Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Frühlingserwachen - Валентина Май - Страница 6
2.
ОглавлениеAls Stephanie wenig später die exklusive Penthouse-Wohnung von Dorian betrat, kam ihr Tigger freudig entgegengesprungen. Sie lächelte, als der schwarz-weiße Jack Russell Terrier bellend an ihr hochsprang. Dorian hatte den Hund von einem zufriedenen Kunden geschenkt bekommen. Der Name Tigger passte so gar nicht zu dem quirligen Kerl, weder vom Aussehen noch vom Temperament. Es war Dorians Idee gewesen, ihn nach einer Comicfigur zu benennen.
Auch wenn ihr Freund den Hund mochte, das Kümmern überließ er lieber ihr. „Du kommst doch vom Gut und kennst dich ja mit so was aus“, waren seine Worte gewesen. Hier in London verbrachte Tigger die meiste Zeit des Tages in der Wohnung. Regelmäßig zweimal am Tag kam der Dogsitter zum Gassigehen. Was für ein beschränktes Hundeleben. Auf Abendroth hätte der Terrier viel Auslauf gehabt, das hätte sie ihm gegönnt. Aber Dorian hasste das Landleben.
Stephanie bückte sich und streichelte das Tier, bevor sie die breite Tür zur Dachterrasse aufschob. Anschließend ging sie in die Küche und öffnete eine Dose Hundefutter.
Mit dem gefüllten Napf ging auch sie auf die Dachterrasse hinaus. Tief atmete sie die klare Luft ein. Die Tage wurden milder und länger. Die Sonne versank langsam am Horizont und tränkte ihn blutrot. Nach dem eisigen Winter schien sich nun endlich der langersehnte Frühling anzukündigen.
Während Tigger fraß, schaute Stephanie über die Dächer Londons. Von hier oben war der Blick atemberaubend. Die dicht aneinandergereihten Häuser wirkten wie Spielzeugvillen. Fast zum Greifen nahe waren die zartgrünen Baumkronen des Hyde Parks, in dem sie oft joggte. Kinderstimmen unter ihr an der Bushaltestelle weckten ihre Aufmerksamkeit. In Schuluniformen gekleidet, schlenderten sie schnatternd und kichernd an den strahlend weißen Häuserzeilen mit den schwarzen schmiedeeisernen Zäunen vorbei. In Eggendorf war alles so ganz anders, ruhiger, und die Kinder trugen keine Uniformen. Ihr Freigeist hätte sich sicher gegen eine solche gewehrt, denn Individualismus war ihr wichtig.
Aus der Ferne hörte sie den 6-Uhr-Westminster-Schlag von Big Ben. Bald würde Dorian nach Hause kommen. Sie mochte London mit dem quirligen, freakigen Leben, die unzähligen Galerien und Modeevents, nicht zu vergessen die Shoppingmeilen. Dennoch sehnte sie sich immer öfter nach einem ruhigeren Ort wie Abendroth zurück. Es wurde Zeit, ihren Schwestern endlich wieder einmal einen Besuch abzustatten. Spätestens im Sommer. Vielleicht würde Dorian sie endlich begleiten. Schon seit Langem hatte er ihr versprochen, mit ihr nach Abendroth zu reisen, und genauso oft war ihm etwas Geschäftliches dazwischengekommen, sodass sie jedes Mal allein gefahren war. Dabei hätte sie ihrem Freund wirklich sehr gern ihre Heimat gezeigt. Als begeisterter Jäger hätte er dort sicher seinen Spaß gehabt. Sie hingegen hatte die Jagd noch nie ausstehen können. Das Opfer hatte doch kaum eine Chance zu entkommen. In Kent hatte sie Dorian im vergangenen Jahr zur Jagd begleitet. Nie würde sie die wunderschönen samtbraunen Augen des Rehs vergessen, die sie im Visier gesehen hatte. Voller Leben, das im nächsten Moment erlosch, als der Knall die Stille zerschnitt. Sie hasste das Töten. Ihr Mitleid für das Tier hatte Dorian belächelt. In diesem Moment waren ihr Zweifel gekommen, ob er wirklich der Mann ihres Lebens war. Vielleicht würde sie nie den Mann finden, mit dem sie gemeinsam alt werden wollte. Ihre Gedanken schweiften zu ihren Schwestern. Auch Jennifer hatte einst geglaubt, mit Michael glücklich zu sein, bis sie Dave wiederbegegnet war. Und Miriam hatte sich eingestehen müssen, dass es für ihre Ehe mit Paul keine Zukunft mehr gab und ihr Glück bei Robert gefunden. Die Wege der Abendroths waren nie geradlinig gewesen, sondern steinig und verschlungen. Schritte erklangen hinter ihr.
„Ach, hier bist du, Steph.“ Dorian trat hinter sie und küsste sie zärtlich in den Nacken. Ganz in ihren Grübeleien versunken, hatte sie ihn nicht gehört.
„Hallo, Dorian. Gut, dass du schon zu Hause bist. Wir müssen noch …“ Weiter kam sie nicht, denn er knabberte an ihrer Haut, was ihr eine Gänsehaut bereitete. Langsam drehte sie sich zu ihm um, schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn voller Verlangen auf den Mund. Die Hände ihres Freundes, die eben noch auf ihrem Rücken gelegen waren, wanderten tiefer und legten sich besitzergreifend auf ihr Gesäß. Ohne dass sie es wollte, schweiften ihre Gedanken im selben Moment zu dem Fremden ab. Erschrocken über ihre Fantasien löste sie sich aus der Umarmung.
