Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Frühlingserwachen - Валентина Май - Страница 9
5.
ОглавлениеEs kostete Stephanie einige Überwindung, den Fahrstuhl zu verlassen. Von Abendroth & Zöller – Real Estate Agent Office – stand auf der Glastür des Maklerbüros, das sie gemeinsam mit der ebenfalls deutschstämmigen Sylvie führte. Geführt hatte. Denn sie war hier, um einen Schlussstrich zu ziehen. Irgendwo würde sie wieder ganz von vorn anfangen. Ohne ihre Geschäftspartnerin. Es würde schwer werden, aber sie war sich sicher, es zu schaffen.
Vorn am Tresen saß wie immer Sally, die sympathische Blondine, die sie selbst vor einigen Monaten eingestellt hatte. Die Sekretärin starrte auf den Bildschirm vor sich, während sie sich von der Schokoladentafel Kästchen für Kästchen abbrach und in den Mund steckte. Trotz der vielen Süßigkeiten war sie sehr schlank. Stephanie beneidete ihre Angestellte, die sich ihre Figur nicht wie Stephanie durch tägliches Joggen und fleischlose Salate hart erarbeiten musste. Dennoch hatte Stephanie es eigentlich nicht gestattet, dass Sally am Empfang naschte und den Kunden mit klebrigen Fingern Informationsmaterial oder Formulare aushändigte.
Noch einmal tief durchatmen und hinein. Von einer Bedienung in der Cafeteria wusste sie, dass Sylvie nach ihrem Espresso in ihr Büro zurückgekehrt war. Sie würde sie zur Rede stellen und die Hälfte des Firmenvermögens verlangen. Hoch erhobenen Hauptes drückte Stephanie die gläserne Schwingtür auf und stand im Vorzimmer.
Sally hob den Kopf und wurde flammendrot. Hastig zog sie neben sich die Schublade auf und ließ die Schokoladentafel darin verschwinden. „Hi, Ms Stephanie! Ich dachte … ich habe … wir haben … gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet“, sagte sie und verschluckte sich fast an dem letzten Schokoladenkästchen, das sie im Mund hin und her schob. Sie lächelte unsicher.
„Da sehen Sie, wie schnell man sich irren kann. Hat Ms Zöller denn gesagt, ich würde nicht mehr ins Büro kommen?“
Sally lief rot an und nickte. „Egal, schön, Sie wiederzusehen. Ich glaube nicht an das, was in der Zeitung stand. Sie haben sicher keine Drogen genommen.“ Sally schien sich tatsächlich über ihre Anwesenheit zu freuen. Es munterte Stephanie ein wenig auf, dass die junge Frau sich ihr gegenüber so loyal verhielt.
„Danke, Sally.“
Die Sekretärin beugte sich weit über den Empfangstresen vor. „Ich bin wirklich froh, dass Sie hier sind“, raunte sie ihr zu und schielte zu Sylvies Bürotür hinüber, als befürchte sie, die Tür könnte sich gleich öffnen.
„Ich will meine Sachen abholen und mit Ms Zöller reden. Doch zuerst gehe ich in mein Büro.“
„Möchten Sie vielleicht wie immer einen Cappuccino?“
„Danke, das ist lieb Sally, aber dafür habe ich heute keine Zeit. Ich muss heute noch einiges erledigen.“
Sie nickte wieder. „Sie hatten übrigens zahlreiche Anrufe. Ich habe sie notiert. Möchten Sie vielleicht die Liste sehen?“ Ohne Stephanies Antwort abzuwarten, sprang sie auf und zog aus dem Schrank hinter sich einen Zettel, den sie ihr reichte. Die Liste war lang und bestand ausschließlich aus Kundennamen. Sicher hatten die alle den Artikel gelesen. Sie stöhnte innerlich auf. Am liebsten hätte sie sich die Anrufe erspart, aber sie wollte dennoch den Kunden gegenüber klarstellen, dass sie keine Drogen nahm.
„Ich gehe jetzt in mein Büro. Würden Sie mir bitte nachher beim Packen meiner Sachen helfen?“
„Aber … nein … ja … nein …“, druckste die Sekretärin herum.
