Читать книгу Primel und die Schattenwesen - Vanessa Lange - Страница 9

Wenn eine Lacrima weint…

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Mit der schönen Feder in der Hand und einem breiten Grinsen im Gesicht stieg Primel die Treppen zum Zimmer ihrer Schwester hinunter. Die Anspannung fiel langsam von ihr ab, jetzt, da sie alle Tiere versorgt hatte und der Rundgang beendet war.

Primel hatte so viele neue Eindrücke gesammelt, dass ihr Kopf schwirrte. Doch sie war durch und durch glücklich. Wenn auch etwas müde, aber glücklich. Gleich würde sie sich mit einem Eis aus der Tiefkühltruhe im Garten in die Sonne setzen und den Nachmittag genießen.

Ob ihre Eltern bereits das verschwundene Knolljunge gefunden hatten?

Primel hoffte es sehr, denn der Gedanke an die traurige Knöllin schmerzte.

Seelig lächelnd hob Primel die Faust, um an die Tür ihrer Schwester zu klopfen, als sie Stimmen im Zimmer hörte. Lauschend hielt sie mitten in der Bewegung inne.

„Ok, du heißt also Rossane“, tönte Lils Stimme durch die Tür.

Primel presste ihr Ohr an das Holz, um die zweite, weitaus leisere Stimme zu verstehen.

„…Roxane…“, meinte Primel herauszuhören.

„Sag ich ja, Rossane.“

Primel grinste noch breiter, obwohl sie sich wunderte, mit wem ihre Schwester da sprach. Sie atmete tief ein und öffnete ohne Vorwarnung die Tür. Ein erschrockenes Quieken war zu hören. Primel meinte einen Lufthauch zu spüren, dann war alles wie vorher.

Lil stemmte ihre Ärmchen in die Hüften und bäumte sich erbost vor ihrer Schwester auf. Obwohl Primel größer und stärker war als Lil, wirkte die Kleinere sehr wütend und durchaus nicht schwach.

Verwirrt wich Primel zurück. Die bunte Feder hatte sie noch immer in der Hand, aber das Grinsen war verloschen.

„Lil, was ist los?“, fragte sie entsetzt. Lil schnaufte laut.

„Du hast Rossane verscheucht!!!“, tönte sie vorwurfsvoll. Einen Moment lang funkelte sie ihre Schwester an, dann sackten ihre kleinen Schultern nach vorne und Lil begann zu weinen.

Primel war etwas überfordert mit der Situation, doch der Instinkt einer großen Schwester setzte sich durch und sie schloss ihre kleine Schwester in eine Umarmung. Zärtlich wischte sie Lil die Tränen von der Wange und murmelte beruhigende Worte in ihr Ohr, auch wenn sie gar nicht wusste, wer Rossane überhaupt war.

Nach einer Weile beruhigte Lil sich wieder, machte sich von Primel los, blickte sie erneut wütend an und rannte zum Fenster.

Sie lehnte sich hinaus und schrie laut in den Garten: „Rossane, Priml tut dir nichts. Die ist ganz lieb. Bitte, komm zurück! Rossane!“ Dann setzte sie sich auf ihr Bett und schmollte.

„Lil, wer ist Rossane?“, fragte Primel.

„Mein Name ist Roxane, aber das habe ich schon oft genug klargestellt“, hörte sie hinter sich eine nicht minder verärgerte Stimme.

Primel fuhr herum und traute ihren Augen nicht. Sie schwankte kurz und musste sich an der Wand abstützen, so überrascht war sie.

Vor ihr auf dem Fensterbrett saß eine waschechte, funkelnde, glitzernde und ebenfalls schmollende Tränenfee.

Sie trug ein grün und blau glitzerndes Kleid, hat schimmernde Flügel und war so zart, dass Primel meinte, sie würde gleich zerbrechen.

Das war also eine Lacrima.