„Was ist?“ Ihr Freund sah sie besorgt an.
Wie könnte sie ihm gestehen, bei dem Kuss an einen anderen gedacht zu haben! Sie fühlte sich mies. „Alles gut.“ Sie rang sich ein Lächeln ab.
„Wirklich?“ Dorian klang besorgt.
„Ja, alles in Ordnung. Ich habe nur daran gedacht, dass ich heute einen Termin habe platzen lassen“, log sie und vermied es, ihren Freund anzusehen.
„Gegen Frust weiß ich ein gutes Mittel.“ Lächelnd nahm Dorian ihre Hand und zog sie mit sich. Tigger beäugte sie misstrauisch, als wäre er eifersüchtig.
„Tigger, hopp, ab mit dir auf die Dachterrasse.“ Dorian beugte sich zu seinem Hund hinunter und schob ihn in Richtung Terrassenausgang. Tigger sah fragend zu Stephanie auf.
„Na, lauf schon“, sagte sie und folgte Dorian ins Schlafzimmer. Der Hund sah ihnen nach, bis die Tür hinter ihnen zufiel.
Das Schlafzimmer bestand aus einem herzförmigen Bett, das vom Polster bis zur Bettwäsche in Rot gehalten war. Stephanie begann sich langsam auszukleiden …
Eine Stunde später stand sie in der Küche und bereitete sich einen Cappuccino zu, während sie über ihre Beziehung nachgrübelte. Im Laufe der Monate hatte sich die Routine bei ihnen eingeschlichen, auch beim Sex. Jeder Tag im Leben der beiden war minutiös durchgeplant, selbst die Momente der Zweisamkeit. Am Sonntag organisierten sie die Woche, neben den vielen Geschäftsterminen auch die privaten. Einmal in der Woche zusammen Lunch, alle vierzehn Tage ein Dinner in ihrem Lieblingsrestaurant, und einmal pro Woche Sex. Sie fühlte sich in ein Korsett gepresst. Wenn sie Dorian darauf ansprach, war er der Ansicht, dass die beruflichen Interessen höchste Priorität besaßen. Seit einer Weile fühlte sie sich in ihrer Beziehung unwohl. Spontaneität und Gelöstheit waren verloren gegangen. Es fehlte ihr das sehnsuchtsvolle Ziehen, wenn sie an Dorian dachte, die Freude darauf, die wenige Freizeit, die ihnen gegeben war, gemeinsam zu verbringen. Dinge, die ihren Schwestern vergönnt waren.
Neulich hatten Jennifer und Miriam ihr im Anhang der E-Mail Fotos zugesandt. Das Strahlen in den Augen der Schwestern hatte schon ein wenig Neid in ihr geweckt, obwohl sie den beiden das Glück von Herzen gönnte.
Wenn sie an Jennifers Hochzeit dachte, wurde ihr das Herz schwer. Jeder Augenblick war berührend gewesen. Voller Euphorie hatte sie nach ihrer Rückkehr Dorian davon erzählt und war schockiert gewesen, weil er Heiratswillige als hoffnungslose, versponnene Romantiker bezeichnet hatte.
„Ich hätte nie gedacht, dass du auf so etwas Wert legst. Ich brauche keinen Trauschein, um aller Welt zu beweisen, dass wir ein Paar sind.“
Seine Worte klangen noch in ihren Ohren. Hätte er die innigen Momente miterlebt, würde er vielleicht anders denken.
Sie nippte an ihrem Cappuccino und leckte den Schaum von ihrer Oberlippe. Manchmal vermisste sie die Nähe zu ihren Schwestern. Was war nur mit ihr los? Nur nicht wieder deprimiert sein! Sie musste sich ablenken. Vielleicht würde die Party sie aufmuntern. Während sie die Tasse in den Geschirrspüler stellte, endete das Rauschen der Dusche. Sicher war Dorian schon dabei, sich anzukleiden. Es war Zeit, dass auch sie sich für die Party umzog.
Als sie das Ankleidezimmer betrat, schlüpfte er gerade in die Hose seines selbst entworfenen Anzugs. Sein kurzes Haar war streng zurückgekämmt und noch feucht. Rote Flecken zeichneten sich auf seinem glattrasierten Gesicht ab. Während sie ihn betrachtete, wurde ihr klar, weshalb so mancher Kunde ihn mit einem Sohn Donald Trumps verwechselt hatte. Am Kleiderständer hing ihr rotes Kleid mit den Spaghettiträgern. Sie nahm es herunter. Es war sehr figurbetont geschnitten und auch sehr kurz. Einer von Dorians Designern hatte es auf Wunsch ihres Freundes für sie entworfen. „Nenne es Kundenfang-Outfit“, hatte er zu ihr gesagt, als er es ihr überreicht hatte. Es kam nicht selten vor, dass ihr Freund ein Outfit vorschlug. Oft traf er tatsächlich ihren Geschmack. Heute hingegen ärgerte es sie, dass er sich in ihre Kleidungswahl einmischte. Sie stöhnte innerlich auf. Oft genug hatte sie seinem Wunsch nachgegeben, um des lieben Friedens Willen. Aber heute würde sie das nicht tun. Kommentarlos hängte sie das Kleid auf die Stange zurück. Dorian, der gerade seine Manschettenknöpfe zuknöpfen wollte, hielt in der Bewegung inne. Seine Brauen zogen sich verärgert zusammen.
