hatte.
Wie ging es weiter in Amsterdam?
Ich bin dann etwas verwirrt und eher ziellos durch die Stadt gelaufen und habe mir in einem Spielzeuggeschäft von meinem letzten Geld ein kleines Tonbandgerät gekauft. Ich hatte schon immer einen Faible für Spielereien dieser Art. Das Ding hat natürlich nichts getaugt. Als ich den Laden verließ, stand da dieses Mädchen. Das lächelte mir zu. Für einen Moment überlegte ich, ob sich eventuell das surreale Erlebnis vom Kloveniersburgwal nun an anderer Stelle wiederholen würde. Sie kam auf mich zu und fragte nach der Uhrzeit. Sie war ein nettes Ding mit einem breiten freundlichen Gesicht, Kulleraugen, langen dunkelbraunen, leicht gewellten Haaren, und einer schlanken Figur. Ich fasste mir ein Herz und lockte sie in ein nahe gelegenes Café. Sie sprach ganz passables Deutsch. Nach zwei Stunden und etlichen Colas wollte sie gehen. Da fiel mir ein, dass ich mein ganzes Geld in dem Spielzeugladen gelassen hatte.”
Das Mädchen musste die Zeche bezahlen?
Ja, allerdings erst, nachdem ich über den Hinterausgang geflüchtet war. Das tut mir noch heute ein bisschen Leid.”
Und dann?
Unsere Hollandreise endete sehr schnell. Auch meine Mitreisenden waren pleite. Wir erhielten den Tip, bei der Polizei den Diebstahl unseres Geldes zu melden. Dann würde man uns schon helfen. Man half, indem man uns und unsere Räder kurzerhand in ein Polizeifahrzeug verfrachtete und uns mit anderen Gestrandeten auf dem kürzesten Weg zur deutschen Grenze fuhr. Da standen wir dann mit leerem Magen und ohne Geld. Wir kamen weit nach Mitternacht todmüde und halbverhungert bei unseren Eltern an.
Haben Sie weitere Reisen mit Ihren Freunden gemacht?
Ich überlege einen Moment. Ich muss Strawinsky von Heinz erzählen.
Bei einem meiner Schulwechsel lernte ich Heinz kennen. Heinz hatte alles, was ich nicht hatte. Er war ein guter Schüler, er konnte exzellent Klavier spielen, er besaß ein Leichtkraftrad der Marke KREIDLER FLORETT, und er hatte die Taschen voller Geld. Ich hatte nichts von alledem außer vielen flotten Sprüchen und einem ganz leidlichen Aussehen. Da konnte Heinz wiederum nicht mithalten. Da bei Mädchen Hallodris wie ich gemeinhin gut ankommen, waren wir das ideale Paar. Ich spitzte die Mädchen an und Heinz bezahlte die Zeche. Nach der Schule steckten Heinz und ich meist zusammen und dann entdeckten wir unsere Liebe zum traditionellen Jazz. Insbesondere die europäische Variante von Chris Barber, Papa Bue, Ken Colyer, Acker Bilk, Dutch Swing College Band und so weiter begeisterte uns.
Von da an träumten wir von einer eigenen Jazzband. Die Voraussetzungen waren bei Heinz gegeben, der spielte nämlich ein tolles Boogie-Woogie-Klavier. Ich konnte weder ein Instrument spielen noch singen. Ich wählte dann das Schlagzeug, weil man das auch ohne Noten lesen zu können sich gegebenenfalls einigermaßen selber beibringen kann. Heinz besorgte mir aus dem Fundus einer Feuerwehrkapelle eine große und eine kleine Trommel und vom ortsansässigen Musikgeschäft ein Pedal und ein Becken. Nach ein paar Wochen hatten wir eine passable Schar an Mitspielern zusammen.
