Читать книгу Primel und die Schattenwesen - Vanessa Lange - Страница 11
Eine Wahrheit
ОглавлениеSowohl Roxane als auch Lil sahen sie ungläubig an. Um sich selbst Mut zu machen, nickte Primel kräftig. Sie wusste zwar nicht wie, aber irgendwie würde sie es schon drehen.
Zur Not fragte sie einfach den Mäusefleder. Der wusste doch alles, oder?
Roxane schien nachzudenken, dann hellte sich ihr Gesicht auf und ganz langsam, aber so elegant, wie Primel es niemals würde sein können, erhob sie sich.
Sie blickte Primel fast herausfordernd an, dann meinte sie: „Ich glaube dir, wenn du es versprichst. Wir Lacrime setzen viel auf Versprechen. Wenn einer etwas verspricht, ist das die Garantie, dass er es halten wird. Bitte, versprich es mir, erst dann kann ich beruhigt sein.“
Primel krallte ihre Hände in ihr T-Shirt. Sollte sie etwas versprechen, von dem sie wusste, dass sie es womöglich nicht würde halten können?
Andererseits tat sie ja eine gute Tat, wenn sie durch ein Versprechen eine verzweifelte Tränenfee beruhigen konnte. Und vielleicht genügte ein Ausflug in die Stadt schon als Abenteuer.
„Also gut, ich verspreche es“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Es war ja nichts dabei, oder?
Sie würde es ja nicht unbedingt halten müssen, oder?
Roxane lächelte zum ersten Mal, griff unter ihren Rock und zog ein kleines fingerhutgroßes Gefäß hervor, in dem eine goldene Flüssigkeit zu erkennen war. Die Lacrima schraubte den Behälter auf, hielt ihn Primel hin und forderte sie auf, ihren Finger hinein zu tauchen.
Primels kleiner Finger passte gerade so weit hinein, dass sie etwas der Flüssigkeit erspürte. Es fühlte sich seltsam weich und angenehm an.
Auch Roxane tauchte ihren Finger in das Gefäß, dann streckte sie ihn Primel hin.
„Mit den Tränen einer weinenden Lacrima besiegelt“, verkündete Roxane feierlich und langsam berührte Primel mit ihrer goldenen Fingerkuppe Roxanes goldenen Finger.
Ein heller Schein glühte um ihre Hände herum auf, hielt einige Sekunden an und verlosch.
Primels Fingerkuppe sah genauso aus wie zuvor.
Sie wunderte sich noch und konnte nicht fassen, was sie gerade versprochen hatte, aber Roxane freute sich. Sie flog durch das Zimmer und sang Lieder von Abenteuern, die sie in den nächsten 23 Stunden erleben würde.
Primel rückte ganz nah an Lil ran und flüsterte ihrer Schwester zu: „Du musst mir helfen, Lil!“
Diese nickte bedächtig und schnappte sich ihren Schmusehasi. Die beiden beobachteten Roxane, die mit jedem Flügelschlag glücklicher zu werden schien.
Primel fühlte sich irgendwie schlecht. Sie hatte ein Versprechen abgegeben und war sich eigentlich sicher, dass sie kein Abenteuer von jetzt auf gleich aus dem Ärmel schütteln konnte. Oder reichte der Fee ein Ausflug ins Schwimmbad? Was nun?
Plötzlich landete Roxane auf Primels Knie. Sie war wie verändert.
Zwar war die Fee schon vor ihrem Flug unglaublich schön gewesen, aber nun schien sie noch mehr zu glänzen und zu strahlen.
Primel sah genauer hin und erschrak. Roxane weinte noch immer. Goldene Tränen liefen ihre Wangen hinunter. War ihr Versprechen etwa umsonst gewesen?
Doch dann begriff sie. Es waren Freudentränen. Die kleine Fee strahlte Primel an. Sie zog ihren kleinen Fingerhut mit den gesammelten Tränen hervor.
„Die Tränen einer Tränenfee sind magisch. Sie besiegeln nicht nur Versprechen, sondern verraten auch Wahrheiten. Jeder, der eine Lacrima dazu bringt, Freudentränen zu weinen, darf eine Wahrheit erfahren. Ich lasse gleich eine freudige Träne zu den traurigen Tränen tropfen, dann stellst du deine Frage und du wirst die Antwort erfahren. Doch überlege gut, du hast nur eine Frage“, erklärte sie und hielt wartend ihren Fingerhut in Position.