„Was machst du, Darling? In diesem Kleid siehst du sexy aus. Denk ans Geschäft. Benson ist heute vermutlich auch da. Du weißt genauso wie ich, dass er einer meiner besten Kunden ist.“
Craig Benson produzierte weltweit Gourmet-Hundefutter. Er war es auch gewesen, der Dorian Tigger geschenkt hatte. Für zwei handbestickte Designerbademäntel aus Dorians Kollektion. Benson galt als extrem launisch, unberechenbar und sehr anspruchsvoll, besonders, was das weibliche Geschlecht anbetraf. Seine Vorliebe für blutjunge Frauen, bildhübsch und sexy, war über die Grenzen hinaus bekannt. Aber Stephanie wollte keine Geschäfte wegen ihres Aussehens abschließen, sondern weil sie besondere Fähigkeiten besaß und den gewissen Spürsinn einer talentierten Maklerin.
„Ich entscheide, was ich anziehen möchte“, entgegnete sie ihrem Freund, der daraufhin wütend die Lippen zusammenkniff.
„Ein Wort von dir, und meine Mannschaft hätte dir ein Kleid kreiert, das ein Blickfang für alle gewesen wäre.“
Ihre Schwestern hätten es nie gutgeheißen, wenn sie ein Geschäft nur dann abschloss, weil ein Kunde sie anziehend fand. Wenn sie Craig Benson noch dazu kennen würden, hätten sie ihr sicher geraten, sich auf keine Geschäfte mit ihm einzulassen. Aber wenn sie oben auf der Erfolgsleiter stehen wollte, durfte sie nicht wählerisch sein.
Sie nahm ein knielanges, apricot Cocktailkleid mit Pailletten aus dem Schrank. Die Farbe war nicht so aufdringlich wie das Rot und umschmeichelte ihre von der Karibikreise leicht gebräunte Haut.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst? Darin siehst du wie deine eigene Großmutter aus“, giftete Dorian. Das sagte er sicher nur, weil es nicht von ihm entworfen worden war. Stephanie ignorierte seine bissige Bemerkung. Dorian konnte recht aufbrausend sein. Auch wenn es ihm nicht passte, sie zog das Kleid an. Wütend knurrte er. Die spannungsgeladene Atmosphäre brachte sie erneut ins Grübeln. Es stimmte nicht mehr zwischen ihnen.
Als sie wenig später in die Diele eilte, bedachte er sie mit einem bitterbösen Blick. Sie befürchtete schon, er würde darauf bestehen, dass sie doch noch das rote Kleid anzog. Wider Erwarten schwieg er. Zufrieden mit sich selbst, aber mit einem missmutigen Dorian an ihrer Seite stieg Stephanie in den Aston Martin ein.
Ihr Freund liebte protzige Sportwagen. Sie legte wenig Wert darauf, dafür mehr auf Komfort. Die Sitze in diesem Wagen waren schrecklich unbequem. Gut, dass sie Dorians Rat nicht befolgt hatte. Mit dem engen Rock des roten Kleides hätte sie Schwierigkeiten gehabt einzusteigen.
Phils Party fand in einem Nachtclub nahe der Themse statt. Sie war noch nie im Dragon’s gewesen, das in Jetset-Kreisen als der angesagteste Club der Stadt galt. Luxuriös und nur für ausgewählte Gäste.
Dorian schwieg während der gesamten Fahrt. Trotzig wie ein kleiner Junge! Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass das Weiß der Knöchel zu sehen war. Als sie versöhnlich ihre Hand auf seinen Arm legte, bedachte er sie mit einem eisigen Blick. Rasch zog sie ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Die plötzliche Kälte zwischen ihnen erschreckte sie. So unversöhnlich hatte sie ihn noch nie erlebt.
Als er endlich den Wagen im Hinterhof parkte, war sie heilfroh, der angespannten Atmosphäre entfliehen zu können. Hinter der Tür hörte sie dumpfe Bässe wummern. Sie hatte ganz vergessen, dass Phil ein Fan von Hardrock war. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Augenrollen. Dorian schritt selbstbewusst voran. Auf seinen Wink hin öffnete einer der Türsteher ihnen mit einer Verbeugung die Eingangstür. Laute Musik und Stimmengewirr schlugen ihnen entgegen. Kopfschmerzen waren vorprogrammiert. Wie sollte sie das nur einen ganzen Abend lang aushalten?
Die meisten Partys von Dorians Clique hatten bislang in hochmodernen Nobelrestaurants oder Clubs stattgefunden, mit Art-déco-Möbeln, weißen Wänden, viel Glas und vor allem mit angenehmer Pianomusik. Auch diese Clubeinrichtung trug Phils Handschrift. Die Villa des Gastgebers wurde von vielen als architektonisches Meisterwerk bezeichnet, eine riesige, aus modernen Baumaterialien bestehende Orangerie am Stadtrand von London. Auf Stephanie wirkte es steril. Keine Dekoration, keine persönlichen Gegenstände, nichts. Nur gerade Linien, klare Formen und Glas, Glas, Glas.
Der Club war brechend voll. Diffuses Licht und rauchgeschwängerte Luft hüllten sie ein. Schon nach wenigen Minuten hämmerte es hinter ihren Schläfen. Viele der Gäste kannte sie, einige von ihnen gehörten bereits zu ihrem Kundenstamm. Heute war ihr jedoch weder nach Small Talk noch nach Akquisitionsgesprächen zumute. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht.