Dann kam die Karnevalszeit. Die war für uns Jungs enorm wichtig, weil wir in dieser Zeit auf willige Mädchen hofften. Diese Hoffnung hat sich aber bei mir nie erfüllt. Heinz hat, ohne uns zu fragen, mit dem Veranstalter eines großen Karnevalsfestes vereinbart, dass wir in der Orchesterpause spielen sollten. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn, wir hatten gerade mal drei Stücke in unserem Repertoire und auch die konnten wir nicht richtig spielen. Aber Heinz meinte, das würde reichen. Unser musikalischer Start war holprig, aber das Publikum störte das nicht. Die meisten waren ohnehin schon angetrunken und Jazz war damals in Wuppertal etwas weitgehend Unbekanntes. Wir erhielten freundlichen Applaus. Das ermutigte uns, beim nächsten Stück mehr Gas zu geben, was den Applaus steigerte. Nach dem dritten Stück, es war unglaublich, raste der Saal. Wir wollten zusammenpacken. Eine Art Conférencier kam auf die Bühne, bedankte sich im Namen des Publikums und forderte uns auf, eine Zugabe zu spielen. Wir hatten keine Zugabe, unser Repertoire war erschöpft. Da war es Heinz, der die Situation rettete: Er ging ruhigen Schrittes an das Klavier und hämmerte seinen Boogie-Woogie, bis ihm fast die Tasten um die Ohren flogen. Danach konnten wir den geordneten Rückzug antreten.
Wir empfanden das Ganze als großen Triumph und der musste gebührend gefeiert werden. Nachdem wir einen Teil unserer Instrumente im Jazzkeller verstaut hatten, zauberte Heinz eine Flasche RACKE RAUCHZART sowie eine Flasche ESCORIAL GRÜN hervor. Das Zeug hatte er aus der Kneipe seiner Mutter mitgenommen.
Racke rauchzart? Escorial grün?
„Racke Rauchzart“ war ein damals in Deutschland sehr bekannter Whisky mit vierzig Prozent Alkoholgehalt. Ein schreckliches Zeug, welches aber schnell in die Birne ging. Noch übler allerdings war „Escorial grün“, ein 56prozentiger Kräuterlikör. Das Zeug konnte man ohne Probleme zum Brennen kriegen, was wir aber selten machten, da dadurch ja der Alkoholgehalt verringert wurde. Mein Vater hatte mir stets verboten, mich in die Nähe von Alkohol oder gar Zigaretten zu begeben. Seine Droge war lebenslang Schokoladenpudding, den er schüsselweise vertilgte, ohne dass dieser irgendwelche Spuren an seinem Körper hinterließ. Die fast schon pathologische Abneigung meines Vaters gegenüber Alkohol und Zigaretten machte mich folgerichtig schon mit fünfzehn Jahren zum Raucher, und auch gegenüber einem gelegentlichen Schnaps oder Likör war ich nicht abgeneigt. An jenem Abend gab es dann alles im Wechsel, Zigaretten der Marke PETER STUYVESANT, dann entweder „Racke Rauchzart“ und „Escorial grün“. Das dabei ablaufende Zeremoniell war ebenso einfach wie logisch. Nach jeder Zigarette musste ein Whisky oder ein Likör getrunken werden, um den Zigarettengeruch zu neutralisieren. Die nächste Zigarette half dann, den Alkoholgeruch zu mindern. Nachdem ich deutlich mein Zeitlimit, das mir mein Vater vorgegeben hatte, überschritten hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Ich besaß keinen eigenen Hausschlüssel, aber meine Mutter hatte seit einiger Zeit, wohl um die Situation mit meinem Vater nicht unnötig eskalieren zu lassen, dafür eine Lösung gefunden.