Primel überlegte. Was sollte sie fragen?
Sie war ja noch vollkommen überrumpelt von den Ereignissen des Tages, so dass sie Mühe hatte, einen klaren Kopf zu bewahren und dann sollte sie jetzt auch noch die richtige Frage stellen. Jede Frage, alles, was sie jemals schon hatte wissen wollen, könnte sie jetzt erfahren.
„Bereit?“, fragte Roxane.
Nein, wollte Primel schreien, aber da war es schon zu spät.
Mit einem melodischen Klang fiel die Freudenträne in die Flüssigkeit aus in Trauer vergossenen Tränen.
Dampf stieg aus dem winzigen Gefäß auf und waberte darüber, verfestigte sich zu einer weißen Wolke und wuchs immer größer bis er an die Decke stieß. Primel hielt den Atem an. Das war alles so unglaublich.
„Stell jetzt deine Frage!“, meinte Roxane von irgendwoher. Aber was sollte sie fragen?
Wo ihre Eltern gerade waren? Das würde sie erfahren, wenn diese zurückkämen.
Was in der nächsten Klassenarbeit abgeprüft werden würde? Eine verschwendete Frage.
Sie überlegte und dann hatte sie die perfekte Frage gefunden.
„Was ist mit dem vermissten Knolljungen geschehen, das meine Eltern gerade suchen?“
Ihre Stimme glitt in Wellen durch den Dampf. Er vibrierte und nahm Primels Worte in sich auf. Dann veränderte er die Farbe.
Das weiß wurde zu grün und langsam formten sich klare Bilder. Es war wie im Kino, nur viel eindrucksvoller.
Man sah ein Knolljunges, eine kleine Knöllin, hinter ihrer Mutter und ihrem Bruder herlaufen. Primel erkannte in ihm das Knolljunge, das sie heute schon gefüttert hatte.
Die kleine Knöllin schien verspielt zu sein. Sie stupste jeden Farn an und beschnupperte heruntergefallene Äste. Ab und zu jagte sie einem Sonnenstrahl nach.
Dann veränderte sich das Bild und Primel erkannte wieder die drei Knolle.
Eng aneinander gekauert saßen sie in einer tiefen Wurzelgabel. Über dem Blätterdach leuchteten die Sterne.
Und dann ging alles ganz schnell. Ein Knurren ertönte, ein Schatten sprang die Knollmutter an. Sie verließ die Wurzel und schmiss sich dem Angreifer entgegen.
Das kleine Knolljunge krabbelte über die Wurzel und suchte dahinter Schutz. Seine Schwester folgte ihm, doch sie war kleiner und schaffte es nicht die Wurzel hinauf.
Ein Schatten packte sie und dann wechselte das Bild.
Geschockt starrte Primel den Dampf an. Langsam veränderte sich seine Farbe wieder.
Es wurde heller, die Sonne schien und man sah die kleine Knöllin im hohen Gras kauern. Ein weiteres Wesen, das Primel noch nie gesehen hatte, saß bei ihr. Auch dieses schien noch sehr jung zu sein. Beide wirkten verängstigt.
Dann sah man die kleine Knöllin in einer Höhle, einem Schatten gegenüber. Das Bild war düster.
Der Dampf wechselte zu Rot. Lavaströme flossen über felsige Vulkanlandschaft und Primel meinte förmlich die Hitze zu spüren. Krater taten sich auf und hier und da spritzte eine Fontäne aus Magma in die Höhe, dann sahen die Mädchen die Schatten.
Sie glitten durch das Feuer und verdunkelten den Himmel.
Plötzlich wurde der Dampf wieder weiß. Stück für Stück zog er sich in den Fingerhut zurück, bis schließlich nichts mehr zu sehen war und Roxane das Gefäß unter ihrem Rock verstaute.
Primel zitterte stark und sie atmete schnell.
Die arme kleine Knöllin. Ihre Eltern waren auf der falschen Spur. Es waren keine Menschen, die das vermisste Knolljunge entführt hatten. Es war auch nicht im Wald zurückgeblieben. Es war in der Gewalt der Schattenwesen.
„Das vermisste Knolljunge ist im Feuerland“, stellte Roxane fest.
Sie klang aufgeregt, doch Primel war zum Schreien zu Mute. Allein bei dem Gedanken an diese dunklen Schatten fröstelte sie.