„Mach nicht so ein Gesicht, Darling. Lächeln, lächeln“, raunte ihr Dorian zu. Es fiel ihr schwer, die strahlende Maklerin zu spielen. Er fasste sie am Ellbogen und dirigierte sie durch die Gästereihen in die Mitte des Saales, wo sich eine Bühne befand, die an einen Boxring erinnerte. Die Servicekräfte hatten Mühe, sich mit den Tabletts durch die Gästereihen zu drängen und alle mit den erlesenen Getränken zu versorgen. Stephanie wollte sich gerade ein Glas Prosecco von einem Tablett nehmen, als Dorian ihr einen Schubs gab. „Später. Ich will auf keinen Fall Phils Rede verpassen.“ Ihr Protest ging in der lautstarken Musik unter.
Auf der Boxring-Bühne stand einsam ein Mikrofonständer. Das Licht erlosch, nur die Bühne wurde von einem Deckenspot beleuchtet. Wie passend für Phil, der gern im Rampenlicht stand. Dorian schob sie dicht an die mit Seilen umspannte Bühne und postierte sich hinter sie. Immer mehr Schaulustige drängten sich nach vorn. Zwischen ihnen eingepfercht konnte Stephanie weder vor- noch zurück- oder gar seitwärtstreten. Plötzlich verstummte die Musik, und es folgte ein Tusch. Die Gäste starrten mit erwartungsvollen Mienen zum Mikro. Auf der gegenüberliegenden Seite teilte sich die Menge, um Phil vorbei zu lassen.
Wie alle anderen männlichen Gäste trug auch er einen maßgeschneiderten Anzug, natürlich von Dorians Label. Sein Bauch wölbte sich deutlich über dem schmalen Gürtel. Lässig schob er eine Hand in die Hosentasche und lächelte gönnerhaft, als er sich vorbeugte und die Anwesenden begrüßte. Wie Stephanie befürchtet hatte, bestand seine Rede nur aus Lobeshymnen über einen Teil der Gäste und Andeutungen, aus denen herausklang, dass er sich für ein Brokergenie hielt. Nach wenigen Sätzen rauschte der Rest der Rede ungehört an ihr vorbei. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Hätte sie auf einem Stuhl gesessen, wäre sie längst eingeschlafen.
Um sich wachzuhalten, glitt ihr Blick über die vielen Köpfe hinweg und blieb schließlich an einem strohblonden Schopf gegenüber hängen. Das gibt es doch nicht! Sie kniff die Augen zusammen. Täuschte sie sich oder war es tatsächlich der Fremde von vorhin? In der Aufmachung passte er so gar nicht zwischen die piekfeinen Träger von Nobeldesigns. Dorians warme Hände auf ihren Schultern und ein Kuss im Nacken lenkten sie für einen Moment ab. Sie schloss die Augen und genoss die Zärtlichkeit als Zeichen seiner Versöhnung. Als sie die Augen wieder öffnete und in die Richtung des Fremden schaute, war er verschwunden. Sicher nur ein Trugbild, denn in diesem Aufzug hätte er alle Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen.
Unter tosendem Beifall beendete Phil endlich seine Rede. Dorian zog Stephanie mit sich zum anderen Ende des Saales. Ungeduldig winkte er eine Bedienung herbei und nahm zwei Gläser vom Tablett, von denen er eines Stephanie reichte. Gerade als sie mit ihm über Phils Vortrag sprechen wollte, gesellte sich Sylvie in Begleitung des Redners zu ihnen.
„Mensch, Phil, was für eine großartige Rede. Du schaffst es immer wieder, mich zu beeindrucken“, flötete Dorian und prostete dem untersetzten Mann mit der Gelhaarfrisur lächelnd zu. Auch ihre Freundin Sylvie strahlte den Broker an und nickte.
Es war offensichtlich, dass Phil die ungeteilte Aufmerksamkeit und das Lob genoss. „Danke euch. Vielleicht hätte ich noch meinen letzten Deal erwähnen sollen, ein wahres Schnäppchen, sage ich euch.“ Er seufzte theatralisch.
Es nervte Stephanie, dass ihr Freund und auch Sylvie dem Gastgeber Begeisterung vorheuchelten, obwohl der Ausdruck in ihren Augen etwas anderes verriet.
Es bringt nichts, zu lügen und sich zu verbiegen! Willst du authentisch sein, sei lieber du selbst! Seltsam, dass sie ausgerechnet jetzt an Mutters Worte denken musste.
Sie erinnerte sich an einen Tag auf Abendroth, an dem die Mutter und ihre Schwestern im Wohnzimmer ihren Schwärmereien vom neuen Traumjob gelauscht hatten. Genauso wie Dorian und Sylvie hatte sie auch gelogen. Dafür schämte sie sich noch heute.
Sie sah die Szene von damals noch genau vor sich.
Stephanie war aufgeregt vor dem Kamin auf und ab gelaufen, während Mutter, Miriam und Jennifer sie auf den Stühlen sitzend erwartungsvoll angesehen hatten.
„Ihr glaubt gar nicht, was für interessante Leute ich als Maklerin kennenlerne. Leute mit Rang und Namen. Den Oberbürgermeister und seine Gattin. Die trug vielleicht ein Kleid! Froschgrün mit einer dicken Schleife an ihrem Ausschnitt. Hässlich, sage ich euch. Natürlich habe ich es bewundert und ihr gesagt, dass ich es mir auch gekauft hätte. Andernfalls hätte sie sicher kein Wort mehr mit mir gesprochen. Das Kompliment hat mir ein Geschäft verschafft!“
„Du hast gelogen, Stephanie. Ich schäme mich. Habe ich euch nicht gelehrt, aufrichtig zu sein?“ Nie würde sie den entsetzten Blick der Mutter vergessen, der in ihr ein schlechtes Gewissen geweckt hatte. Aber in diesem Business war Ehrlichkeit nebensächlich, vielmehr musste sie neben einem gewissen Verhandlungsgeschick selbst die Schwachpunkte der Immobilie schönreden, um Interessenten vom Kauf zu überzeugen. Und darin war sie gut.