Eine Tränenfee, wie Primel sie schon immer einmal sehen wollte. Sie war wunderschön.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erwachte Primel aus ihrer Trance und fasste sich. Sie atmete tief ein und meinte: „Entschuldigung, Roxane, ich bin Primel.“

Roxane flog grazil und elegant vom Fensterbrett hinunter, nahm Primels Entschuldigung mit einem Kopfnicken zur Kenntnis und setzte sich auf Lils Teppich.

Also stimmte es, dass Tränenfeen sehr eitel und stolz waren. Fast hätte Primel aufgelacht. Diese Fee verkörperte alle Klischees, die sie über die Lacrime gehört hatte. Aber nur fast hätte sie gelacht. Primel wollte ja nicht, dass Roxane sofort wieder beleidigt wegflog.

Lil strahlte über das ganze Gesicht. „Rossane, du bist so schön!“, rief sie aus. Vielleicht war es das Kompliment, das die Fee über ihren falsch ausgesprochenen Namen hinwegsehen ließ, aber auf jeden Fall regte sie sich nicht.

Weder Primel, noch Lil sagten etwas. Beide waren in der Schönheit dieses Wesens gefangen. Es funkelt und glitzerte so sehr, dass Primel irgendwann das Gefühl hatte, einen Stern anzusehen.

Keines der beiden Mädchen bemerkte in all dem Glitzer die ebenfalls funkelnden goldenen Tränen, die der Lacrima über die zierlichen Wangen liefen. Erst als sie zu schluchzen begann und ihre Schultern sich schüttelten, wurden die Mädchen aufmerksam.

Zutiefst betroffen stand Primel da. Vorhin war es ganz einfach gewesen, Lil zu trösten, aber wie tröstete man eine weinende Fee? Eine Tränen vergießende Lacrima bedeutete Gefahr. Und eine Lacrima, die normal zu stolz war, um sich mit anderen Wesen abzugeben, jetzt aber im Zimmer eines Menschenmädchens saß, war auch kein gutes Zeichen.

Primel ahnte Übles. Sie musste herausfinden, was los war. „Können wir dir irgendwie helfen?“

Keine Antwort.

Primel dachte schon, Roxane hätte sie nicht gehört, doch dann sah sie, wie diese den Kopf schüttelte. Jetzt war Primel ratlos. Wieso kam dieses Geschöpf zu ihnen, wenn es sowieso nicht davon ausging, dass sie ihm helfen konnten? Roxane musste sehr verzweifelt sein. Sie tat Primel leid.

„Erzähl doch mal“, bot sie an und setzte sich vorsichtig neben die kleine Fee auf den Boden. Die wunderhübsche Regenbogenspatzenfeder steckte sie in ihre Tasche.

„Ihr seid Menschen“, schniefte Roxane. Primel ignorierte den abwertenden Unterton in ihrer Stimme und schwieg. Auch Lil blickte von ihrem Bett aus etwas verwirrt auf die weinende Lacrima.

„Weißt du was, Rossane? Priml kann dir bestimmt helfen. Ganz sicher, weil mir kann sie auch immer helfen“, sagte sie und Primel wurde warm ums Herz.

„Ich heiße Roxane“, murmelte die Fee, doch es klang nicht mehr halb so wütend wie zuvor. Sie wischte sich die goldenen Tränen aus dem Gesicht und blickte Primel an. „So, so, kannst du das?“, wollte sie wissen und es klang wie eine Lehrerin, die ihre Schülerin prüfte. „Kannst du immer helfen?“

Primel fühlte sich unbehaglich. Was sollte sie sagen? Bei nein, würde Roxane sofort wieder verschwinden und das wollte sie nicht, ein ja wäre aber auch gelogen.

Sie entschied sich für die diplomatische Lösung: „Ich kann es versuchen.“

Roxane schwieg. Gewiss hörte sie den Zweifel in Primels Stimme.

Doch dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in Entschlossenheit.

„Ich kann eh nichts mehr verlieren. Mein Stolz war das letzte, was mir blieb und selbst diesen habe ich auf dem Weg hierher irgendwo verloren. Also …“, begann sie und sowohl Primel als auch Lil beugten sich vor.

Primel und die Schattenwesen

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