„Du bist wirklich super, Primel, du hast bis jetzt von allen, die mir ein Versprechen gegeben haben, deines am schnellsten eingelöst. Wir haben jetzt ein Abenteuer! Wir befreien die kleine Knöllin“, rief Roxane, sprang auf und ab und flog aufgeregt noch eine Runde durch das Zimmer.
„Oh ja!“, schrie auch Lil.
Primel sank auf Lils Bett in die dicken Kissen. Ihre Knie zitterten, als sie verstand, was Roxane und ihre Schwester da gesagt hatten.
Sie wollten wirklich zusammen in dieses seltsame Feuerland reisen und das Knolljunge befreien?
Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Schwester sich in Gefahr begab.
Sie musste mit ihrer Mutter sprechen. Aber die hatte ihr Handy ausgeschaltet.
Primel spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Hätte sie nur nicht dieser Fee versprochen, ihr ein Abenteuer zu verschaffen. Wenn sie gewusst hätte, um welches Abenteuer es sich handelte…
Ihr wisst Bescheid, wenn nicht klingelt bei der Nachbarin oder fragt den Mäusefleder…, kamen ihr die Worte ihrer Mutter in den Kopf.
Die Nachbarin wusste nicht einmal von der Existenz magischer Wesen. Diese Möglichkeit fiel also flach. Da blieb nur noch der Mäusefleder.
„Ok, wenn wir jetzt gleich aufbrechen, sollte ich es rechtzeitig zurück zu meinem Stamm schaffen. Weiß jemand, wo das Feuerland liegt?“, fragte Roxane und blickte in die Runde.
Primel atmete erleichtert aus. Wenn keiner wusste, wo dieses Land lag, würden sie auch nicht hingehen können.
„Ich frag den Mäusefleder“, rief Lil begeistert, rappelte sich auf und lief eilig aus dem Zimmer. Mist, ihre Schwester war nicht auf den Kopf gefallen. Primel sprang ebenfalls auf. Das durfte sie nicht zulassen. Ihre Schwester hatte die Gefahr noch nicht begriffen.
Sie stürmte aus dem Zimmer und hatte Lil am oberen Ende der Kellertreppe eingeholt. Sie schnappte sich den Arm ihrer Schwester und zischte ihr zu: „Wir werden nicht losziehen und einfach mal schnell eine kleine Knöllin aus einem Land voller Gefahren befreien.“
„Aber du hast es versprochen“, drängte sie.
„Nein“, meinte Primel. „Ich habe versprochen, Roxane ein Abenteuer zu besorgen und das hat sie nun. Ich habe nie gesagt, dass wir sie auf dieses Abenteuer begleiten. Was sie jetzt macht, kann uns egal sein. Wir bringen uns nicht in Gefahr.“
„Aber Priml. Wir müssen der Knöllin helfen“, versuchte sie es weiter. Primel ärgerte sich. Jetzt stieg das Mitleid mit der traurigen Knollmutter, dem verspielten Knolljungen und der verzweifelten, ängstlichen, entführten kleinen Knöllin in ihr auf.
Was, wenn Lil von ihr getrennt wäre und sie nicht wüsste, wo sie war? Das wäre schrecklich. Aber die Gefahr?
War es möglich, das Knolljunge zu befreien, ohne sich in Gefahr zu begeben? Wohl kaum.
„Priml, wir müssen den Knollen helfen! Wir können nicht einfach dasitzen und wissen, dass die kleine Knöllin in Gefahr ist!“, zeterte Lil weiter.
Primel schüttelte entschieden den Kopf. „Wir können warten, bis Mama und Papa heute Abend zurückkommen und dann sollen die entscheiden!“, beschloss sie.
„Heute Abend ist zu spät“, ertönte Roxanes Stimme von hinten.
Sie war ihnen unbemerkt gefolgt. Primel fluchte innerlich. Jetzt hatte sie gerade ihre kleine Schwester davon überzeugt, hier zu bleiben und nun kam Roxane und stimmte sie wieder um. Diese blöde Fee…
„Wenn wir heute Abend erst etwas unternehmen, komme ich nicht rechtzeitig zu meinem Stamm zurück. Außerdem, wer weiß, was der kleinen Knöllin bis heute Abend alles passieren kann“, fuhr sie mit honigweicher Stimme fort. Sofort hatte die Fee Lil wieder auf ihrer Seite.