„Darling, lass uns zum Büfett gehen. Das Highlight des Abends. Der Chefkoch vom Dove höchstpersönlich hat es angerichtet.“ Sicher auch der einzige Höhepunkt an diesem Abend, dachte sie. Dorian legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie mit sich. Sylvie und Phil folgten ihnen. Noch immer hielt Stephanie vergeblich Ausschau nach dem Fremden und kam zu dem Schluss, dass sie sich seine Gegenwart wirklich nur eingebildet haben konnte. Es war selten, dass jemand einen solch nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließ.
Der Partyabend plätscherte dahin, und Stephanie langweilte sich zu Tode. Bislang kein einziges Business-Gespräch, sondern nur Small Talk. Nicht einmal Benson war hier, mit dem sie sich über Tigger hätte unterhalten können. Dorian diskutierte mit zwei anderen Unternehmern über die derzeitige Konjunkturlage und Importgeschäfte. Im Gegensatz zu ihr schien er sich gut zu unterhalten. Sie hätte nicht zu dieser sterbenslangweiligen Party gehen sollen. Als sie es nicht mehr aushalten konnte, zupfte sie Dorian am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie gehen wollte.
„Später. Jetzt noch nicht.“
„Was heißt denn später? Hier ist doch gar nichts los. Ich bin müde und möchte lieber jetzt …“
„Später“, fiel er ihr ins Wort.
Sie rollte mit den Augen und wollte gerade etwas erwidern, als er ihr erneut das Wort abschnitt. „Bilde dir nicht ein, dass du den Schlüssel für meinen Aston kriegst.“
Sein Wagen war sein Heiligtum. Sie hatte noch nie am Steuer dieses Wagens sitzen dürfen und hätte Dorian sowieso nicht darum gebeten. Seine patzige Antwort weckte in ihr Widerwillen. „Will ich auch gar nicht. Aber endlich nach Hause“, sagte sie eindringlicher.
„Ich sagte doch, ich nicht. Und mach mir jetzt bloß keine Szene vor allen.“
Bei der Entschlossenheit in seinem Blick war ihr klar, dass es vergebens war, ihn überzeugen zu wollen, die Party zu verlassen.
„Dann nehm’ ich mir halt ein Taxi.“
Sie wählte die Nummer eines Taxiunternehmens. Doch auch hier wurde sie vertröstet. Sie versuchte es beim zweiten und beim dritten und erhielt immer dieselbe Antwort: dass sie mindestens eine Stunde warten musste. Wegen mehrerer Veranstaltungen waren viele Taxis ausgebucht und Londons Straßen verstopft. Das konnte doch nicht wahr sein. Da es schon nach Mitternacht war, wagte sie es nicht, allein die Metro zu nehmen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als auf ein Taxi zu warten.
„Jetzt folgt der gemütliche Teil“, verkündete Phil. Stephanie stöhnte innerlich auf. Nach dem Alkoholkonsum waren die Hemmschwellen der anderen gesunken. Beim Tanz gingen sie auf Tuchfühlung, es wurde wild geknutscht und anschließend verließen sie paarweise oder gar zu dritt den Club. Sie hätte ein Buch über die Eskapaden der Prominenten schreiben können, wäre das Wissen nicht zu brisant und schädigend für ihr Geschäft gewesen.
Sie sah zu Dorian hinüber, der ein Glas Whiskey in der Hand hielt und mit glasigem Blick auf die goldene Flüssigkeit hinunterstarrte.
„Du hast getrunken. Ich habe uns ein Taxi gerufen.“
„Mach, was du willst, aber bestimme nicht über mich. Ich bleibe noch!“ Dorian ließ sie stehen und schwankte auf die Toiletten zu.
„Dorian!“, rief sie ihm hinterher. Ohne sich umzudrehen, winkte er ab. Sie blickte vor die Tür, um nachzusehen, ob vielleicht doch schon ein Taxi eingetroffen war. Nichts. Nachdem sie einen der Türsteher gebeten hatte, sie zu informieren, wenn es einträfe, ging sie zurück in den Club. Dann werde ich eben allein in meine Wohnung fahren.
Während sie ihre Frisur im Spiegel richtete, kam Craig Benson auf sie zu. Nachdem sie eine Weile nett über Hunde geplaudert hatten, bat er sie um Hilfe beim Verkauf seiner Villa an der Algarve. Als Benson sich verabschiedete, sah Stephanie wieder zur Uhr. Eine Stunde war vergangen und weder das Taxi eingetroffen noch ihr Freund zurückgekehrt. War ihm übel geworden? Als sie sich umschaute, bemerkte sie Phil, der sternhagelvoll auf einem Hocker in der Ecke des Boxrings lümmelte, die Arme auf die Seile gestützt, und Sylvie saß kichernd auf seinem Schoß. Phil winkte sie heran, aber sie war wegen Dorian beunruhigt. Ohne sich von ihm zu verabschieden, wollte sie nicht gehen. Damals bei Jakob hatte sie sich geweigert, ihm alles Gute für die Reise zu wünschen. Dann war er nicht zurückgekehrt. So vieles hatte sie ihm damals sagen wollen und es nicht getan. Seitdem hatte sie sich geschworen, nie mehr einen geliebten Menschen gehen zu lassen, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Sie fragte jeden im Club, aber keiner hatte ihn gesehen. Irgendwo musste er doch stecken!