Hinter unserem Haus zur Gartenseite befand sich ebenerdig ein kleines Kellerfenster. Das hatte sie von innen entriegelt und dort innen auf der kleinen Fensterbank ihren Haustürschlüssel deponiert. Ich stieß in jener Nacht vorsichtig und leise dieses Fenster von außen auf und tastete im Dunkeln nach dem Schlüssel, da wo ich ihn vermutete. In diesem Moment bekam ich einen gewaltigen Schock und das Blut gefror mir in den Adern. Ich war schlagartig nüchtern. Eine knochige Hand hatte die meine ergriffen und hielt diese brutal umklammert. Ich sah damals gelegentlich Horrorfilme, jetzt erlebte ich selbst einen. Es dauerte gefühlt Stunden, bis ich begriff, dass mein bekloppter Vater sich einen seiner seltenen Scherze erlaubte, um mir eine Lektion zu erteilen.
Der Erfolg Ihres Bühnenauftritts war also perdu?
Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Ich finde es immer noch richtig, dass wir damals unser Lampenfieber überwunden haben und uns dem Publikum gestellt haben. Ich finde es auch richtig, dass wir das hinterher gebührend gefeiert haben. Ich musste ja später beruflich oft vor Publikum sprechen und es war jedes Mal eine Überwindung. Hinterher war ich aber immer glücklich, wenn mir der Auftritt gelungen war. Um auf Heinz zurückzukommen, mit unserer Liebe zum Jazz kam auch unser Interesse für Paris. Das war damals das Zentrum der jungen Generation mit Existenzialismus und eben Jazz . Die Pariser Existenzialistenszene von Saint-Germain-des-Prés mit ihren Cafés, ihren Jazzkellern und den vielen, meist schwarz gekleideten, jungen Existenzialisten zog uns magisch an. Heinz stieß bei mir offene Türen ein, als er mir einen Besuch vorschlug. Und er wusste auch einen gangbaren Weg. Schließlich besaß er ja diese KREIDLER FLORETT.
Ein Motorrad?
Na ja, es ist ein Kleinkraftrad, aber ziemlich schnell, besonders wenn man daran herumschraubt. Heinz konnte das gut.
Mit dem Kleinkraftrad nach Paris ?
Klar, aber es war zunächst keine Vergnügungsfahrt. Ab Aachen regnete es in Strömen. Dann wurde es sehr schnell dunkel und ich weiß nicht, wie es Heinz gelang, dass wir nicht im Graben landeten. Wir waren in kürzester Zeit pitschnass und ich klammerte mich verzweifelt fest an Heinz. Ich hatte furchtbare Angst und wusste, das Ganze würde kein gutes Ende nehmen. Aber Heinz fuhr und fuhr und wie ein Wunder erreichten wir morgens gegen fünf Paris. Heinz machte dann Stopp in der Gegend der Hallen, dem „Bauch von Paris“, wie die Pariser das nannten. Heinz hatte sich gut vorbereitet. Ich war einfach nur mitgefahren, ohne dass ich wusste, auf was ich mich da eingelassen hatte. Ich war ein paar Tage weg von zuhause, das war für mich Grund genug, jede Strapaze auf mich zu nehmen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und wir setzten uns in ein Straßencafé. Ich war so aufgewühlt und vergaß die Horrorfahrt und meine nassen Klamotten. Ich saugte alles bedingungslos in mich auf, was Paris mir bot, das schier endlose Spektrum neuer faszinierender Bilder, die Wärme des dampfenden Asphalts, das Kaleidoskop der vielen mir unbekannten Gerüche, die Stimmen, den Lärm der Straße, einfach alles. Als der Zeitungskiosk an der Straßenecke öffnete, kaufte sich Heinz eine PRAWDA.
Eine russische Zeitung?
Ich weiß, dass Strawinsky mit dieser Geschichte nicht viel anfangen kann. Aber ich erzähle sie schließlich auch nicht in erster Linie ihm, sondern mir. Und in meinem Bauch kribbelt es fast so, wie an jenem Morgen in Paris.