Primel schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie kniff die Augen fest zusammen.
„Nein!“, rief sie, lauter als beabsichtigt. „Nein!“
Die Kellertür ging auf und der Mäusefleder streckte seinen Kopf hinaus.
„Was ist so wichtig, dass man einen alten Mäusefleder aus dem Schlaf reißt?“, fragte er und schmunzelte.
„Borke!“, rief Lil erfreut, „Wir ziehen los und erleben ein Abenteuer!“
Primel atmete erleichtert aus und öffnete die Augen wieder. Er würde Lil bestimmt nicht erlauben, mit Roxane zu gehen.
Sie drängte ihre Schwester durch die Tür und schloss sie hinter sich. Leider wischte auch Roxane durch den Spalt hinein.
Dann begann Primel zu erzählen, was passiert war. Borke hörte geduldig zu, er nahm Primels Befürchtungen mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis und Primel fühlte sich verstanden und geborgen. In seiner Gegenwart wirkten die Schattenwesen auch gar nicht mehr so bedrohlich.
Primel endete und blickte ihn gespannt an. Was würde er dazu sagen?
Doch Roxane kam ihm zuvor. „Ich muss rechtzeitig zu meinem Stamm zurück!“, zischte sie und man merkte ihre Wut und Verzweiflung. „Aber ich brauche Hilfe. Alleine kann ich die Knöllin nicht befreien und dieses Abenteuer erleben.“
„Dir geht es doch gar nicht um die Knöllin, sondern nur um dein blödes Abenteuer!“, giftete Primel zurück.
Das alles war ihr zu viel und die Situation überforderte sie.
„Und wenn schon!“, erwiderte Roxane, drehte sich in der Luft um und verschränkte ihre Ärmchen.
„Ich mag der kleinen Knöllin helfen!“, schniefte Lil und eine Träne kullerte ihre Wange hinab.
Der Mäusefleder schnaufte. „Weißt du, kleine Lil, das ist eine sehr gefährliche Reise. Ihr müsstet den Wald der Fantasien durchqueren. Dort leben zahlreiche magische Wesen, gute, wie böse. Es gibt gefährliche Pflanzen, die sich von Fleisch ernähren, oder aber einfach nur nach dir schnappen und dich gefangen halten. Hier ist auch die Zeit anders. Während im Wald der Fantasien zwei Tage vergehen, vergeht hier gerade einmal einer.
Wenn ihr es geschafft habt, diesen Wald zu durchqueren, kommt ihr ins Feuerland. Eine Region, bestehend aus Lava, Magma, Asche, Vulkanen und Hitze. Und nicht zu vergessen die Feuerwesen und die Schattenwesen, die dort leben. Und hier beginnt erst das Schwierige. Ich meine, wie wollt ihr ein Knolljunges aus den Fängen der Schattenwesen befreien?“
Primel war dem Mäusefleder sehr dankbar. Er hatte all ihre Bedenken auf den Punkt gebracht.
„Wir warten, bis unsere Eltern zurückkommen“, schlug sie nun noch einmal vor.
„Böse Blumen“, murmelte Lil.
„Lil, hör auf, es dir vorzustellen! Hör sofort damit auf!“, kreischte Borke plötzlich. Er stolperte auf seinen kleinen Beinchen auf Lil zu. Diese sah abwesend in die Ferne. Der Mäusefleder griff nach ihrem Arm, doch er griff einfach hindurch.
„Nein, Lil, hör auf, es dir vorzustellen!“, schrie er, doch Lil reagierte nicht.
Primel erstarrte.
Sie blickte ungläubig ihre Schwester an. Was geschah mit ihr?
„Lil!“, rief sie und stürzte nun auch auf sie zu. Panisch wollte sie sich auf sie schmeißen, doch sie glitt durch sie hindurch und knallte hart auf den Boden.
„Lil! Was soll das? Borke? Was ist mit ihr los?“, kreischte Primel hysterisch und sie versuchte erneut, ihre kleine Schwester zu packen. Ohne Erfolg.
„Lass das, Primel. Es ist zu spät. Wir können sie nicht mehr aufhalten. Sie ist bereits auf dem Weg in den Wald der Fantasien“, meinte Borke und Primel fand, er klang dabei sehr niedergeschlagen.