Techno-Musik dröhnte aus den Boxen, brachte ihren Brustkorb zum Vibrieren und ließ es schmerzhaft hinter ihren Schläfen pochen. Sie musste hier raus an die frische Luft. Auf dem Weg begegnete sie Sylvie.
„Du willst doch nicht etwa schon gehen? Jetzt, wo der Spaß erst richtig losgeht!“ Welcher Spaß, hätte sie die Freundin am liebsten gefragt, aber sie wollte ihr nicht den Abend verderben.
„Hast du Dorian gesehen?“
Sylvies Augen verengten sich. „Nein. Wieso?“
In knappen Sätzen erklärte sie der Freundin, dass sie Dorian suchte. „Er hat zu viel getrunken.“
„Wieso fährst du ihn nicht nach Hause?“
„Hätte ich ja gern. Aber erstens weigert er sich und zweitens weißt du ja, wie er sich mit seinem Wagen anstellt. Beim kleinsten Kratzer rastet er aus.“ Stephanie seufzte. Hoffentlich musste sie nicht die ganze Nacht in diesem verfluchten Club verbringen. Ihre Hände zitterten und ihr Herz raste. Sofort dachte sie an ihren Arztbesuch neulich, der ihr Angst eingejagt hatte.
„Ihre Symptome, Miss von Abendroth, deuten auf ein beginnendes Burnout-Syndrom hin. Was das bedeutet, muss ich Ihnen nicht erklären. Sie müssen endlich einen Gang herunterschalten“, waren die Worte des Arztes gewesen. Das Herzrasen, die Mattigkeit und ihre ständig wachsende Sorge, die Aufträge nicht mehr abarbeiten zu können, waren die ersten Anzeichen. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Meinungsverschiedenheit mit Dorian so an ihren Nerven zerrte.
Sylvie winkte ab. „Der wird schon wiederauftauchen. Du bist nicht seine Mutter.“
Es war nicht die Bemerkung, sondern der abfällige Tonfall, der Stephanie störte. „Nein, nur seine Freundin, die sich zufällig um ihn sorgt.“
„Ist er nicht neulich auf dem Empfang bei den O’Donnells auch ohne ein Wort per Taxi auf und davon?“
Dass Sylvie sie ausgerechnet daran erinnern musste! Es war der Abend, an dem Dorian und sie sich heftig gestritten hatten. Auf der Geburtstagsfeier eines Bekannten war ihrem Freund eine Idee in den Sinn gekommen. Eine neue Kollektion, die er unbedingt zu Papier bringen musste. Darüber hinaus hatte er sie schlichtweg vergessen und die Party verlassen.
Nach dem Streit hatte er ihr hoch und heilig versprochen, dass es nicht noch einmal vorkommen würde. Hatte er sein Versprechen vielleicht doch vergessen?
„Vielleicht gibt es in diesem Club noch Räume, deren Zugang Gästen verwehrt ist“, sinnierte Stephanie. Vorhin hatte sie ein Schild mit der Aufschrift „privat“ gesehen.
„Ich weiß, wo so ein Raum ist“, warf Sylvie ein. Verwundert sah Stephanie ihre Freundin an. Das klang fast so, als wäre Sylvie schon oft hier gewesen. Fragen schwirrten durch Stephanies Kopf. Sie sah die Freundin an.
„Phil hat vorhin so was erwähnt.“
„Und Dorian? Ist er mit ihm gegangen?“
Sylvie zuckte mit den Achseln. „Lass uns nachschauen.“
Das flaue Gefühl in Stephanies Magen wuchs mit jedem Atemzug. Sylvie schritt mit einer Selbstsicherheit voran, die Stephanie verriet, dass ihr heutiger Besuch nicht der erste war.
„Mit wem hast du denn da vorhin geredet, bevor wir uns getroffen haben? Ich meine den Grauhaarigen mit den Geheimratsecken.“
„Craig Benson.“
Sylvie stoppte abrupt und sah sie an. „Der Craig Benson? Von Benson and Potter?“
Stephanie nickte.
Die Augen ihrer Freundin weiteten sich vor Erstaunen und Neugier. „Wieso hast du mich nicht dazu geholt?“, warf die Freundin ihr vor.
„Ich wusste doch nicht, wo du bist. Ich konnte ihn nicht stehen lassen, um dich zu suchen.“ Das wäre nicht nur unhöflich gewesen, sondern oft eine verpasste Gelegenheit für ein weiteres Gespräch, das zu einem Abschluss führte.
„Das sagst du immer“, sagte Sylvie enttäuscht. „Du reißt alle Deals an dich und bindest mich nie ein!“
Der Vorwurf war überflüssig. Gleichgültig, wer von ihnen einen Kunden akquirierte, sie teilten den Profit.
„Sylvie, das hatten wir doch schon. Wir wollten uns nicht mehr gegenseitig vorwerfen, den anderen auszubooten. Hast du das vergessen? Benson wäre mit Sicherheit weg gewesen, wenn ich mich umgedreht hätte.“ Ihre Freundin schwieg. Dennoch spürte sie, dass auch zwischen ihnen immer wieder Missverständnisse die Beziehung vergifteten.
„Hast du den Fisch an Land ziehen können?“, fragte Sylvie und klang friedlicher.
„Ja, er kommt in den nächsten Tagen bei uns vorbei, um den Auftrag zu unterzeichnen. Wir sollen seine Villa in Lagos an der Algarve verkaufen. Drei Mille. Uns winkt also eine dicke Provision“, berichtete Stephanie voller Stolz. Aber Sylvie schien die Freude trotz allem nicht zu teilen. Es traf Stephanie tief, dass die Freundin ihr nicht vertraute. Schweigend liefen sie einen langen Korridor entlang. Sie spürte, dass Sylvie bedrückt war.