Heinz hatte damals mit einem Leistungskurs in Russisch begonnen. Mit der Prawda wollte er, glaub ich, seine Weltoffenheit demonstrieren. In Wuppertal wäre er sicher damit aufgefallen, in Paris interessierte sich kein Mensch dafür. Wir fanden dann später ein für unsere Zwecke geeignetes Hotel in der Nähe des Boulevard St. Michel und in den Folgetagen hakten wir die üblichen Sehenswürdigkeiten ab. Damit waren wir gut von morgens bis abends beschäftigt. Ich hatte meine Ukulele mitgenommen, auf der klimperte ich gelegentlich ein wenig herum. Regelmäßig saßen wir am Seine-Ufer, tranken billigen Rotwein und aßen Baguette und Käse. Es war herrlich und ich fühlte mich seltsam unbeschwert. Niemand stellte irgendwelche Forderungen an mich. Niemand schrieb mir irgendetwas vor. Niemand beobachtete mich. Ich war endlich, wenn auch nur für ein paar Tage, frei und unbeschwert.
Der Höhepunkt unserer Reise war der Besuch in einem Jazzkeller in der Nähe des Boulevard Saint-Michel. Das CAVEAU DE LA HUCHETTE war damals das Mekka für Jazzfans. Heinz lud mich dahin ein. Ich hätte mir das nicht leisten können. Es war der schönste Abend meines noch jungen Lebens. Ich war richtig besoffen von der Musik und für Tage passte nichts anderes mehr in meinen Kopf und in mein Herz.
Hat Heinz das genauso empfunden?
Ich weiß nicht, er war irgendwo viel cooler als ich. Er sah die Dinge klarer. Ich meine, er ging viel mehr mit seinem Verstand und seinem Intellekt an die Sachen ran. Ich benutzte gerne meinen Bauch und meine Emotionen.
Wie lange hat Ihre Freundschaft gehalten?
Ich denke einen Moment nach. Solange ich in Wuppertal blieb, waren wir sehr dicke Freunde. Dann beendete Berlin irgendwann unsere tiefe Freundschaft.
Unsere Freundschaft wurde mit meinem Wegzug nach Berlin brüchig. Wir haben dann manchmal telefoniert und uns auch hin und wieder in Wuppertal getroffen. Jahre später stand Heinz unvermittelt vor meiner Wohnungstür in Berlin. Ich habe mich riesig über dieses Wiedersehen gefreut. Wir zogen ein paar Tage und Nächte um die Häuser. Heinz fand Gefallen an meiner damaligen Freundin Kris. Ich habe sie ihm gerne ausgeliehen, so konnte ich mich endlich einmal bei Heinz revanchieren. Ein paar Monate danach musste ich nach Wuppertal. Kris hörte davon und wollte mitkommen. Ich hatte nichts dagegen und brachte sie zu Heinz. Wir blieben ein paar Tage in Wuppertal.
Ich erinnere mich gut an die Rückfahrt. Kris bat mich anzuhalten. Sie musste Pipi. Ich fand so schnell keine Raststätte und fragte sie, ob sie das auch auf einem unbewachten Halteplatz erledigen konnte. Kris war ein unkompliziertes Mädchen. Ich denke, sie hätte notfalls auch ihren Popo aus dem Fenster gehalten. Als sie vom Pipi zurückkam, waren wir beide plötzlich heiß. Es war dunkel, der Parkplatz war leer und wir gingen auf die Rückbank. Dann trieben wir es heftig im Käfer. Das war aber dann irgendwie der Schlussstrich für Heinz und Kris und mich. Ich habe seit damals immer einmal wieder nach Heinz gesucht. Aber selbst im Internet ist er nicht zu finden. Er strebte damals eine akademische Karriere an. Hoffentlich ist ihm das gelungen. Klug genug war er.
Eine bleierne Müdigkeit befällt mich plötzlich. Strawinskys Fragen sind furchtbar anstrengend. Ich muss mich jetzt erst einmal ausruhen ...