„Was ist denn los, Sally?“
„Hat Ihnen Ms Sylvie denn nichts gesagt?“
„Nein, was denn?“
„Sie hat angeordnet, dass ich Ihr Büro nicht betreten darf. Ihre Sachen aus dem Schreibtisch befinden sich bereits in einem Karton verpackt auf dem Sideboard“, erklärte sie.
„Ist schon okay. Machen Sie sich keine Gedanken.“ Sylvies Unverfrorenheit nagte an Stephanie. Noch gehörte ihr die Hälfte der Agentur, ihr Büro, ihre Sachen! Die Freundin konnte weder verfügen noch sie mehr oder minder hinauskatapultieren.
„Was wird denn jetzt, Ms Stephanie? Sie haben mich doch damals eingestellt.“
Sally tat ihr leid. Vielleicht würde Sylvie ihr kündigen, allein, weil sie die Sekretärin ausgesucht hatte.
„Ich denke, dass vielleicht auch Ihre Zeit hier beendet ist. Hier ist eine Visitenkarte von Harold Borrow, falls meine Geschäftspartnerin Ihnen kündigt. Ich weiß, dass er gerade Verstärkung im Büro sucht. Versuchen Sie es einfach. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen.“
Es fühlte sich seltsam an und schmerzte, Sylvie nur als Geschäftspartnerin zu bezeichnen. Aber nach allem, was vorgefallen war, konnte sie sie nicht mehr Freundin nennen.
Lächelnd nahm Sally die Karte entgegen. „Danke.“
Anschließend lief Stephanie zum Bürotrakt hinüber. Sie hörte Stimmen aus Sylvies Büro, das neben ihrem lag. Ein wehmütiges Gefühl beschlich sie, als sie die Klinke zu ihrem Büro hinunterdrückte. Ein Abschied für immer von den vertrauten Wänden und dem grandiosen Ausblick auf die Themse. Sie ließ den Blick umherschweifen, als wollte sie sich jedes Detail einprägen, damit es ewig in ihrem Gedächtnis blieb. Ihre Bilder, Kopien von Monets berühmten Werken, waren bereits abgenommen und lagen in Tücher verpackt auf ihrem Schreibtisch. Wie Sally gesagt hatte, stand ein brauner Umzugskarton auf dem Sideboard dahinter. Telefon, Laptop, Tablet und Bildschirm befanden sich unverändert an ihrem Platz, als wäre sie nur kurz aus dem Zimmer gewesen. Kein Körnchen Staub lag auf den Möbeln. Hier hatte sie so manche Nacht über Angeboten gesessen, hatte gelacht, mit Sylvie Sushi gegessen und mit Dorian telefoniert. Jetzt war dieses Kapitel abgeschlossen. Ein zusammengerollter Zettel, der am unteren Rand des Bildschirms klebte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Vorsichtig zog sie ihn ab und glättete ihn. Die Buchstaben- und Ziffernkombination darauf wirkte hieroglyphisch. Es war das Passwort für Sylvies privaten E-Mail-Account, den die Freundin ihr im vergangenen Jahr mit den Worten „für den Notfall“ gegeben hatte. Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Das Spionieren war eigentlich gar nichts für Stephanie. Aber Sylvie hatte sie bei der Razzia ins offene Messer laufen lassen, was unverzeihlich war. Sie kannte Sylvies Abneigung gegen regelmäßige Passwortänderungen und ihren mangelnden Erfindungsreichtum. Mit ein bisschen Glück war es noch immer dasselbe. Einen Versuch war es wert.
Sie startete ihren Laptop und hatte sich wenig später in das elektronische Postfach eingeloggt. Für den geschäftlichen Mailverkehr hatten sie Regeln vereinbart. Kunden waren ausschließlich von der Geschäftsadresse anzuschreiben. Stephanie überflog Sylvies eingegangene E-Mails. Ein paar von ihnen waren verschlüsselt, und sie kannte deren Code nicht. Doch dann entdeckte sie, dass Sylvie immer wieder gegen ihre Vereinbarungen verstoßen hatte. Ein Großteil des elektronischen Briefwechsels mit Kunden war fast ausschließlich über ihren privaten E-Mail-Account gelaufen, Vertragsergänzungen an Stephanie vorbeigegangen. Namen von Kunden tauchten auf, die sich nicht in der Kartei befanden. Was war mit den Provisionen dieser Geschäftsbeziehungen? Sofort prüfte Stephanie die Konten und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sämtliche Provisionseinnahmen für diese unbekannten Kunden auf ein Konto ins Ausland überwiesen worden waren. Wieder und wieder prüfte sie die Daten mit dem gleichen Ergebnis. Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie hatte Sylvie in jeder Hinsicht vertraut und war nur hintergangen worden. Sie war drauf und dran, ins Nachbarbüro zu stürmen und Sylvie zur Rede zu stellen. Doch sie brauchte für diese Konfrontation einen kühlen Kopf.
