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Im Wald der Fantasien

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Ein Finger piekte sie in den Arm. Nein, sie wollte gerne noch länger in der Vorstellung verharren. Wieder dieses nervige Pieken. „Primel, ich an deiner Stelle würde jetzt sofort die Augen aufmachen und Lil helfen!“, vernahm sie Roxanes Stimme.

Beim Namen ihrer Schwester schlug sie tatsächlich die Augen auf und tauchte aus ihrer Vorstellung auf. Sie war verwirrt. Um sie herum war alles grün und trotzdem farbenfroh.

Bunte Blüten, teilweise so groß, wie sie selbst ragten empor und von allen Seiten strömte ihr ein Duft entgegen, der den aus ihrer Fantasie um ein Vielfaches übertraf.

Mit offenem Mund ließ sie ihren Blick wandern. Grüne Pflanzen, hohe Bäume, bunte Blumen und da, ganz weit oben…

„Lil!“, entfuhr es ihr überrascht. Ihre kleine Schwester saß hoch oben, weit über ihrem Kopf in einem seltsam verschlungenen Baum. Ihre Beinchen baumelten in der Luft und sie quiekte fröhlich.

„Schau, Priml! Lil ist hoch oben!“, rief sie erfreut.

„Lil, komm da sofort runter!”, schrie sie und fuchtelte mit den Armen. Sie wusste genau, dass das nicht so einfach war. Schweiß rann ihre Schläfen hinunter. Die Temperaturen hier waren tropisch.

„Wie ist sie da hochgekommen?”, wollte sie von Roxane wissen. Die zuckte nur mit den Schultern: „Als ich ankam, war sie schon oben.”

„Priml! Lil ist hochgeflogen!”, rief die kleine Schwester und wackelte mit den Armen, um Flügel zu simulieren.

„Warum redet sie in der dritten Person von sich?”, meinte Roxane. Primel fluchte. War das etwa die einzige Sorge von dieser blöden Fee?

Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. Was war los mit ihrer Schwester?

„Komm bitte wieder runter!”, schrie Primel und sank zusammen. Es war ihr zu heiß, sie wollte nicht diese Verantwortung haben, Roxane war ihr zu arrogant und Abenteuer mochte sie sowieso nicht, also warum war sie hier?

„Priml! Lil kommt jetzt wieder runter!”, vernahm sie Lils Stimme. Erschrocken drehte sie den Kopf. Ihre Haare klebten im Nacken und das T-Shirt fühlte sich wie eine zweite Haut an. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Das war einfach zu viel.

Plötzlich kam Wind auf. Die Blätter rauschten. Irgendwo ertönte ein Schrei und Schwärze raste genau auf Lil zu. Primel schrie. Roxane floh hinter eine Wurzel und Lil klammerte sich ängstlich an den Baum. Dunkle Schlieren verdeckten den Himmel. Ein Schattenwesen.

„Lil”, schluchzte Primel. Blätter segelten hinunter. Ein Geschöpf brach mitten durch das Blätterdach. Schützend hob Primel die Arme über den Kopf. Wo war Lil? Sie atmete tief durch, wappnete sich für den Anblick, der sich ihr bieten würde, hob den Kopf und riss die Augen erstaunt auf.

Sie taumelte einige Schritte rückwärts und stieß gegen einen Strauch, der wütend zischte. Dornen stachen durch ihr Shirt, aber es war egal. Primel hatte nur Augen für Lil, die auf dem Rücken eines nilpferdgroßen Vogels über ihrem Kopf Runden drehte und durch die Äste und Blätter brach. Langsam segelte er auf den Boden zu, setzte mit einem dumpfen Schlag auf und Lil purzelte Primel vor die Füße.

„Ich bin wieder da”, meinte sie und grinste zu ihrer Schwester hinauf.

„Offenbar kann sie wieder richtig sprechen”, stellte Roxane trocken fest. Sie kauerte noch immer hinter der Wurzel.

Primel ignorierte die unmögliche Fee und stürzte sich auf Lil. Diesmal glitt sie nicht durch sie hindurch. Primel drückte sie ganz fest.

„Erschreck mich nicht noch einmal so, ok? Und hau nicht noch einmal einfach so in einen unbekannten Wald ab”, bat sie und verstärkte ihren Druck, bis Lil quiekte.

Diese befreite sich aus der Umklammerung ihrer Schwester und sah sich um.

„Wo ist er?”, wollte Lil wissen.

„Wer?”

„Na der bunte Vogel.”

Jetzt blickte auch Primel sich um. Sie konnte Roxane nirgendwo entdecken. Auch der Vogel war verschwunden. Wobei Vogel für dieses riesige Geschöpf auch etwas untertrieben war. Zum Glück war auch das Schattenwesen nicht mehr da.

„Komm her, Vogel!”, rief Lil und drehte sich im Kreis. Primel hatte den Eindruck, ihre kleine Schwester war sich der Gefahr, in der sie sich befunden hatte, gar nicht bewusst. Sie sah das Ganze als ein Spiel an.

Die Blätter raschelten erneut. Zur Sicherheit schnappte Primel nach Lils Hand. Alle ihre Muskeln waren angespannt. Sie war bereit, ihre Schwester zu verteidigen.

Doch aus dem Dickicht trat nur ein Junge. Mit grüner Haut. Langsam kam er auf sie zu und streckte ihnen beschwichtigend die Hände entgegen.

Primel wich automatisch zurück und zog Lil mit sich.

„Bitte bleibt stehen!”, rief der seltsame Junge. „Ich bin Wasusch und will euch ein Freund sein.”

Primel fand, er klang aufrichtig, aber seine grüne Hautfarbe und die spitzen Ohren ließen ihn nicht sehr vertrauenserweckend aussehen. Außerdem war er so gekleidet, wie sie sich Tarzan oder Mogli aus dem Dschungelbuch vorstellte. Nur mit einem Lendenschurz aus dreckigem Stoff und Blättern. Unter seiner grünen Haut konnte sie deutlich Muskeln erkennen.

Trotzdem blieb Primel stehen und ließ ihn herankommen. Alleine würde sie sich sowieso nicht wehren können. Sie würde jede Wette eingehen, dass sie dieser Junge im Falle einer Verfolgungsjagd schneller eingeholt hätte, als dass sie bis drei würde zählen können.

„Pass auf, gleich schnappt eine Schlingpflanze nach dir”, meinte Wasusch so gelassen, als würde er sie auf eine seltsam geformte Regenwolke aufmerksam machen, und zeigte auf einen Punkt hinter Primels rechter Schulter. Sie machte einen Schritt zur Seite. Genau in diesem Moment spürte sie etwas Glattes an ihrem Arm entlang streifen.

Primel schrie auf und warf sich panisch nach vorne, direkt auf Wasusch zu. Lil stolperte hinter ihr her. Primel wollte nur noch nach Hause. Sie hatte keine Lust auf Gefahren, Schlingpflanzen und grünhäutige Jungen.

Dieser grünhäutige Junge fing sie auf. Primel sah in sein Gesicht mit den leuchtend grünen Augen und den spitzen Ohren. Was würde sie heute noch alles sehen?

Ehrlich gesagt reichte es ihr bis jetzt mehr als genug.

Primel und die Schattenwesen

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