„Ich verstehe nicht, wie du das immer machst. Ich kann mich abstrampeln und du kriegst die fette Beute einfach so? Man könnte meinen, du hättest was mit Benson oder den anderen.“ Jetzt war es Stephanie, die stehen blieb. Sylvies Anschuldigungen gingen zu weit. Wütend wirbelte sie zu ihrer Freundin herum. „Spinnst du? Ich würde niemals mit einem meiner Kunden ins Bett gehen.“
„Na, du willst mir doch nicht weismachen, dass er dir den Auftrag einfach so wegen deiner grünen Augen gibt?“
Das mangelnde Vertrauen der Freundin erschütterte sie. Sylvie lief weiter. „Nein, ich habe ihn überzeugen können.“
„Ach, ja? Ich würde alles dafür tun.“
„Ich bin nicht wie … du.“ Sie war Sylvies Vorwürfe und Unterstellungen satt. Es war, als wenn die Freundin geradezu nach Streit suchte.
„Und was war mit Dorian?“
„Ich verstehe nicht, wie du mir so was vorwerfen kannst, wo du doch genau weißt, dass wir uns bereits vorher kennengelernt haben.“ Ihre Freude hatte einen gewaltigen Dämpfer bekommen, jetzt hatte sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
„Du bist nur gefrustet.“
„Quatsch. Mein Abend war auch erfolgreich, wenn du es wissen willst. Phil will mir einen neuen Kunden vorstellen.“
Auf Phils Versprechen konnte man sich nicht wirklich verlassen, wie Stephanie am eigenen Leib erfahren hatte.
Vor ein paar Monaten hatte er angeblich einen reichen Fernsehmoderator für sie aufgetan, der nach einer Villa am Chiemsee Ausschau hielt. Der Deal hatte sich schnell zerschlagen. Nach einem ersten Telefonat hatte sich der Moderator am Telefon immer wieder verleugnen lassen. Sylvie kannte die Story. Wie konnte sie Phil da vertrauen?
„Du gibst noch etwas auf Phils Wort?“
„Er hat es mir fest versprochen“, antwortete ihre Freundin bestimmt.
„Hoffentlich hält er es diesmal!“
Sylvie presste die Lippen aufeinander. „Gönnst du mir etwa nicht, einen größeren Deal an Land zu ziehen?“
Immer wieder Vorwürfe. Sie konnte es nicht mehr hören. „Herrgott, wir sind doch Freundinnen! Wenn wir das nicht wären, würde ich nach diesen Unterstellungen kein Wort mehr mit dir reden!“
Sylvie verspritzte ihr Gift aus Frust. Als die Freundin schwieg, sah Stephanie sie an und erschrak wegen der Feindseligkeit in ihrem Blick. Hatte Sylvie denn alles vergessen, was sie in den Anfängen ihrer Selbstständigkeit zusammen durchgemacht hatten?
Immer war Stephanie um Versöhnung bemüht, aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass sich die Wege von Sylvie und ihr würden trennen müssen.
Sie standen vor der Tür mit der Aufschrift „privat“. Gedämpfte Stimmen drangen hindurch. Beherzt drückte Sylvie die Klinke hinunter und trat vor ihr ein. Der Raum war nicht klimatisiert und die Luft im Inneren entsprechend stickig. Mit den kahlen Betonwänden wirkte er, als hätte man einen Lagerraum umfunktioniert und versucht, durch ausgefallene Leuchten aufzupeppen. Die Fenster waren vergittert und nicht größer als Schießscharten. Ihnen gegenüber befand sich eine Metalltür, die vermutlich in den Hinterhof führte. Um eine Handvoll Bistrotische standen etwa drei Dutzend Gäste. Aus den Boxen dröhnte Techno-Musik. Einige der Gäste sprangen und grölten im Takt mit. Zwei Männer winkten ihnen zu. Stephanies Blick suchte nach Dorian. Er saß ganz hinten in der Ecke mit Phil, der mit einer vollbusigen Blondine flirtete. Sie winkte ihm zu, aber er schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken.
Ein paar der Anwesenden glotzten sie aus geschwollenen Augen an. Manche schnieften. Die Blicke aller Anwesenden glänzten unnatürlich. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf, die sich bestätigte, als sich zwei der Anwesenden über einen Glastisch beugten und ein weißes Plastikröhrchen an die Nase hielten. Vor ihnen auf dem Tisch lag ein winziges Häufchen weißes Pulver. Kokain. Stephanie erschrak und sah zu ihrem Freund, der gerade aufsprang, um mit der Blondine zu tanzen. Phil klatschte in die Hände und feuerte die beiden an. Stephanies Kehle wurde eng bei dem Anblick. Hatte Dorian davon …? Betrog er sie etwa auch? Langsam näherte sie sich ihm. Über die Schulter der Blondine erkannte sie die weißen Ränder an seinen Nasenflügeln und wusste, dass auch er die Droge geschnupft hatte. Unzählige Fragen stürmten auf sie ein. Wie oft hatte Dorian schon Kokain konsumiert? Wenn er es regelmäßig tat, weshalb war es ihr dann noch nicht aufgefallen? Dorian und die Blondine drehten sich immer schneller und gerieten ins Trudeln. Lachend lösten sie sich voneinander. Wütend stellte Stephanie sich zwischen ihn und die Blondine, die ebenfalls high war und lasziv ihre Hüften schwang. „Verschwinde“, blaffte sie die kichernde Frau an, die schwankend von dannen zog.