Es half ihr, die Akten aus dem Schrank in Umzugskartons zu verstauen, um sich ein wenig zu fassen. Doch das ausländische Konto ließ ihr keine Ruhe. Erneut setzte sie sich vor den Computer und suchte nach einem Hinweis über den Kontoinhaber. Es gehörte einer Firma, deren Name ihr seltsam vertraut erschien, aber kein Kunde von ihnen war. Sie wählte die Nummer des Empfangs. Sekunden später meldete sich Sally.
„Sally, bitte sehen Sie nach, ob Sie Unterlagen über ein Geschäft mit der Firma Osborn and Clark finden können. Auch in den Dateien von Ms Zöller. Möglichst sofort. Und kein Wort zu ihr. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja, sicher.“
Sylvies Lachen klang aus dem Nachbarbüro. Scheinbar hatte Sally Sylvie noch nicht über ihr Erscheinen informiert, sonst wäre sie sicher in ihr Büro gestürmt.
Ihre Finger trommelten auf der Schreibtischplatte, während sie auf Sallys Antwort wartete. Im Hintergrund hörte sie das Klicken der Tastatur, dann wurden Schubfächer aufgeschoben. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Sally sich meldete.
„Osborn und Clark? Eine Akte existiert nicht, nur eine Notiz. Ms Zöller hatte sich mit dem Inhaber vor ein paar Wochen mittags zu einem Geschäftsessen getroffen …“
„Ja, und? Welches Geschäft? Wer ist der Inhaber?“ Die Wut ließ Stephanie ungeduldig werden.
„Ein Mr Fallon war mit Ms Zöller essen.“
Stephanies Lippen formten stumm seinen Namen. Wo hatte sie das schon einmal gehört? Dann fiel es ihr wieder ein … die Handtaschen, die knöchelhohen Stiefel … der Fashion-Einkäufer des Trelawney-Mode-Konzerns … Wirklich? Oder verwechselte Sally da was?
„Mr Edmond Fallon?“
„Ja, ja, ich glaube, so hieß er.“
Das Blut sackte in Stephanies Füße, ihre Hand, die den Hörer hielt, zitterte. Edmond Fallons Firma war ein Tochterunternehmen von Trelawney Fashion. Dorians Modefirma. Ihr war schlagartig übel. Sie konnte es kaum fassen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, nicht ein einziger Ton kam über ihre Lippen. Sie starrte vor sich auf den Bildschirm, über den ihr Firmenlogo flimmerte. Jetzt war ihr alles klar. Kein Wunder, dass es zu diesem Vorgang keine Akte, sondern nur eine Notiz gab. Weil die geschäftliche Beziehung von Dorians Tochterfirma zu ihrem Maklerbüro geheim gehalten werden sollte. Edmond Fallon vergewisserte sich bei jeder Entscheidung, ob Dorian es billigen würde. Er hätte nie ohne den Auftrag seines Bosses gehandelt. Dorian und Sylvie hatten sie beide hintergangen, indem sie hinter ihrem Rücken Geschäfte abgewickelt hatten, um sich gegenseitig Vorteile zu verschaffen!
„Ms Abendroth? Sind Sie noch dran? Benötigen Sie noch mehr Infos?“, flüsterte Sally in den Hörer.
„Nein, nein. Das reicht. Danke.“
Wie hatte sie so blind sein können und nicht erkennen, welches Spiel Freund und Freundin monatelang mit ihr getrieben hatten? Dieser Betrug erschütterte sie mehr als alles andere. Stephanie kopierte Dateien und E-Mails auf einen Memory-Stick und steckte ihre Beweise zufrieden ein. Die brauchte sie für einen Anwalt.
Sylvie und Dorian mussten ihr alles zurückzahlen.