„Hey, was soll das?“, fuhr Dorian sie an. „Wir hatten gerade viel Spaß!“ Auch Phil war aufgesprungen und schimpfte.
Es war Stephanie gleichgültig. Wut und Enttäuschung entluden sich in diesem Augenblick.
„So zugekokst, wie ihr seid? Gerade du, der erst kürzlich einen Mitarbeiter wegen seiner Sucht rausgeworfen hat! Ich kenne dich nicht mehr wieder, Dorian.“ Die Hände in die Hüften gestützt, funkelte sie ihn wütend an. Mit eisigem Grinsen riss Dorian sie grob an sich. Stephanie schrie auf, als sich seine Finger in ihr Fleisch bohrten.
„Dann tanzen wir eben miteinander!“
Sie versuchte sich loszureißen, aber er zerrte und zog sie im Takt hin und her, bis ihr schwindlig wurde und ihre Gegenwehr erlahmte.
„Hör auf und lass mich, Dorian!“, brüllte sie gegen die Musik an, die jemand aufgedreht hatte, und stemmte die Hände gegen seine Brust. Anstatt sie loszulassen, zog er sie lachend mit sich. Sie wehrte sich mit aller Kraft, bis er nachgab. Sie geriet ins Stolpern, eine Drehung, und es gelang ihr, sich zu befreien. Sie fürchtete, Dorian könnte vorspringen und sie erneut packen, aber er tat es nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass ihr Freund geschnupft hatte. Sie rieb sich die schmerzenden Arme. „Ich verstehe dich nicht!“, rief sie verzweifelt. „Wie lange nimmst du denn dieses Zeug schon?“
„Ich weiß es nicht, nein, ich weiß es nicht …“, gab er halbsingend zur Antwort. Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt, so wütend und enttäuscht war sie.
Als sie nach seinem Arm griff, erlosch sein Lachen schlagartig und er wehrte sie ab.
„Warum zum Teufel hast du dieses Zeug genommen? Ich verstehe dich nicht!“ Ihr Herz schlug dumpf in der Brust.
Dorians Gesicht verzerrte sich, dass sie glaubte, ein Fremder stand ihr gegenüber. „Weil es mir Spaß macht, kapiert?“, brüllte er. Die Blicke der anderen richteten sich anklagend auf sie.
Sie zitterte am ganzen Leib.
„Ich will Spaß haben!“
Wie gelähmt stand sie da. Es wollte nicht in ihr Hirn, was gerade geschah. Dieser Moment war so unwirklich, und schlimmer als ein Albtraum. Er war nicht Herr seiner Sinne.
Eine Hand legte sich auf ihren Arm. „Lass ihn, Steph“, mischte sich Sylvie ein. „Er weiß schon, was er macht.“
„Ach, ja? Ich glaube kaum.“
„Er weiß, wie er damit umzugehen hat.“ Sylvies Worte trösteten sie wenig. Es war nicht erste Mal für Dorian, das hatte sie nun kapiert.
„Du hast davon gewusst? Und mir kein Wort gesagt?“ Wie konnte ihr die Freundin das verschweigen?
„Du lebst in deiner heilen Abendroth-Welt. Spielst allen die ach so ehrenwerte Maklerin vor. Als wenn du nie jemals etwas ausprobiert oder über die Stränge geschlagen hättest! Du hast selbst schon einen Joint probiert. Welches Recht nimmst du dir heraus, Dorian, mich und die anderen verurteilen zu können?
Komm’ mal von deinem hohen Ross herunter, Stephanie von Abendroth.“
Schock und Enttäuschung schnürten Stephanies Kehle zu. Doch dann überwog ihr Zorn über die ungerechten Vorwürfe. „Ich habe einen einzigen Joint probiert! Aber niemals härtere Drogen, und ich brauche keine Stimulanzien, um meinem Job gerecht werden zu können!“ Sie sah, wie Sylvie erbleichte. „Und ich habe nie auf einem hohen Ross gesessen. Wenn du eine wirkliche Freundin wärst, würdest du mich kennen und mir niemals so etwas vorwerfen. Ab jetzt werden wir nur noch geschäftlich miteinander verkehren!“
„Hau endlich ab!“, rief jemand aus der Gruppe immer wieder und Dorian stimmte ein. Noch nie hatte sie sich so schlecht gefühlt wie in diesem Augenblick.
In Stephanies Kopf dröhnte es. Sie fühlte sich erschöpft.
Phil sprang vom Stuhl auf und baute sich schwankend vor ihr auf. Die Atmosphäre im Clubraum war zum Schneiden dick. Tränen der Enttäuschung und Wut brannten in Stephanies Augen, die sie mit aller Kraft unterdrückte.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und übersah das ausgestreckte Bein eines jungen Mannes, stolperte und kippte nach vorn. In letzter Sekunde konnte sie sich abfangen, aber ihre Handtasche fiel herunter, und der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Zitternd bückte sie sich, um alles aufzusammeln. Aber Sylvie kam ihr zuvor und stopfte die Utensilien eilig in die mit Strass besetzte Handtasche.
Stephanie presste die Tasche wie einen Rettungsring an sich. Sie wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich fort von hier. Der Anblick der Leute auf Drogen, vor allem Dorians und Sylvies Gegenwart, waren für sie unerträglich. Blind vor Tränen floh sie aus dem Clubraum. Im Vorbeilaufen schnappte sie sich ihren Mantel von der Garderobe und stürmte zur Tür hinaus.